Kamikaze Hearts (1986)

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In Juliet Bashores Filmklassiker „Kamikaze Hearts“ verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion: Jungregisseurin Tigr versucht im San Francisco der 1980er in der Pornoindustrie Fuß zu fassen. In ihrem neuen Film spielt ihre erfahrene Partnerin Mitch die Hauptrolle. Zwischen toxischen Produzenten und Drogenexzessen versuchen sie sich als Geliebte nicht zu verlieren. Tigr und Mitch waren wirklich ein Paar und arbeiteten zusammen in der Pornoindustrie; im Film wechseln sich gespielte Szenen mit dokumentarischen Beobachtungen ab. So entsteht ein schonungsloses Branchenporträt, aber auch ein erstaunlich sexpositiver Film über ein leidenschaftliches Paar, das treffsicher die umtriebige und ungezähmte Lesbenszene in San Francisco jener Jahre verkörpert. Beim Queerfilmfestival, das am Donnerstag startet, kehrt „Kamikaze Hearts“ knapp 40 Jahre nach seiner Entstehung in restaurierter Fassung auf die große Leinwand zurück. Manuela Kay über einen Film, der sich alle Freiheiten nimmt.

Foto: Salzgeber

Völlig, völlig nackt

von Manuela Kay

Es geht los mit einem wunderbaren Vokuhila und der Liebeserklärung von Tigr Mennett an ihre Partnerin im Film wie im Leben, Sharon Mitchell: „Ich dachte, sie sei nur eine weitere dumme Porno-Schlampe. Ich irrte mich. Ich habe mich nicht verliebt, weil sie hübsch war. Ich verliebte mich, weil sie diese Kraft besaß.“

Die „Porno-Romanze“, wie seine Macherinnen den authentischen und schonungslos daherkommenden Film selbst bezeichneten, atmet bis heute den Geist der 1980er Jahre und ist in keiner Weise mit aktuellen lesbischen Feel-Good-Rom-Coms mit Regenbogenfamilien-Happy-End vergleichbar. Im Gegenteil. Deshalb könnte der Titel „Kamikaze Hearts“ auch passender nicht sein. Natürlich ist er als Referenz an den nur ein Jahr zuvor erschienen Lesben-Coming-out-Romantik-Klassiker „Desert Hearts“ von Donna Deitch gedacht. Und sind in „Desert Hearts“ die Herzen, die sich ziemlich staubtrocken annähern, eben buchstäblich in der Wüste (die Story spielt in Nevada), so betreibt das Paar in „Kamikaze Hearts“ eben genau das: Selbstzerstörung.

Sharon Mitchell und Tigr Mennett spielen sich in dieser Quasidoku der Regisseurin Juliet Bashore selbst. Gezeigt wird unbeschönigt realistisch eine Liebesbeziehung im Pornobusiness. Eine lesbische Beziehung – geprägt von Drogenmissbrauch, emotionalem wie finanziellem Chaos, Schmerz und Selbstzerstörung – wird vor der Kamera filetiert, wie es selten in dieser Offenheit zu sehen war. Zudem zeigt der Film seinen Schauplatz, das San Francisco der 80er, als die damalige Welthauptstadt der Sexualität und des Pornobusiness-Booms. Man atmete die Sexpositivität der Stadt praktisch mit ein.


„Kamikaze Hearts“ ist damit auch ein geschichtlich wichtiges Zeitdokument der LGBTIQ-Szene. Denn über die Tatsache, dass es nirgends und nie wieder so große Überschneidungen zwischen einer großen BDSM-Community und dem Sexarbeit- und Porno-Business mit der Lesbenszene gab, ist so gut wie nichts dokumentiert. Wichtige lesbische Bezugspunkte wie das legendäre Lesben-Sex-Magazin „On Our Backs“ oder das lesbische Pornolabel „Fatale“ entstanden in dieser Zeit und aus der beschriebenen Atmosphäre heraus. Es war eine unvergleichlich sexpositive Zeit, eine Zeit des Aufbruchs für sexuelle Selbstbestimmung in der lesbischen Community und auch die Zeit der sogenannten „Sex Wars“. Hasserfüllt und voller Missgunst kämpften Frauen, die sich selbst als (größtenteils lesbische) Feministinnen bezeichneten, gegen BDSM als Reproduktion patriarchaler Gewalt, gegen Porno als Ausbeutung und Objektifizierung von Frauen und sogar gegen sexuelle Praktiken wie das Verwenden von Sexspielzeug und gegen Penetration. All das galt als böse heterosexuell, patriarchal und ablehnenswert. „Echte Lesben“ sollten und wollten so etwas angeblich nicht tun. Im Gegensatz dazu erfreute sich San Francisco in den 80ern und 90ern einer Welle von Sexpositivität, mit vielen lesbischen Sexpartys und eben großen Überschneidungen zwischen einer sehr lebendigen BDSM-Szene (denken wir an das Straßenfest „Folsom Street Fair“) und einer umtriebigen, ungezähmten Lesbenszene. Diese Freiheit wird – sicher zum Ärger der damaligen sexfeindlichen Feministinnen – von Sharon Mitchell und Tigr Mennett vollkommen verkörpert. Sie bestreiten ihr Leben mit Sexarbeit, haben Sex wie und mit wem sie wollen, nehmen Drogen und sind so selbstbestimmte, freie Frauen, dass es ein feministisches Fest ist. Zumindest für jene, für die Feminismus in erster Linie Selbstbestimmung und weibliche Befreiung bedeutet. Die sexfeindlichen „Feministinnen“ dieser Zeit mag im Angesicht dieses perfekt gebotenen Feindbildes übel geworden sein.

Foto: Salzgeber

Doch in „Kamikaze Hearts“ wird das Konzept von Pornografie auch durchaus kritisch infrage gestellt. Mitten in der Pornoproduktion kommt plötzlich Liebe ins Spiel und scheint nur schwer damit vereinbar zu sein. Zumindest für die beiden Protagonistinnen. An einer Stelle sagt Tigr über Sharon: „Sie fickt vor der Kamera genauso wie im echten Leben. Ich weiß nicht, woran ich bin und ob das echt ist.“

Über die Entstehung des Films heißt es, dass die Juliet Bashore als Filmstudentin an einer Doku über das Pornobusiness arbeitete und dabei die damals als Regie-Assisistentin tätige Tigr Mennett kennenlernte. Tigr, früher ebenfalls Porno-Darstellerin, war zu der Zeit in einer Liebesbeziehung mit Pornostar Sharon Mitchell. Die beiden verliebten sich praktisch vor der Kamera bei einer gemeinsamen Sexszene. Dies wird im Film auch dokumentarisch gezeigt. Fiktiv dagegen ist der lose Plot, in dem Tigr eine Porno-Komödie, basierend auf George Bizets Oper „Carmen“, inszeniert, deren Hauptfigur Sharon sein soll. Die Szenen rund um den Filmdreh, sind zwar gescripted, aber mit echten Menschen aus dem Pornobusiness besetzt, die sich mehr oder weniger selbst spielen. Die Dialoge zwischen Sharon und der Crew und vor allem der ewige Beziehungsstress mit Tigr, wirken hautnah echt und absolut real, auch wenn einiges davon wohl ebenfalls fiktiv ist. Getoppt wird die Authentizität eigentlich nur noch von dem tristen „Höhepunkt“ des Films. Anders als der cum shot bzw. money shot im gängigen Porno, ist es hier der drug shot in die Vene, live vor der Kamera, vor dem sich Tigr und Sharon sich auch noch mit den Spritzen in unvergleichlicher Coolness „zuprosten“. Das ist nichts für schwache Nerven, aber etwas für Fans von echten menschlichen Abgründen und von wahrhaftigen Gefühlen. Am Ende des Films kommt wieder Tigr zu Wort mit ihrem Resümee: „Völlig, völlig nackt.“ Besser kann man „Kamikaze Hearts“ nicht auf den Punkt bringen.

Foto: Salzgeber

Juliet Bashore drehte leider keine weiter erfolgreichen Filme mehr, interessanterweise allerdings noch zwei Dokus in den 90er-Jahren in Berlin: über das besetze Tuntenhaus und dessen Räumung in der Mainzer Straße in Berlin. Danach verläuft sich ihre Spur, genauso wie die von Tigr Mennett, über deren Leben nichts in Erfahrung zu bringen war. Sharon Mitchell hingegen hat ihre von Tigr treffend beschriebene Kraft hervorragend nutzen können. Mitchell, Jahrgang 1956, hat in 20 Jahren in über 200 Pornofilmen mitgewirkt. Unter anderem auch in lesbisch-alternativen Produktionen des „Fatale“-Labels, überwiegend aber in Mainstream-Filmen; bei vielen Produktionen war sie zudem auch als Regisseurin beteiligt. In den 90er-Jahren spezialisierte sie sich auf das Thema „Bondage und BDSM“ und spielte – offenbar mit großem Spaß – des Öfteren die Domina. Durch ihre jahrelange Drogenabhängigkeit infizierte sie sich mit diversen unschönen Krankheiten, was zu ihrer späteren Gründung der Porno-Gesundheits-Organisation „Adult Industry Medical Health Care Foundation“ (AIM) führte. Nachdem sie Mitte der 90er-Jahre Opfer eines brutalen Überfalls und einer Vergewaltigung wurde, änderte sie ihr Leben radikal, beendete ihre Drogenkarriere und studierte Sexualwissenschaft. Als Dr. Sharon Mitchell beriet sie Pornodarsteller:innen zu Gesundheitsthemen und machte sich für Aufklärung, HIV- und STD-Tests sowie eine gute medizinische Versorgung stark. Bis heute gilt die vielfach ausgezeichnete Sharon Mitchell als Branchenlegende und ist in diversen „Halls of Fame“ und Listen wie „Legends of Erotica“ vertreten.

Als „Kamikaze Hearts“ 1986 herauskam, war er sowohl ein Zeitdokument als auch seiner Zeit weit voraus, vor allem was das Selbstverständnis von Lesben und Sexarbeiterinnen betraf. Sowohl die lesbische Community, die teils überfordert war mit so viel Porno und Drama, als auch die Kritik reagierten teilweise abweisend. So schrieb passenderweise der katholische Filmdienst: „Das verstörende Porträt der Pornofilmwelt als einer Industrie, die zwar auf Frauen nicht verzichten kann, aber gleichzeitig Tyrannei an ihren Körpern betreibt.“ Ein fortschrittlicheres Publikum allerdings (darunter auch bei vielen Filmfestivals) hatte schon in den 80er Jahren kapiert, dass es sich hier um einen späteren Klassiker handelt. Ergreifend brutal, ehrlich und ungeschönt, mit zwei Darstellerinnen, die man einfach lieben und manchmal auch (vor sich selbst) beschützen möchte. Total Kamikaze eben!




Kamikaze Hearts
von Juliet Bashore
US 1986, 77 Minuten, FSK 16,
englische OF mit deutschen UT,
Salzgeber

Als DVD und VoD


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