Jean Paul Gaultier: Freak & Chic

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Leben und Werk von Jean Paul Gaultier fließen seit jeher ineinander. Die „Fashion Freak Show“, in der der ikonische Modeschöpfer im Jahr 2018 seine Biografie als prunkvolle Bühnenrevue verarbeitet hat, erschien deswegen fast zwangsläufig. Regisseur Yann L’Hénoret wirft in „Jean Paul Gaultier: Freak & Chic“ einen Blick hinter die Kulissen der aufwendigen Produktion auf der legendären Pariser Varietébühne Folies Bergère. Catherine Deneuve, Rossy de Palma und Madonna sind mit dabei. Unsere Autorin Barbara Schweizerhof war aber vor allem vom Zusammenhalt hinter der Bühne beeindruckt.

Foto: Studiocanal

Ein Leben als Revue

von Barbara Schweizerhof

Den Titel eines Enfant terrible der Mode-Branche eroberte sich Jean Paul Gaultier gleich am Start seiner Karriere. Seine Shows würden statt Kleidung eher Verkleidung ausstellen, lautete die Kritik seinerzeit. In Yann L’Hénorets Dokumentarfilm „Freak & Chic“ erinnert sich der Meister selbst an dieses Urteil mit geradezu liebevoller Nachsicht. Im Grunde gibt er seinen Kritikern von damals sogar Recht: Das „Verkleiden“, das Kostümieren und Posieren, mithin das Spiel mit Identitäten, Projektionen und Zuschreibungen ist tatsächlich das, was ihn seit frühester Kindheit interessiert und später in die Modebranche hineingezogen hat. Und es ist die große Stärke von L’Hénorets Film, dass er diese Lust am transgressiven Spiel nicht nur durch Interviews und Archivmaterial belegt, sondern als Prozess dokumentieren darf: Für ein halbes Jahr beobachtete L’Hénoret, wie Gaultier zusammen mit der Regisseurin Tonie Marshall sein Leben als Revue-Show auf die Bühne brachte.

Die Metaebene – ein Dokumentarfilm über eine Show, die ein Leben nacherzählt – verleiht dem Film eine besondere Energie. Am Anfang ist da die reine Hektik, wenn Ort, Kostüme, Beteiligte und Kreative vorgestellt werden. Immer mitten im Getümmel steht der 68-jährige Designer, meist in dunklen Jeans, T-Shirt und Lederjacke, erzählt und formuliert seine Anliegen, hört sich Ideen an und kommentiert Entwürfe. Er ist kein Tyrann, meint man zu merken, keiner, der alle nur nach seiner Nase tanzen lässt, sondern ein Mann mit jungenhaftem Gemüt, der zu begeistern versucht und sich begeistern lässt. Mehrfach im Film wird man sehen, wie er umschwenkt, andere Ideen aufnimmt und gelten lässt. Und das, obwohl es hier doch ausschließlich um sein Leben und sein Werk geht.

Das erscheint als die zweite große Stärke dieses Films: Dass er zeigt, wie das Egomanische und Narzisstische des Projekts „Gaultier inszeniert seine Autobiografie als Bühnenshow“ zurücksteht hinter der kollektiven Arbeit, die jede Art von Bühnenproduktion, sei es für den Laufsteg oder fürs Theater, in Wahrheit ist. So lernt man in diesem Film auch ein wenig die Schneiderin kennen, die lange Jahre die Skizzen Gaultiers in genähte Kleider übersetzte, die Choreografin, die seine biografischen Anekdoten in Tanz verwandelt, die Regisseurin, die ihn seit Jahrzehnten als Freundin unterstützt, und außerdem erlebt man am Rande Menschen wie Catherine Deneuve, Rossy de Palma, Madonna und viele andere. Zwischendurch funktioniert „Freak & Chic“ fast mehr als Nummernrevue der Freunde und Wegbegleiter denn als biografischer Abriss zu Gaultier selbst.

Aber auch das trägt zum großen Charme des Dokumentarfilms bei: Er wahrt stets eine gewisse Distanz zu seinem zentralen Star. So wird sichtbar, wie sehr sich JPG sein Leben selbst als Reigen von Schlüsselmomenten erzählt.

Foto: Studiocanal

Da gibt es zentral zum Beispiel das Motiv des Bären, der für Gaultiers Mode und seine Shows Maskottchen und Emblem zugleich ist. Dazu erzählt er, dass er als Junge eigentlich mit Puppen habe spielen wollen; weil seine Eltern das aber für unangemessen hielten, schenkten sie ihm einen Teddybären. Diesen Teddy wiederum schminkte der 7-Jährige mit Lippenstift und „operierte“ ihm jene konisch geformten Brüste an, die er später für Madonna als Modeaccessoire entwarf. Die Urszene wird fürs Theater als Einspielfilm gedreht – mit einem kleinen blonden Jungen, der mit naiver Entdeckerlust den Arzt gibt und damit fröhlich das Splatter-Genrehafte des Settings konterkariert. Später im Bühnenstück gibt es einen Tanz der Bären, die von vorne als vollbehaarte, bedrohliche wilde Tiere erscheinen, sich aber beim Umdrehen als Männer mit Bäuchen und traurigen Augen entpuppen.

Foto: Studiocanal

Der Hang zum Transgressiven, zum Verletzen der Konventionen und Geschmäcker ist nicht nur Gaultiers Modeentwürfen, sondern seinem Leben immer schon eingeschrieben. Eine Umdrehung reicht, um die Dinge in einem anderen Licht erscheinen zu lassen. Mit seinen Männern in Röcken, seinen outrierten Kleidungsstücken, die dort verhüllten, wo andere Kleider Einblick gewähren, und dort entblößten, wo andere bedecken, mit seinem Mut zu Models, die älter oder dicker waren als die Norm, oder Tattoos und Piercings hatten, bevor dies zum Mainstream wurde – mit all dem leistete Gaultier seinen Anteil am Kampf gegen heteronormative Schönheits- und Körperbilder.

Im Film sieht man nur ein paar seiner legendären Entwürfe in action; sie machen Lust zu eingehender Betrachtung und wirken heute noch so erfrischend unkonventionell wie vor 40 Jahren. Was auch daran liegen mag, dass Gaultier in seinen Anmerkungen und Anekdoten dazu nie ideologisch wird. Im Vordergrund steht das kreative Spiel und eine grundsätzliche Solidarität mit dem Anderen, dem Ausgegrenzten: denen mit abstehenden Ohren, der weiblichen Empfindsamkeit in männlichen Körpern, der Eleganz im Vulgären, dem Kitsch in der Haute Couture.

Foto: Studiocanal

Die biografischen Schlüsselmomente, von denen der Film erzählt, handeln fast alle von Gaultiers Talent zur Umdeutung. Als er angeregt von einem heimlichen Blick auf eine Show der Folies Bergère in der Schule einmal eine der Tänzerinnen skizziert, wird er von einer Lehrerin erwischt, die ihn zur Strafe mit der Zeichnung durchs Zimmer laufen lässt. Doch statt ihn zu beschämen, gefällt den Klassenkameraden die Skizze so gut, dass sie ihn anspornen, weiter zu zeichnen. Aus dem, was eine exemplarische Züchtigung hätte sein sollen, erwächst für den kleinen Gaultier die Bestätigung seines künstlerischen Talents.

So lehrt der Film den Zuschauer hinter die oberflächliche Buntheit der Gaultierschen Inszenierung zu schauen und immer wieder den Kern eines sehr authentischen Gefühls zu entdecken. Der potenzierte Kitsch, in den er seine Liebe zum jahrelangen Lebenspartner Francis fasst, bildet nur die äußere Schale zum tragischen Kern, dass Francis schon 1990 an den Folgen von Aids starb.

Foto: Studiocanal

An einer Stelle im Film sieht und hört man, wie Gaultier seine Directrice Mireille Simon ausführlich für ein bestimmtes Kostüm lobt. „Es war doch Ihr Entwurf!“, hält sie ihm schüchtern entgegen. „Ja, aber wie Sie ihn lebendig haben werden lassen… ist einfach wunderbar.“ Es ist diese Großzügigkeit, diese Einladung an alle, teilzuhaben an den Fantasien, sich nicht beschränken zu lassen, die von diesem Film noch lange im Gedächtnis bleiben.




Jean Paul Gaultier: Freak & Chic
von Yann L’Hénoret
FR 2018, 92 Minuten, FSK 6,
französische OF mit deutschen UT,

Studiocanal

Ab 5. November als DVD.

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