In the Grayscale / Unter der Haut

Heterosexuell lebende Männer verlieben sich in andere Männer. Filme darüber versprechen Dramen, Ausbrüche, Selbstfindung, Bewegung. Geschichten werden woanders enden als sie begonnen haben. Zwei aktuelle Filme setzen ein A und ein B und machen sich auf den Weg.

„Unter der Haut“ – Foto: Pro Fun

Hetero. Sexuelle Männer sehen.

von André Wendler

Einen ansehen. Sich fragen, wer er eigentlich ist. Im Kino machen wir das die ganze Zeit. Irgendwann geben uns Filme erste Einstellungen von ihren Helden und oft ist damit unsere Einstellungen ihnen gegenüber gesetzt. Zum Beispiel so: Ein Auto wird gepackt, Kinder schleppen Spielzeug hinein, eine Frau fragt einen Mann etwas Beiläufiges, er streichelt im Vorbeigehen einem der Kinder über den Kopf. Dann wissen wir: Familie, unspektakuläre Zufriedenheit, Mittelstand, Jahresurlaub.

Anders in diesen Filmen. Die ersten Einstellungen auf die Hauptfiguren von „In the Grayscale“ sind optische Verwirrspiele. Ein Mann, ein Bett, ein kleiner Raum voller Gerümpel. Schmutzige Glasscheiben, halb erblindete Spiegel, schiefe Rahmen, spiegelnde Fenster. Kein Blick zeigt etwas deutlich, sondern die Einstellungen zeigen, dass sie etwas nicht gut zeigen können. Und dann schaut der Held knapp an der Kamera vorbei, tut, was im Film verboten ist, schaut uns fast an, während wir ihn anschauen. Halb nackt ist er dabei, der schöne, schlanke, ins Bett gehende, aufstehende, schlafende, erwachende Bruno.

„Unter der Haut“ etabliert vollends ein neues Blickregime. Einzug in eine neue Wohnung. Durch halb offen stehende Türen und Fenster Blicke auf die Landschaft, die ankommende neue Familie. Es ist noch gar nichts gesetzt: Die Orte für den Spiegel, den stummen Diener, das Ehebett muss erst noch gefunden und damit die möglichen Blickachsen überhaupt erst etabliert werden. Dazu die Freude der Familie, die sich für das neue Haus entschieden hat und jetzt sehenden Auges in das neue Leben eintritt, das hier auf sie wartet. Der Held muss seinen Raum verteidigen, denn er ist knapp: Ihm bleibt nur der Viertelmeter unter dem Bett, in dem er seine Gitarre verstaut und den er gegen Eindringlinge schützen muss.

Wie auch immer die erste Begegnung mit Filmhelden genau aussieht, wir wissen als Beobachter_innen dieser Konstellationen, dass sie nicht von Dauer sein können. Wir gehen ins Kino, weil wir eine Handlung sehen wollen und das heißt: Veränderung. Etwas ereignet sich, jemand erscheint oder verschwindet, es wird anders. Wir wollen am Ende eines Films nicht das gleiche sehen wie am Anfang. Die Blicke auf unsere Liebhaber_innen, unsere Familie und unsere Freunde außerhalb des Kinos sind vielleicht andere: Mit Fürsorge blicken wir auf unsere Kinder und hoffen, dass sie gesund bleiben; mit Beunruhigung sehen wir unseren Eltern beim Altern zu; unsere Lover verabschieden wir mit der Zuversicht, dass sie zurückkommen werden.

Beziehungen, Familien, Wohn- und Hausgemeinschaften sind die äußeren Zeichen dieser auf Stabilitäten zielenden inneren Ordnungen. Die beiden Filme gehen mit diesen Räumen ganz unterschiedlich um. „In the Grayscale“ geht hinaus aus den Zimmern häuslicher Ordnung und versucht sich am Großen, der Stadt als Ganzer. Der Architekt Bruno soll für seine Stadt eine prägende Sehenswürdigkeit bauen, eine Struktur, die für das Ganze steht, um die herum sich alles ordnen kann. Er unternimmt dazu Exkursionen mit einem Stadtführer, der ihn ganz aus seiner inneren Ordnung herausführt. Das Chaos und die Vielfalt der großen, halb unbekannten Stadt wird sein eigenes Chaos. Lange hat er keine Ahnung, was für ein Gebäude er errichten soll, bis er sich dazu erschließt, eine historische Brücke wieder zu errichten, vielleicht um das andere Ufer besser erreichen zu können. „Unter der Haut“ hingegen ist ein häusliches Drama. Es spielt fast ausschließlich im Urort heterosexueller Familien: dem Elternschlafzimmer. Hierhin kehren die Eheleute nachts zurück, hierhin kriecht die jüngste Tochter, wenn sie nachts nicht schlafen kann, dieser Raum wird umgestaltet, wenn die Familienordnung nicht mehr zu halten ist.

Beide Filme machen lange Expeditionen durch diese Ordnungen und Ortungen. Und genau das unterscheidet sie von einem Coming-Out-Film mit Sechzehnjährigen. Wenn erwachsene Männer, Familienväter zumal, plötzlich schwul werden, dann schlagen sie eben nicht nur einen alternativen Pfad ein, sondern sie müssen eine umfassende Ordnung, in der Begehren, Lebensumstände, ökonomische Verhältnisse und soziale Räume aufeinander bezogen waren, aktiv verlassen, umgestalten, vielleicht sogar ein Stück weit zerstören. Und weil beide Filme damit jeweils ganz andere Ausgangslagen annehmen, sind auch die Ergebnisse vollkommen unterschiedlich. Franks Frau, um die es in „Unter der Haut“ mindestens so ausführlich geht, wie um ihn, denkt eine Zeit lang, sie könnte Franks Anziehung zu Männern integrieren. Sie schlägt ihm sogar einen Dreier mit einem anderen Mann vor. Und sie fragt sich natürlich irgendwann das Unausweichliche: War das schon so, als wir geheiratet haben? Auch auf diese Frage wird sie keine Antwort bekommen. Frank ist von ihrer Fragerei genervt: Jetzt ist eben alles anders. Da werden etliche Verbindungslinien gekappt und die neue Situation ist so radikal anders, dass selbst ein Schwimmbassin im Schlafzimmer plötzlich denkbar ist.

„In the Grayscale“ – Foto: Pro Fun

Bei Bruno scheint der Weg aus der Ehe einer Grabung nach etwas zu gleichen, das lange, vielleicht sogar immer schon, da gewesen ist. So wie die Lösung für sein Architekturproblem in den unterirdischen Überbleibseln eines verschwundenen Bauwerkes liegt, sucht er nach einer Konstellation für sich selbst, die alles im richtigen Licht erscheinen lassen könnte.

Beide Filmen zeigen sehr deutlich, dass es zu wenig ist, zu sagen: Einer ist schwul, eine ist heterosexuell, einer ist verheiratet. Vermutlich sind die beiden Männer am Ende schwul, aber ihr Schwulsein hat mit meinem kaum etwas zu tun. Für mich war eine heterosexuelle Beziehung niemals eine Option, ich war schwul, so lang ich denken kann. Die Vorstellung einer eigenen heterosexuellen Familie ist für mich etwas, das ich ohne innere Beteiligung nur von außen sehe. Für Frank und Bruno wird es immer dazu gehören, dass ihre Kinder in ihnen auch die mutwilligen Zerstörer der Familie sehen, dass ihre Frauen sich fragen, ob ihre Ehe jahrelang nur Betrug war. Der Schwule mit Kind und Familie ist eben ein anderer Schwuler als der fröhliche Gay Party Bachelor. Was so einfach klingt, wird in diesen Filmen in seiner ganzen emotionalen und lebenspraktischen Komplexität gezeigt. Schulterzuckend könnte ich mich von diesen Filmen abwenden; sie betreffen mich nicht. Gerade in ihrer Konfrontation mit einem schwulen Leben, das für mich außer Reichweite liegt, sind sie aber lehrreich, und man muss wohl sogar politische Konsequenzen aus ihnen ziehen. In einer Zeit, in der politische Forderungen für schwules Leben kaum einmal über den altbekannten Ruf nach der ehelichen Gleichstellung hinausreichen, kann man hier nämlich sehen, dass die Bedürfnisse und Umstände individueller, komplizierter und unvorhersehbarer sind. Vielleicht brauchen wir weniger die Debatte über diese oder jene Struktur oder Lebensform, als eine offene und unterstützende Plattform, auf der sämtliche Menschen ihre ureigenen Konzepte ausprobieren und herausfinden können, wie sie leben wollen. Dann wäre das Entweder-Oder, vor das Bruno von seinem Lover gestellt wird, vielleicht auch so überflüssig, wie Franks Totalverweigerung seiner Familie gegenüber. Dann gäbe es die Möglichkeit Hybride zu produzieren, in denen man ein bisschen schwul, ein bisschen Vater, ein bisschen Ehemann, ein bisschen whatever ist, anstatt sich einen dieser Schuhe exklusiv anzuziehen. So wie Frank und Bruno manchmal einfach nur in die Gegend stieren, Antworten verweigern, mit den Schultern zucken oder verschwinden, müsste man dann aber auch mit unbeantworteten Fragen, insistierenden Problemen und unlösbaren Verwicklungen leben können, statt immer alles in saubere Identitätsschubladen und verständliche Strukturen zu übersetzen. Vielleicht klingt das wie utopische Träumerei und idealistischer Mumpitz, aber was soll es: Ich gehe ins Kino, um mich genau solchen Träumereien hinzugeben und zu sehen, was dabei herauskommt, wenn Veränderung kei­ne Option, sondern eine kinematografische Pflichtübung ist.

 



In the Grayscale
von Claudio Marcone
CL 2015, 97 Minuten, FSK 12,
spanische OF mit deutschen UT,
Pro-Fun Media



Unter der Haut
von Claudia Lorenz
CH 2015, 93 Minuten, FSK 12,
schweizerdeutsche OF mit deutschen UT,
Pro-Fun Media


 

↑ nach oben