Esteros
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Papu Curottos Langfilmdebüt „Esteros“ ist eigentlich ein schwules Coming-out-Drama, wirkt aber zunächst wie ein Zombiefilm. Dabei erzählen der Regisseur und seine Drehbuchautorin Andi Nachon nur am Rande von schlurfenden Untoten. Ihrem Film mangelt es streckenweise schlicht an Lebendigkeit. Doch wer sich von dem anfänglichen Kleben an filmischen Konventionen nicht verschrecken lässt, wird mit unverhofften Wendungen belohnt – und mit schwelgerisch leichten Landschaftsimpressionen, die von einer Liebe erzählen, die dabei ist, sich zu befreien.
Untot im Liebessumpf
von Carsten Moll
Matías und Jerónimo, die Helden von „Esteros“, stehen an der Schwelle zur Pubertät und sind ein unzertrennliches Gespann. Neben einem Faible für Blauschimmelkäse teilen die Jungen auch eine Vorliebe für Horrorfilme. George A. Romeros Zombieklassiker „Die Nacht der lebenden Toten“ (1968) ist einer ihrer Favoriten. Doch die Freundschaft, die mit erwachender Sexualität zunehmend auch erotische Züge annimmt, geht zu Ende, als Matías‘ Familie von Argentinien nach Brasilien zieht. Erst zehn Jahre später kreuzen sich die Wege der beiden wieder: Matías reist zusammen mit seiner Freundin Rochi in die alte Heimat, um dort Karneval zu feiern. Für das perfekte Kostüm – es muss natürlich ein Zombie sein – soll ein Maskenbildner sorgen, den Rochi angeheuert hat. Als dann ausgerechnet Jerónimo auftaucht, um ihn zu schminken, macht Matías Augen, als sei ihm tatsächlich ein unheimlicher Wiedergänger aus dem Jenseits erschienen.
Der Zombie, zu dem der offen schwule Jerónimo seinen Freund aus Kindheitstagen dank Make-up macht, ist in „Esteros“ eine treffende Metapher für Matías‘ Apathie in Dingen der Selbstfindung. Denn der junge Mann kann sich einfach nicht zu einem Coming-out durchringen und klammert sich stattdessen an eine heterosexuelle Beziehung, über deren bevorstehendes Scheitern sich längst auch Rochi klar geworden ist. In märchenhafter Konsequenz erzählt „Esteros“ nun eine Erlösungsgeschichte: Matías, dieser gleichermaßen erbarmungswürdige wie erschreckende Typ, muss zu seinem wahrem Ich finden. Wie bei Dornröschen und all den anderen zwischen Leben und Tod schwebenden Zombiebräuten geschieht das natürlich durch der wahren Liebe Kuss, der im Coming-out-Kino gerne mit Analsex kombiniert wird.
Man kann die von Curotto und Nachon erdachte Handlung abgedroschen und vorhersehbar finden. Unbeirrt trottet das Drama voran und lässt sich dabei jederzeit in den offenen Schädel gucken; der zentrale Konflikt bahnt sich nicht organisch an, sondern wird durch Zufalls-lastige Drehbuchwendungen forciert. Doch man kann das auch ganz anders bewerten: Gemeinsam mit hübschen Landschaftsaufnahmen und einem folkloristischen Soundtrack zielt das konventionelle Erzählen bewusst auf ein breites Publikum ab. Statt die Vorhersehbarkeit von „Esteros“ zu bemängeln, ließe sich also gleichermaßen die Geradlinigkeit der Erzählung loben. Sowohl Zuschauer, denen Matías‘ Hadern aus eigener Erfahrung bekannt vorkommt, als auch solche, die bislang kaum Berührungspunkte mit queeren Identitätssuchen hatten, finden hier leicht Zugang – nicht zuletzt auch dank der überzeugenden Darsteller.
„Esteros“ entwickelt sich im weitere Verlauf aber zu mehr als nur einem gefälligen Coming-out-Film. Denn wie jeder anständige Zombie ist auch Curottos Erstling erst intakt, wenn er droht in seine Einzelteile zu zerfallen. Die Flashbacks in die Kindheit der Protagonisten stellen dabei ebenso einen Bruch dar wie ein Ausflug der erwachsenen Helden in die Esteros del Iberá, das titelgebende Sumpfgebiet im Nordosten Argentiniens. Im krassen Kontrast zur zielstrebig konstruierten Exposition löst sich das Drama so nach und nach in poetische Impressionen auf. Vor der großartigen Naturkulisse dürfen Matías und Jerónimo um sich selbst kreisen. Der Ballast der flachen Story gerät in den Hintergrund und gibt Raum für fein beobachtete Details wie ein vor sich hin mümmelndes Wasserschwein, dem jede konkrete Handlungsentwicklung herzlich egal ist.
Der Sprung vom narrativen Autopiloten der ersten Filmhälfte zu dieser schwelgerischen Leichtigkeit führt Curotto gar auf die Fährte seiner großen, selbsternannten Vorbilder. Für die ruhig beobachtete romantische Annäherung der beiden Protagonisten stand Andrew Haighs hochgelobtes Liebesdrama „Weekend“ (2011) Pate; für die Szenen der unbeschwerten Kindertage Céline Sciammas atemberaubendes Coming-of-Age-Drama „Tomboy“ (2011). An die Klasse dieser Filme reicht Curotto Erstling nicht heran. Doch „Esteros“, die Ausarbeitung seines wunderbaren Kurzfilms „Matías y Jerónimo“ (2015), gewinnt gegen Ende dermaßen an Lebendigkeit, dass von Scheintod keine Rede mehr sein kann.
Esteros
von Papu Curotto
ARG/BR/FR 2016, 83 Minuten, FSK 12,
spanische OF mit deutschen UT,
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