You and I
Trailer • DVD / VoD
Der Jungstraum vom freien Umherziehen durch unbewohntes Gelände wird für zwei Freunde und ihr geliehenes Wohnmobil zur Realität. Ungeklärtes zwischen ihnen kommt einfach nicht zur Sprache. Bis ein Dritter dazu stößt und Bewegung ins unreflektierte Spiel bringt. In Nils Bökamps erstem Spielfilm geht’s durch den wilden Osten, und drei sind dabei einer zu viel.
Einsam ist es in der Uckermark
von Jochen Werner
Jonas ist ein Frauenheld und ein Stehpinkler, das ist das Erste, was wir, noch während der Vorspann von Nils Bökamps erstem Kinofilm „You and I“ läuft, über ihn erfahren. Der Anrufbeantworter quillt über vor Nachrichten einer verflossenen Eroberung, die sich nach einer vielleicht leidenschaftlichen, jedenfalls aber kurzen Bekanntschaft mit Jonas „bekloppt, bescheuert und blauäugig“ fühlt – auch im weiteren Verlauf des Abends klingelt das Telefon in regelmäßigen Abständen. Jonas ist nämlich auch einer, der in solchen Fällen auf keinen Fall ans Telefon geht.
Phillip ist Jonas’ bester Freund – der Berliner Hetero-Aufreißer und der etwas verträumte, oft kindlich-verspielte schwule Engländer haben sich zu einer gemeinsamen Reise verabredet, die für Jonas auch eine Fotoreise sein wird. Mit der verzweifelten Dame vom Vorabend sei es nämlich zwar vorbei, aber immerhin habe sie ihm einen guten Kontakt zu einer kleinen Galerie verschafft, die seine Bilder ausstellen wolle. Vom Tegeler Flughafen aus geht es nun mit einem kleinen Wohnmobil ostwärts, zielstrebig gen Niemandsland. „Einsam ist es in der Uckermark“, liest Phillip in brüchigem Deutsch vor: „Der Landkreis hat mit 150.000 Einwohnern halb so viele Bürger wie der Berliner Stadtteil Neukölln. Gemessen an der UNO-Statistik hat das Gebiet damit den Status ,unbewohnt‘.“ Jonas bestätigt: „Hier wohnt auch keiner.“ Wenn man so will, führt die Reise die beiden scheinbar ungleichen Freunde an einen Nirgendort: „Wenn man auf Wege trifft, fragt man sich, ob sie jemals befahren werden.“ Und wohin sie führen mögen. Nach innen, durch verborgene, aber insgeheim vertraute Seelenlandschaften? In autonome Zonen, die ihnen eine vollkommene Befreiung von all dem verheißen, was beiden von ihren bisherigen Leben auf den Leib geschrieben wurde? In Märchenländereien, die von Aufbruch und Neuerfindung träumen lassen?
Diese seltsam frei fließenden Momente, die vor allem die erste Hälfte von „You and I“ prägen, erinnern an ganz andere Filme. Ein wenig an die frühen Arbeiten von Alain Guiraudie, an „Du soleil pour les gueux“ oder „Voici venu les temps“, in denen idiosynkratisch-phantasievoll herbeifabulierte Mythologien wie von selbst aus dem Erdreich der ganz konkret ins Bild gerückten und doch immer im selben Maße entrückten Traumlandschaften Südfrankreichs heraufzusteigen scheinen. Oder auch, um einen Vergleich aus dem jüngeren deutschen queeren Kino zu bemühen, an die seltsame Verschobenheit von „Sleepless Knights“, diesem eigenartigen, kaum greifbaren Hybridfilm von Stefan Butzmühlen und Cristina Diz. Auch wenn die Auflösung dieses flanierenden, den Blick schweifen lassenden Gestus in der Erdung durch den Plot und die Charakterstudie hier stets näher liegt, hinter jeder Ecke gewissermaßen zu lauern scheint. Das ist ein Ballast, den Nils Bökamps Spielfilmdebüt mit sich trägt, und dieser Ballast holt ihn in der Tat zu häufig auf den Boden nicht immer ganz so interessanter Tatsachen und Vorgänge zurück. Aber es gelingt diesem Ballast niemals so ganz, seine Flügel zu stutzen.
Der Plot tritt vorläufig in den Vordergrund, als Jonas und Phillip unterwegs den polnischen Tramper Boris mitnehmen und ihn als eine Art Fremdenführer durch unvertrautes Land engagieren. Nach dem rituell zelebrierten Urinieren auf Relikte des Naziregimes wird die fortwährende Bewegung des Films, der bis dahin wohl zuallererst ein Road Movie war, für ein paar Minuten stillgestellt: Boris bringt die beiden Reisenden in ein verlassenes Ferienhaus, wo der Film in einer paradoxen Dynamik aus Be- und Entschleunigung narrativ erst quasi ins Rollen kommt. Die Konstellation, die die Erzählung von „You and I“ im weiteren Verlauf vorantreiben wird, zeichnet sich in dieser kurzen Sequenz bereits klar und vollständig ab: Phillip beginnt, zunächst vorsichtig und dann in geradezu ungestümer, fast handgreiflich Weise, Boris anzubaggern, worauf dieser zunächst mit körperlicher Aggression reagiert. Und gleichwohl: Die Sequenz endet mit zwei nackten Männern und einem dritten, der sie fotografiert. Eine Art Balztanz, ambivalent zwar, aber von umso stärkerer, noch notdürftig unterdrückter erotischer Spannung zeugend.
Überhaupt: der Fotofetisch dieses Films! Bereits in trauter Zweisamkeit, noch bevor Boris ganz beiläufig zwischen zwei Einstellungen zusteigt und die eingespielten freundschaftlichen Rituale zwischen Jonas und Phillip in Frage stellt, scheint es dem heterosexuellen Part des Männergespanns stets wichtiger, den nackten Körper des schwulen Freundes zu fotografieren als die Landschaft, deren magisch-transformativer Charakter sich somit nicht im Plot selbst offenbart, sondern konsequent auf jene Fugensequenzen zwischen den Plot Points begrenzt bleibt, in denen nichts Storyrelevantes geschieht. Auf die Momente also, die böswilligere Rezensenten als Füllszenen kritisieren mögen – aber im Grunde möchte man sich keine stringenter montierte Fassung von „You and I“ vorstellen. Das Fehlen dieser Augenblicke, die ganz ohne den Druck, als irgendetwas funktionieren zu müssen, für sich stehen dürfen, würde den Film ärmer machen.
Den Ort seines Showdowns erreicht Nils Bökamps Film dann im letzten Drittel: Offen blitzt die Aggression kurz auf in einem jungshaften Wettrennen um die besten Zimmer mit Gartenblick in dem luxuriösen Herrenhaus seines Professors, in das Jonas seinen Freund und den inzwischen eher ungebetenen Begleiter mitnimmt. Anders stellt sich die Situation für Phillip dar, dessen Annäherungsversuche gegenüber Boris auf immer weniger Widerwillen stoßen, bis ein angetrunkener Abend im Weinkeller sich schließlich in einer gemeinsamen Nacht fortsetzt. Und doch, so spielerisch auch Phillips Verknalltheit in den jungenhaften Boris anmutet – nicht nur für Jonas, sondern auch für Boris sind im erst subtilen, dann immer offeneren Kampf um Phillips Zuneigung auch Dominanz und Macht mit im immer perfideren Spiel. Mit kaum verhohlenem Triumph in Stimme und Blick verkündet Boris dem eifersüchtigen Jonas am nächsten Morgen beim Frühstück, in der vergangenen Nacht mit Phillip gefickt zu haben. Danach ändert sich alles, muss sich alles ändern.
Für einen Augenblick kostet der Film die Spannung des noch nicht Geschehenen noch aus, dann kommt der Moment, auf den im Grunde seit der ersten Begegnung der beiden Freunde am Filmbeginn alles zulief: Phillip steht nackt unter der Dusche. Der angezogene Jonas tritt zu ihm und küsst ihn leidenschaftlich. Dann ein Schnitt. Eine Szene am Esstisch, Phillip teilt Boris mit, es sei besser, wenn er ginge. Dieser bricht in Tränen aus, verlässt Raum und Film. Dann ein Zeitsprung, eine weiße Wand.
Dass Jonas eine Fotoausstellung in einer kleinen Galerie vorbereitet, wissen wir bereits seit dem Beginn des Films. Der Eröffnungstag ist nun gekommen. Phillip und Jonas hängen die Fotos auf, es sind die, die während ihrer gemeinsamen Reise entstanden sind. Eine eigene Wand in der Ausstellung gehört Boris, dessen Name in roter Farbe auf die Ziegel gesprüht wird. Er ist nicht anwesend, er wurde im Verlauf von „You and I“ vom Funktionsträger zum Menschen zum Kunstobjekt. Jetzt ist er eine Geschichte, die sich das neu gestiftete Paar erzählen kann. Was aus ihm und seinem gebrochenen Herzen wurde, weiß der Film nicht, es tut jetzt nichts mehr zur Sache. Beinahe so beiläufig, wie er zwischen zwei Einstellungen in den Film eintrat, verschwindet er auch wieder aus ihm. Er ist einer von denen, die zurückbleiben, wenn Liebesgeschichten erzählt werden. Am Ende bleiben von ihm ein paar Fotos an einer Wand, in einer kleinen Berliner Galerie, in einer Geschichte, die nicht seine ist. Ohne es zu wollen oder zu wissen ist Boris zur Kunstfigur geworden, zum Protagonisten in den Geschichten, die von anderen handeln.
You and I
von Nils Bökamp
DE 2014, 82 Minuten, FSK 0,
deutsch/polnisch/englische OF,
Edition Salzgeber
Hier auf DVD.