Einfach das Ende der Welt

Trailer • Kino

Xavier Dolan, das viel gepriesene queere Kino-Wunderkind, hat einen neuen Film gemacht – und dafür dieses Jahr in Cannes zwar erneut den Großen Preis der Jury bekommen, aber auch so viel ungewohnten Gegenwind von der Festivalpresse, dass er nun gar in Erwägung zieht, seinen nächsten Film nicht mehr an die Croisette zu bringen. Götterdämmerung im Auteur-Olymp? Keineswegs! „Einfach das Ende der Welt“, die Verfilmung des gleichnamigen, semio-autobiografischen Theaterstücks des 1995 im Alter von 38 Jahren an AIDS verstorbenen französischen Autors Jean-Luc Lagarce, ist abermals brillant: ein zugleich überaus aggressives und ungemein zärtliches Kammerspiel in der biologischen Kernfamilie, das sich zur schmerzvollen Reflektion über queere Heimatlosigkeit verdichtet und mit dem Dolan einige Erwartungen an sein höchst selbstreferentielles Werk nur unterwandert um noch furiosere zu befeuern.

Foto: Weltkino

Kein Hafen. Nirgends

von Sascha Westphal

Es ist ein unaufhörliches Hin und Her der Vorwürfe und Kränkungen, der Angriffe und Verletzungen. Für einen Tag, nein, nur für ein paar Stunden kehrt der Schriftsteller Louis ins Haus seiner Mutter Martine, also in den Schoss der Familie zurück. Aber die fühlen sich fast wie ein ganzes Leben an. Zwölf Jahre lang hat er Martine ebenso gemieden wie seine beiden Geschwister, seinen älteren Bruder Antoine und seine deutlich jüngere Schwester Suzanne. Ein paar Postkarten mit „elliptischen Worten“ mussten als Lebenszeichen reichen. Er, für den die Sprache ansonsten alles ist, flüchtet sich im Kreis seiner Familie ins Schweigen. Worte verlieren jeden Reiz, wenn sie zu Waffen werden. Und in Louis’ Familie nähert sich fast jedes Gespräch irgendwann einem Scharmützel an. Jeder verteidigt seine Position mit allen Mitteln und versucht, den anderen in die Defensive zu drängen.

So war Louis’ Flucht aus der erdrückenden Enge dieser Arbeiterfamilie auch eine Flucht vor dem Verstummen und damit für ihn tatsächlich eine Frage von Leben und Tod. Doch nun ist er zurück in diesem dunklen, von Erdtönen dominierten Haus, das für die Zurückgebliebenen längst zu einer Art Höhle geworden ist. Hier haben sich Martine und Suzanne, die Matriarchin und das Nesthäkchen, eine Welt erschaffen, die einzig und allein um Louis zu kreisen scheint. Er ist abwesend und unerreichbar, also klammern sich Mutter und Tochter in einer von Liebe und Hass erfüllten Beziehung umso enger aneinander. Ihre Wut wie auch all ihre Hoffnungen knüpfen sich an den verlorenen Sohn. Antoine, der andere Sohn, der ein paar Straßen entfernt mit seiner Frau Catherine und seinen beiden kleinen Kindern lebt, ist zwar der Ältere, aber er steht immer noch in Louis’ Schatten und wird wohl auch nie aus ihm heraustreten.

All das ist schon zu erahnen, noch bevor der Schriftsteller erstmals wieder das irgendwo in der Provinz gelegene Haus betritt. Die Stimmung unter den Wartenden ist derart aufgeladen, dass Louis’ Ankunft mit dem Taxi wie der Funke ist, der alles entfachen wird. Die Gefühle haben sich angestaut und erreichen im Lauf des Wiedersehens eine kaum mehr zu ertragende Intensität. Nur zwei Auswege bleiben: die Entladung in einer familiären Explosion oder aber eine Implosion, ein stiller Zusammenbruch, der alles Wesentliche unausgesprochen lässt. Der große Knall scheint wahrscheinlicher. Schließlich schwingt schon in den ersten Momenten des Wiedersehens eine enorme Aggressivität mit. Außerdem sind da noch die Erinnerungen an all die Ausbrüche in Xavier Dolans früheren Filmen.

Zurückhaltung war bisher nicht unbedingt ein Markenzeichen des im März 1989 in Montreal geborenen Filmemachers, dessen Debüt „I Killed My Mother“ 2009 in Cannes gleichsam als Offenbarung gefeiert wurde. Selbst ein derart kontrollierter Film wie „Sag nicht, wer du bist!“ (2013) zeugt letzten Endes von einer bemerkenswerten Maßlosigkeit. So verschwenderisch seine vorherigen Arbeiten waren, so diszipliniert präsentiert sich Dolans Kinoadaption von Michel Marc Bouchards Theaterstück „Tom à la ferme“ (2010). Auch asketische Strenge kann ein Ausdruck von Zügellosigkeit sein: die Freiheit, die in der radikalsten Beschränkung liegt. Aber die Explosion war unvermeidlich und kam auch umgehend mit „Mommy“ (2014), seinem nächsten Film. Ein Traum von einem anderen Leben sprengt für einige berauschende Momente die Enge der Bilder auch visuell, um dann doch wieder in einem Exzess der Gewalt zu enden.

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Diese Möglichkeit der wilden, sich selbst genügenden Zerstörung steht auch in „Einfach das Ende der Welt“ immer im Raum. Nur folgt Xavier Dolan diesmal den Zeilen T.S. Eliots: „This ist he way the world ends. Not with a bang but with a whimper.“ Der Knall bleibt aus, aber das Wimmern wird ohrenbetäubend. Vielleicht war es das, was einige Kritiker im Mai in Cannes so aus der Fassung gebracht hat. „Einfach das Ende der Welt“, die Verfilmung von Jean-Luc Lagarces gleichnamigem, semi-autobiographischem Theaterstück (1990) hat zwar den Großen Preis erhalten. Doch diese Auszeichnung kam für Dolan zu spät. Die ersten Reaktionen direkt nach der Premiere waren zu heftig. Vor allem die englischen und amerikanischen Journalisten haben den Film fast einhellig verrissen. Dabei schlug ihm und seinem Macher mit einmal ein so heftiger Hass entgegen, dass Dolan noch Monate später hart mit seinen Kritikern ins Gericht gegangen ist. Plötzlich war es sogar denkbar, dass er, dessen Mythos so fest mit dem Filmfestival von Cannes verknüpft ist, eben dieses Festival in Zukunft meiden könnte. Auch das ein fast schon apokalyptisches Szenario: Einfach das Ende des Autorenkinos.

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Schon 2009, als Dolan die Herzen der Cannes-Besucher entflammte, ging es um weit mehr als nur um seinen wild stürmenden und drängenden Erstling. Mit der Festivalpremiere von „I Killed My Mother“ wurde der Name Xavier Dolan zu einem Synonym für maßlose Hoffnungen und Erwartungen. Damit begann eine im Kino der vergangenen zwei, drei Jahrzehnte in dieser Form wohl einzigartige amour imaginaire. Und mit eben dieser eingebildeten Liebe hat Dolan seither unaufhörlich gespielt, mal ganz offen, mal eher indirekt. Die vier Filme, die seinem zur Sensation gewordenen Debüt folgten, kommentierten immer auch das Bild, das sich andere von ihm und seinem Werk machen. Die Grenze zwischen den Filmen und ihrem Schöpfer war also nie klar gezogen. Genau das macht einen beträchtlichen Teil des Reizes aus, den das Gesamtkunstwerk „Xavier Dolan“ auf den Betrachter ausübt.

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Dieses postmoderne Spiel mit dem Betrachter birgt allerdings auch ein erhebliches Risiko. Je weiter der Filmemacher in den Vorstellungen seines Publikums mit seinen Arbeiten verschmilzt, desto schneller verselbstständigen sich dessen Erwartungen. Dabei kann der Künstler nur auf der Strecke bleiben. Irgendwann musste Dolan, der Bewunderern und Skeptikern lange immer einen Schritt voraus war, überholt werden. Genau das ist in Cannes nach der Vorführung von „Einfach das Ende der Welt“ geschehen. Gerade der Film, den Dolan selbst für seinen „reifsten“ hält, wurde mehrheitlich abgelehnt. Ein bizarres Missverständnis, das Dolan allerdings auch herausgefordert hat. Schließlich bedient er die Erwartungen an einen Dolan-Film zunächst so konsequent, dass sie sich geradezu gegen ihn und den Film wenden müssen.

Von Anfang an legt Dolan Spuren aus, die zu seinen früheren Filmen führen. Kaum hat der von Gaspard Ulliel verkörperte Louis per Voice-over verkündet, dass er zu seiner Familie zurückkehrt, um ihr mitzuteilen, dass er bald sterben wird, da zitiert „Einfach das Ende der Welt“ die Anfangssequenz von Dolans drittem Film „Laurence Anyways“ (2012). Wie damals Laurence folgt die Kamera nun Louis, der durch eine Flughafenhalle geht, und schaut ihm dabei über die Schulter. Und wieder erklingt ein Pop-Song, durch den Dolan ganz direkt zu uns allen spricht. Camille singt den Song „Home Is Where It Hurts“, darin erscheint die Zeile „Home is not a harbour“. Zuhause ist kein Hafen. Wer Schutz im Schoss der Familie sucht, wird doch nur Schmerz finden. Das war eigentlich immer schon Dolans großes Thema. Die Familie als eine Gemeinschaft, die ihre Versprechen nicht halten kann. Die Liebe ist nie stark genug.

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Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. „Home is where it hurts“, dieser Satz lässt sich wie Dorothys legendäre Home-Coming-Line „There’s no place like home“ aus Victor Flemings doppeldeutiger Adaption von „Der Zauberer von Oz“ (1939) auch ganz anders lesen: Zuhause ist dort, wo es schmerzt, denn ohne Schmerz gibt es weder Liebe noch Leben. Wer das leugnet wie der schwule Schriftsteller Louis, der sich nie akzeptiert fühlte und in Wahrheit selbst die anderen nie akzeptiert hat, flieht letzten Endes vor dem Leben. Und so liegt unter all den Vorwürfen und Aggressionen, denen Dolan durch dauernde Nahaufnahmen und harte Schnitte Nachdruck verleiht, auch ihr Gegenteil. Wieder und wieder blendet er die hitzigen Streitereien akustisch aus. Dann übertönen Gabriel Yareds sehnsuchtsvolle Kompositionen all die verletzenden Worte. Diese Momente der Stille haben etwas Magisches. In ihnen offenbart sich die Liebe, der Louis sich nicht stellen kann. Die Sehnsucht nach einem Hafen führt in die Irre. Mehr als eine traurige Leere hat ein Hafen nicht zu bieten.




Einfach das Ende der Welt
von Xavier Dolan
CA/FR 2016, 97 Minuten,
deutsche Synchronfassung und französische OF mit deutschen UT

Aktuell hier im Kino zu sehen.

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