Dunkler als die tiefste Nacht

TrailerDVD / VoD

Die italienische Drag Queen Fuxia hat die Geschichte ihrer sizilianischen Kindheit und Jugend erzählt, der Regisseur Sebastiano Risio daraus einen Film gemacht. Er handelt von den entscheidenden Jugend- und Wanderjahren des 14-jährigen Davide, der vor seinem prügelnden Vater in den Rotlichtbezirk Catanias flieht, wo ihn eine wilde Strichertruppe bei sich aufnimmt und ihm Raum zum Durchatmen und zur Selbstfindung gibt. Mit ihrer Wärme, die ganz ohne pittoreske Verschönerungen funktioniert, hat es diese Geschichte bis nach Cannes geschafft, wo „Dunkler als die tiefste Nacht“ 2014 in der Semaine de la Critique gefeiert wurde.

Foto: Edition Salzgeber

David und Goliath

von Matthias Frings

„Papa“ ist auf dem Display des Handys zu lesen, das Davide erbost aufs Straßenpflaster pfeffert. Wie alt mag er sein? Vierzehn? Fünfzehn? Kurz darauf lungert er – rothaarig, blass, dünn – an einem Parkeingang herum. Zwei korinthische Säulen, ein paar Stricher, Kundschaft, eine bettelnde Obdachlose. In einem deutschen Film würde es jetzt kühl regnen, hier im sizilianischen Catania dünstet die nächtliche Szenerie soviel sommerliche Abendwärme aus, das man auf der Stelle Stricher werden möchte.

So sind sie, diese halben Erwachsenen: laufen wie Hündchen den Älteren hinterher, und so ist auch Davide, unser Rotschopf. Er trifft auf das kecke Tüntchen Rettore, das hier seinen Arsch verkauft, fegt mit ihm durch eine dieser bildschön verlotterten italienischen Altstadtgassen. Sommernacht bei Rotlichtbeleuchtung, die vielgeschlechtliche Welt der Nachtfalter und ihrer Sammler. Keine Kamerafahrt, sondern ein flotter Gang, überall Huren jeden Geschlechts, ciao bella, ciao bello, die Dicktittige, das pralle, weiße Unterhemd. Die Wasserstoffblonde heißt Meriliv Morlov, weil sie zu dumm ist, „Marilyn Monroe“ auszusprechen. „Mann oder Frau?“, ruft einer im Vorbeilaufen. – „Ich bin beides.“ Jeder hier verdient die Butter fürs Brötchen auf seine Art. Roberto steckt nackt in seiner Latzhose und hat Läuse in seiner Punkfrisur sitzen, fies, aber sonst ist er ziemlich süß. Ein Auto hält, die Latzhose sagt ihren Preis, bekommt die Hälfte und dampft ab.

Davide registriert das alles wortlos. Er hat das zarte Gesicht eines Kirchenchorknaben und die geschmeidigen Hüften eines Mädchens. Und dort drüben steigt noch einer in ein Auto, ein geilhübscher Wuschelkopf. Nicht mehr lang, und Davide wird ihm unvermittelt einen verlegenen Kuss auf die Lippen drücken, zum allerersten Mal, Davide, das Hündchen, das einfach bei seiner neuen, bettelarmen, kackfrechen, rustikal-liebevollen Familie bleibt. Ach ja, da ist noch das zutreffend so getaufte Muskelwunder Wonder und diese biologische Frau, die wahre Exotin hier, die während des gesamten Films nicht ein Wort sagt. Ein Zelt haben sie sich zusammengetackert, eine Behausung aus Planen und Plastiktüten, aber für Davide ist dies hier tausendmal sicherer als das, was Erwachsene sein Zuhause nennen würden.

Dort nämlich herrscht der Mann vom Display, „Papa“ nur dem Namen nach. Er ist der rabiate Goliath dieses Films, schlussendlich von seinem Davide besiegt, den er nicht brechen kann. Grün und blau schlagen schon. Die Szenen häuslicher Gewalt kommen in Rückblenden fast stumm daher, große Erklärungen sind nicht vonnöten. Jeder von uns hat den Hass im Ohr, und wir können uns auch ohne Dialog vorstellen, was in den Spritzen ist, die der Vater dem strampelnden Davide in den Hintern jagt. Konventionell, aber erstaunlich versiert gefilmt, verordnet Regisseur Sebastiano Riso seinem Erstlingswerk eine konsequente Licht- und Farbdramaturgie: Obwohl kein Zuckerschlecken, erstrahlt der Alltag der Außenseiter in warmen Farben, während die Welt der Bürger in fast gleißende Helligkeit getaucht wird. Die  scheinbar weiße Weste wird demonstrativ zur Schau getragen, etwa vom Vater in seinen blütenweißen Hemden und Anzügen.

„Dunkler als die tiefste Nacht“ verweigert trotz des melodramatischen Titels die übliche Elendsdramaturgie ähnlicher (Film-)Erzählungen. Er bedient nicht die schönschaurige, buchstäblich abgewichste Poetik des sexuellen Elends. Sein Interesse richtet sich mehr  auf das zwar ruppige, aber letztlich doch funktionierende Miteinander der kleinen Selbsthilfetruppe. Ein Sommernachtstraum ist der Film dennoch nicht: In Schüben bricht die harte Realität herein und fordert von jedem seinen Tribut.

Das Drehbuch beruht auf der Lebensgeschichte der in Italien bekannten Dragqueen Fuxia, doch der Film benötigt diese Beglaubigung nicht. Die nötige Authentizität erlangt er voll und ganz durch den grandiosen Hauptdarsteller Davide Capone. Mit seiner blassen Sommersprossigkeit schenkt er dem Film etwas, was man nicht spielen, sondern nur besitzen kann: die betörende geschlechtliche Unentschlossenheit zwischen Kindheit und Jugend.




Dunkler als die tiefste Nacht
von Sebastiano Riso
IT 2014, 95 Minuten, FSK 16,
italienische OF mit deutschen UT,
Edition Salzgeber

Hier auf DVD.

vimeo on demand

VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)


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