Dino Heicker: Weltgeschichte der Queerness

Buch

Was für ein Versprechen: Die gesamte „Weltgeschichte der Queerness“ will Literaturhistoriker Dino Heicker in seinem neuen Buch aufrollen. Wie umfangreich muss ein solches Werk wohl sein? Zumal wenn der Autor vor den Kapiteln zu den alten Griechen und dem Römischen Reich auch noch die griechische Götterwelt und die Bibel auf ihren queeren Gehalt durchleuchtet. Axel Schock hat das 300-Seiten-Kompendium unter die Lupe genommen.

Die Schneeflocke auf der Spitze des Eisbergs

von Axel Schock

Wie soll das gehen, all die zentralen oder kulturellen, historischen und gesellschaftspolitisch bedeutsamen Ereignisse, Personen und Entwicklungen jenseits des Heteronormativen aus mehr als 2000 Jahren in ein Buch zu packen? Denn wie komplex und vielfältig ist allein, was über Deutschland zu erzählen wäre. Robert Beachy etwa benötigte in „Das andere Berlin: Die Erfindung der Homosexualität“ (2015) allein für die Geschichte des homosexuellen Berlins zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus mehr als 460 Seiten. Ähnlich umfangreich fiel der Sammelband „In Bewegung bleiben“ (2007) zu 100 Jahren lesbischer Bewegungs- und Kulturgeschichte in Deutschland aus.

Der promovierte Literaturwissenschaftler Dino Heicker, der sich vor allem als Herausgeber und Autor kultur- und kunstgeschichtlicher Publikationen einen Namen gemacht hat, beschränkt sich in seiner „Weltgeschichte der Queerness“ jedoch nicht auf Deutschland, sondern nimmt den gesamten Globus (samt Götterwelten) in den Blick. Und bleibt dennoch unter 340 Seiten.

Ein allumfassendes Werk, das versteht sich von selbst, ist hier nicht zu erwarten; auch, wenn sich Heicker – so darf man es aus seinem Vorwort herauslesen – eine solche Mammutaufgabe durchaus zugetraut hätte. Statt der mehrbändigen, enzyklopädischen Universalgeschichte eines Autor:innenteams ist es nun, wie Heicker schreibt, ein „Ein-Mann-ein-Buch-Projekt“ geworden. Statt eines „Kanons queerer Ausrichtungen“ bietet seine „Weltgeschichte der Queerness“ nun kompakte Porträts von Sappho und dem chinesischen Kaiser Aidi bis zu Michel Foucault und Judith Butler. Dazu gibt es Kurzessays – etwa zum Kastratenkult im 18. Jahrhundert und Männerbeziehungen unter Samurai.

Der Fokus liegt dabei, wie Heicker in seiner Einführung selbst anmerkt, auf den Entwicklungen in Europa und Nordamerika. Die geschichtliche Rundreise aber führt schlaglichtartig auch auf die anderen Kontinente: etwa in den Orient zu Dschingis Khans Schwiegertochter Törenge, die mit ihrer Geliebten die Machtverhältnisse im mongolischen Reich neu ordnete, oder zu indigenen Völkern auf Tahiti sowie in Süd- und Nordamerika.

Dino Heicker – Foto: D.O.N.

Zwölf Seiten und rund 600 Namen umfasst allein das Personenregister. Das macht deutlich, wie viel Geschichte und wie viele Geschichten in diesem Band stecken. Und ja, es sind tatsächlich die Geschichten, die das Buch zu etwas Besonderem machen. Denn abgesehen von der Einleitung und einem abschließenden Ausblick verzichtet Dino Heicker auf geschichtswissenschaftliche und queertheoretische Einlassungen. Er erweist sich vielmehr als versierter Erzähler, der leicht verständlich jeweils den historischen Background liefert, übergeordnete Zusammenhänge herstellt und mit lebendigen sowie manch kuriosen Details verbindet. Das macht diese Weltgeschichte tatsächlich zu einer überraschend unterhaltsamen Lektüre, bei der auch für Kenner:innen der queeren Geschichte viele Entdeckungen zu machen sind.

Heicker führt die Lesenden anhand von zentralen Ereignissen und Personen, sowie Büchern, Filmen und anderen wegweisenden Kunstwerken durch die Jahrhunderte und Kulturen. Im Kapitel zum Römischen Reich etwa lernen wir Kaiser Hadrian und seinen Geliebten Antinoos kennen, um den nach dessen frühen Tod ein wahrer Kult inszeniert wurde. Im Kapitel über Elagabal erfährt man nebenbei, dass unter der Herrschaft dieses in sexueller Hinsicht sehr aufgeschlossenen und ausschweifend liebenden Kaisers Hochzeiten unter Männern durchaus üblich waren. Erst hundert Jahre später wurden sie von seinem Nachfolger Constantius II. offiziell verboten.

Im Kapitel „Queeres und Ketzer im Mittelalter“ findet sich die Geschichte von Katherina Hetzeldorfer, die 1477 im Rhein bei Speyer ertränkt wurde. Sie gilt als die erste Frau in Deutschland, die wegen homosexueller Handlungen hingerichtet wurde – beziehungsweise, weil sie eine männliche Identität angenommen, Männerkleidung getragen und mit einem offenbar sehr ausgeklügelt konstruierten Strap-on-Dildo mehrere Frauen sexuell beglückt hatte, denen die Täuschung nicht aufgefallen sein soll. Am Beispiel von Katherina Hetzeldorfer zeigt sich auch, dass heutige Kategorisierungen oder Bezeichnungen auf historische Personen nur bedingt angewendet werden können. War die aus Nürnberg stammende Frau eine Crossdresserin? War sie lesbisch oder vielleicht transgender? Dino Heicker enthält sich in solchen Fällen entsprechender Zuschreibungen. Der Begriff „queer“ erleichtert es, das weite Feld der nicht-heteronormativen Identitäten und Lebensweisen unter einem Begriff zu vereinen.

Im Laufe seiner Reise durch die Jahrhunderte entdeckt Heicker viele solcher Uneindeutigkeiten – seien es Eunuchen, Hermaphroditen oder Berdache (um bei den historischen Ausdrücken zu bleiben), seien es asexuelle, intersexuelle und trans Personen (um heutige Bezeichnungen zu nehmen) oder nordamerikanische Two Spirits und hawaiianische Aikāne (so die indigenen Selbstbezeichnungen). Das Spektrum, das sich auf den rund 330 Seiten dieser queeren Weltgeschichte eröffnet, ist also enorm und lässt verschmerzen, dass – je nach Perspektive und Vorkenntnis der Leser:innen – mancher Aspekt, Zeitabschnitt oder die eine oder andere Region zu kurz kommen oder es gar nicht erst ins Buch geschafft haben.

Als „Schneeflocke auf der Spitze des Eisbergs“ bezeichnet Dino Heicker selbst die notwendigerweise verknappte Auswahl seiner „Weltgeschichte“. Doch so klein muss er diesen Band und die eigene Leistung gar nicht machen. Gerade angesichts der Tatsache, dass wir derzeit etwa in den USA erleben müssen, wie Bücher zu LGBTIQ+ Themen aus Büchereien entfernt und die Beiträge von LGBTIQ+ zur Geschichte von staatlicher Seite eliminiert werden, ist es umso wichtiger, diese verstärkt ins Bewusstsein zu bringen. Auch deshalb sollte Dino Heickers Buch eigentlich in jeder öffentlichen Bibliothek zu finden sein, zumal es auch jungen, oder generell Menschen mit wenig Vorkenntnissen einen perfekten und leicht lesbaren Einstieg bietet.

Abschließend ist die punktgenaue Illustrierung des Bandes hervorzuheben. Unter den rund hundert größtenteils farbigen Fotos, Coverabbildungen, Porträts und Kunstwerken finden sich viele kuriose, selten publizierte und sehr passend ausgewählte Abbildungen. So etwa ein Kupferstich des Piratinnenpaars Anne Bonny und Mary Read, die Pimmelkritzeleien, mit denen Leonardo da Vinci von einem seiner Schüler wegen seiner Männerbeziehungen verhöhnt wurde, oder ein Foto der Porzellantasse, welche Herzog Emil August Leopold von Sachsen-Gotha und Altenburg sich hat detailreich mit Penissen bemalen lassen. Hervorragende Motive wie diese erleichtern den Einstieg in Heickers letztendlich eben doch erstaunlich umfassende „Weltgeschichte“ zusätzlich.



Weltgeschichte der Queerness
von Dino Heicker
336 Seiten, € 30
BeBra Verlag Berlin

 

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