Die Unschuldigen von Ipanema: Interview mit Marko Martin

Buch

Marko Martin (*1970) ist der Weltreisende der deutschen Gegenwartsliteratur – als Autor und Rezensent. Sein Roman „Der Prinz von Berlin“ (2000) ist einer der meistverkauften schwulen Romane in deutscher Sprache. 2009 erschien mit „Schlafende Hunde“ die erste Sammlung erotischer Reiseerzählungen, der bald weitere Sammlungen folgten. Aus Anlass der Veröffentlichung des Erzählbandes „Die Unschuldigen von Ipanema“ führten wir ein Gespräch mit dem Autor.

Keine Angst vor der Wirklichkeit

Interview: Joachim Bartholomae

Man könnte Thomas Mann als „Heimatschriftsteller“ bezeichnen, der immer und immer wieder über die Welt und das soziale Milieu geschrieben hat, worin er aufgewachsen ist: Das war es, was er am besten kannte, und deshalb konnte er es literarisch am besten durchdringen. In Deinem ebenfalls bereits recht umfangreichen Werk scheint dagegen die Fremde die Hauptrolle zu spielen – bist Du ein „Fremdheitsdichter“, und falls ja: Wie kann man über etwas schreiben, das man im Grunde gar nicht kennt?

Unabhängig davon, dass für mich Thomas Manns schönstes Werk die Roman-Tetralogie „Joseph und seine Brüder“ ist, die nun mit dem Lübecker Kosmos gar nichts zu schaffen hat: Was „kennt“ man schon wirklich? Fremdheit und Überraschung beginnen doch nicht erst Meilen von dort, wo ein mehr oder minder festgefügtes „Zuhause“ ist! Aber klar, zugegeben: Das Geschehen innerhalb der Bundesrepublik oder gar innerhalb eines sozial und ethnisch homogenen Berlin-Mitte-Milieus reizt mich nicht wirklich. Ich war ja damals im Mai 1989 als Kriegsdiensttotalverweigerer auch deshalb aus der DDR ausgereist, um Geschichten zu erleben und zu erzählen, die sich in der sogenannten „weiten Welt“ zutragen. „Über etwas schreiben“ scheint mir dabei aber eine etwas pennälerhafte Anmaßung: Routiniert heruntergespulte Geschichten, deren Autor als eine Art Drohne den pseudo-objektiven Drüberblicker gibt, fand ich immer schon ziemlich öde und suspekt. Mir geht es eher um reflektiertes Involviertsein anstatt um dieses kühle Insektenaufpicken à la Ernst Jünger oder dessen popliterarischer Epigonen wie Christin Kracht, deren verklemmt hochmütige Distanz-Attitüde vermutlich allesamt in einer geradezu panischen Angst vor Wirklichkeit und Berührung wurzeln.

Du tust dem armen Wörtchen „über“ Unrecht, wenn Du es mit „drüberweg“ gleichsetzt; vielleicht hätte ich besser „von etwas schreiben“ sagen sollen, denn irgendein Etwas außerhalb des Autors, das seine Literatur inspiriert, wird es doch auch bei Dir sicher geben. Reflektiertes Involviertsein statt kühlem Insektenaufpicken also – aber ist das nicht noch viel schwieriger? Wie lange musst Du Dich in einem fremden Land aufhalten, um Dich „involviert“ zu fühlen? Und involviert in was denn – Arbeitsleben, Wohnsituation, religiöses Klima, Freizeitverhalten, wo spürst Du die aussagekräftigen Situationen und Erlebnisse auf, mit denen Du Dich dann literarisch auseinandersetzt?

Das lässt sich nicht so mechanisch beantworten. Ich rausche dort, in den als „fremde Länder“ beschriebenen Gegenden, ja nicht in der Montur des deutschen Literaturbetriebs ein, um irgendetwas zu „recherchieren“ oder sogleich zu literarisieren. Die Erzählungen aus einem Erlebnis wird Erfahrung entstehen völlig unerwartet aus diversen Begegnungen. Mitunter aber auch erst Jahre später, wenn das mir Mitgeteilte im Hirn eine Art Synapsenschaltung ausgelöst hat, die eine Verknüpfung herstellt. Etwa so: Eine Hotelnacht in Bangkok und die Geschichte eines jungen reisenden Filipinos geht irgendwann in der Erinnerung über in eine Sommernacht in Frankfurt, in der mir im sogenannten „Hotel der kleinen Airlines“ ein malaysischer Stewart von ganz Ähnlichem berichtet hatte, von erster Liebe und Enttäuschung, von der Subversion des Eros und dem Strangulierenden gesellschaftlicher Konventionen. Weil „Kulturkreise“, anders als es rechte und linke Relativisten behaupten, eben nicht homogen und voneinander abgeschieden sind, sondern voller Menschen, deren Geschichten miteinander verbunden sind und auf diese Weise erzähl- und vermittelbar. Ohne die Neugier genau darauf und die Freude am literarischen, vagabundierenden Chronistensein hätte ich wahrscheinlich keine einzige Zeile geschrieben.

Marko Martin – Foto: privat

Du hast seit 2009 zwölf Bücher über Deine Reisen durch die Welt geschrieben. Weißt Du noch, wie das alles einmal angefangen hat? Wie ist es zu den „Schlafenden Hunden“ in der Anderen Bibliothek gekommen? Dein Auftritt auf dem deutschen Buchmarkt war ja ein „stationärer“ Roman, „Der Prinz von Berlin“. Was hat Dich in die Welt hinaus getrieben oder gelockt, und wie sind aus diesen Reisen dann diese vielen Geschichten entstanden?

Ich bin aufgewachsen mit den Büchern von Jack London, Friedrich Gerstäcker und Jules Verne, wobei mich bei diesem nicht etwa die Mond- und Unterwasserreisen gepackt hatten, sondern Romane, die vom Geschehen hier auf der Erde erzählten: „Der Donaulotse“, „Ein Kapitän von 15 Jahren“, „Michael Strogoff“ … Deutsche Gegenwartsliteratur aus Ost und West hat mich dagegen eher am Rande interessiert und ich glaube, dabei ist es auch geblieben. Mein erstes Buch von 1994, Kurzprosa und Gedichte, trug den Titel „Taxi nach Karthago“, und auch dabei ist es eigentlich bis heute geblieben: Reisen, um die Möglichkeiten und Begrenzungen des Ichs auszuloten, aber nicht in der Nabelschau zu verharren, sondern offenen Auges in andere Realitäten und Lebenswelten einzutauchen, erotische Begegnungen natürlich inklusive. Übrigens: „Der Prinz von Berlin“, mein „stationärer“ Roman, spielte nur zur einen Hälfte in der deutschen Hauptstadt, die mit den Augen eines libanesischen Studenten gesehen wird, zur anderen Hälfte aber im bürgerkriegsverheerten Beirut. (Über das, by the way, Nicolas Born 1977 bereits seinen großartigen Roman „Die Fälschung“ geschrieben hatte hoch aktuell, auch in seinem Hinterfragen medialer Routine-Berichterstattung. Und nicht zu vergessen das „Libanesische Tagebuch“ meines hochverehrten Schriftstellerfreundes Michael Kleeberg.)

Wenn mich in meinen politischen und Reisereportagen die Fragen von Demokratie und Menschenrechten in unserer globalisierten Welt interessieren, dann kommt in den Erzählungen, die ich seit 2008, beginnend mit den „Schlafenden Hunden“ in der Anderen Bibliothek, veröffentlicht habe, noch etwas hinzu: Welche Individualgeschichten in Ruanda oder Israel, in Südafrika, Mexiko oder Russland bleiben normalerweise unter dem Radar der Großanalysen und Konfliktbeschreibungen? Wie ist Sexualität verknüpft mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, wie löst sie sich daraus und vor allem: Wie ist solches dann zu erzählen, jenseits eines simplen „Aufschreibens, was passiert ist“?

Du hast mein nächstes Thema damit zum Teil schon vorweggenommen: In einigen Deiner Bücher spielen die sexuellen Erlebnisse des Reisenden eine so große Rolle, dass Berichte über Kontakte mit lokalen Schriftstellern oder Kommentare zur politischen Situation streckenweise auf die Funktion von Randverzierungen reduziert werden – ich denke da vor allem an Dein Kuba-Buch „Das Haus in Habana“, in dem der Ärger darüber, dass Sex ohne Geld kaum zu haben ist, eine große Rolle spielt. Ist Sex mit den Männern vor Ort einer Deiner Wege des „reflektierten Involviertseins“?

Interessante Lesart, die ich mir dennoch nicht zu eigen machen würde. Ohne die karibische Literatur nämlich, ohne den barock-synkretistischen Mutwillen in den Büchern von Alejo Carpentier, Lezama Lima, aber vor allem des großen exil-kubanischen Romanciers Guillermo Cabrera Infante wäre ich wohl kaum auf die Insel gereist. Mein guter alter Freund Hans Christoph Buch dessen Bücher übrigens zu denen der deutschsprachigen Literatur zählen, die mich sehr wohl fasziniert und geprägt haben hatte den Kontakt zu kubanischen Kollegen hergestellt. Ohne dieses literarische „Angefixtsein“ (das übrigens eher an den Rändern schwul konnotiert war) hätte mich Kuba wahrscheinlich gar nicht so gereizt. Zur Frage der Sexualität: Ich habe es immer als obszön empfunden, ein Land zu bereisen, ohne auch in physischen Kontakt zu seinen Bewohnern zu kommen. Dass Kuba, ähnlich vielleicht wie damals unter Diktator Battista, wiederum zu einer Art Insel-Bordell geworden ist, hat mich jedenfalls arg überrascht. Jahrzehnte sozialistischer Misswirtschaft das Regime und dessen Schönredner im Westen würden jetzt wohl sofort krähen „Nein, die Folgen des US-Embargos!“ haben zu einer Gier und einem Materialismus geführt, der natürlich nachvollziehbar ist, mir aber in keinem anderen Land Lateinamerikas auf diese Weise begegnet ist, selbst nicht in so armen Ländern wie El Salvador, in dessen Hauptstadt die Titelerzählung meines Bandes „Die Nacht von San Salvador“ spielt. Weshalb hätte ich bei diesem Spiel mitmachen sollen? Wenn Sexualität für mich ein Akt der Käuflichkeit oder ein Ausleben von Dominanz- oder Unterordnungsphantasien wäre, hätte ich mit Sicherheit keine einzige Zeile schreiben können. Tatsächlich sah ich dann in den Bars und Clubs beinahe Heerscharen erotisch Ausgehungerter aus Europa, die sich dort nicht anders aufführten als Hetero-Kegelklubbrüder aus NRW beim Bumsurlaub in Pattaya/Thailand. Und zur Frage nach dem „Involviertsein“: Trotz allen Hindernissen und jenseits des Pekuniären kam es dann doch zu Begegnungen: Junge Kubaner, die bei der Zigarette davor oder danach geradezu lustvoll-wütend Klartext sprachen und nicht zuletzt voll souveränen Spotts waren über jene oberfläch-progressiven Westler, die sich mit Kuba-Lobessprüchen bei den Einheimischen einzuschleimen versuchten. Zum Augen- und Ohrenzeugen all dessen geworden zu sein, erfüllt mich noch heute mit ja, sagen wir´s nicht ganz ohne Pathos: mit Dankbarkeit.

Auch ohne Dir gegenüberzusitzen ist deutlich zu spüren, wie Du vor Wut über die Verlogenheiten des kubanischen Regimes und seiner europäischen Verehrer und Sextouristen geradezu bebst. Trotzdem macht die Jagd auf Männer mehr als die Hälfte Deines Kuba-„Rapports“ aus, wie Du diesen Reisebericht untertitelt hast. Von den „Schlafenden Hunden“ bis zum jüngsten Buch, „Die Unschuldigen von Ipanema“, kommt der Liebhaber drastischer Sexgeschichten voll auf seine Kosten. Ich möchte deshalb – ohne die Kuba-Wut im Hintergrund – noch einmal auf meine Frage nach der Poetik dieser global-pornografischen Welt-Literatur zurückkommen. Du sagst, es käme Dir obszön vor, in fremden Ländern nicht den physischen Kontakt zu Einheimischen zu suchen. Warum wäre das obszön, und worin liegt der innere Zusammenhang literarischer Interviews mit Bettgeschichten?

Weder „bebe ich vor Wut“ angesichts einer Diktatur und deren mehr oder minder verhuschten Profiteuren, noch nehme ich meine Erzählungen als „drastisch“ oder gar „pornografisch“ wahr. Auch die Bezeichnung „Bettgeschichten“ scheint eher dem Vokabular der fünfziger Jahre anzugehören. Und weshalb ich es für obszön hielte, auf Reisen nicht in physischen Kontakt zu geraten? Weil die Welt voller gewitzter Mutwilliger ist, die das Ironie-Potenzial eben solcher Bemerkungen sofort erspüren und uns in ein gemeinsames Lachen ausbrechen lassen! Die „Fremdheit“, auf die in den vorangegangenen Fragen rekurriert wurde: Dort fühle ich sie jedenfalls nicht. Ganz zu schweigen davon, was mir dann und zwar keinesfalls in „Interview-Situationen“ erzählt wird über zum Teil strangulierende Gesellschaftsstrukturen und die Schönheit individuellen Begehrens und Aufbegehrens. Und ja, ich halte es durchaus für ein Privileg, auf diese Weise zum literarischen Zeugen werden zu können.

Dass Du das Reisen so sehr liebst, bedeutet sicher nicht, dass Du die Länder und Menschen, die Du dabei kennenlernst, allesamt gleichermaßen in Dein Herz schließt. Nach Deinem Studium hast Du längere Zeit in Paris gelebt, aber heute scheint Israel und besonders Tel Aviv ein Ort zu sein, an den Du besonders gern zurückkehrst. Was macht die Anziehungskraft dieses eigenartigen kleinen Landes aus?

Ich bin im Sommer 1991 zum ersten Mal nach Israel gekommen wenige Monate nachdem Saddam Hussein seine Scud-Raketen abgeschossen und gedroht hatte, mit einem Giftgasangriff das Land „in ein einziges Krematorium zu verwandeln“. Seither bin ich nahezu jeden Sommer dort, vor allem im geliebten Tel Aviv, das längst zu einer gefühlten zweiten Heimat geworden ist. Weshalb das so ist? In „Tel Aviv, Schatzkästchen und Nussschale, darin die ganze Welt“ erzähle ich von der Sexiness herzenskluger Menschen, die es gelernt haben, immer wieder auch die eigenen Referenzmuster zu hinterfragen, als Soldaten ihr winziges, für seine Region einzigartig schwulen- und lesbenfreundliches Land zu verteidigen und gleichzeitig die innenpolitischen Narrative der gegenwärtigen Rechts-Regierung ganz entschieden zu kritisieren. Ob am Strand, in Clubs oder bei „Towel-off“-Partys es begegnet mir dort ein Hedonismus mit Hirn, Biographien der hochreflexiven Urenkel von Shoah-Überlebenden und jüdischen Flüchtlingen aus Jemen, Äthiopien oder Syrien. Nicht zu vergessen die jungen israelischen Araber und die aus den palästinensischen Gebieten nach Tel Aviv geflüchteten Schwulen, die ebenfalls von etwas erzählen, das ansonsten fast immer unter dem Radar deutscher „Nahost-Kennerschaft“ bleibt. Um es in den Worten meines alten Freundes Ralph Giordano zu sagen: Ja, ich liebe dieses kleine, stets bedrohte Land, dessen hierzulande kaum wahrgenommene Fähigkeit zu Debatte und Selbstkritik etwas ganz und gar Einmaliges ist.




Die Unschuldigen von Ipanema
von Marko Martin
gebunden, 400 Seiten, 25,00 €
PalmArtPress


Das Haus in Habana

von Marko Martin
gebunden, 256 Seiten, 20,00 €
Wehrhahn Verlag


Tel Aviv: Schatzkästchen und Nussschale, darin die ganze Welt
von Marko Martin
broschiert, 116 Seiten, 16,90 €
Corso Verlag


Umsteigen in Babylon
von Marko Martin
broschiert, 240 Seiten, 20,00 €
Männerschwarm Verlag

 

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