Die Geschwister

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Jan Krüger dreht konsequent Filme mit queeren Geschichten. Das ist keine Selbstverständlichkeit, auch nicht für einen sich als schwul identifizierenden Filmemacher in Deutschland. Seine bisherigen drei Langfilme erzählen allesamt keine Coming-out-Storys (das erledigte er – auf originelle Weise – in seinem Kurzfilme „Freunde“ von 2001). Das Schwulsein der Figuren ist bei ihm nie ein Thema an sich, sondern wird stets mit anderen Erfahrungen verknüpft. Sein neuer Film „Die Geschwister“ handelt von Berlin als Stadt und Begehrensraum und folgt dem Erzählmuster eines Märchens. Die Geschichte von einem, der sich bisher aus allem raushielt, und der durch die Liebe lernt, soziale Verantwortung zu übernehmen…

Foto: Edition Salzgeber

Es gibt nichts umsonst

von Gunther Geltinger

Es war einmal …
… eine Stadt, die allen, die dorthin aufbrachen, Freiheit versprach. Mit dem Slogan „Berlin ist arm, aber sexy“, warb noch vor einem Jahrzehnt der ehemalige Bürgermeister Klaus Wowereit um neue Bewohner für seine Stadt und lockte junge Menschen aus aller Welt herbei. Sie folgten dem Sex-Appeal einer Metropole, die sich selbst zum neuen Zentrum Europas ernannt hatte – wer im 21. Jahrhundert ankommen wollte, zog nach Berlin. Nicht nur auf den Wohn(t)raum bezogen hatte die Stadt viel Leerstand zu bieten – es galt, sie kulturell, sozial und politisch neu zu besetzen und möglichst bunt zu durchmischen. Dabei trug Berlin seine Zukunft bereits als Mythos vor sich her, während in den Straßen noch geschäftig gegen die Spuren der Vergangenheit anrenoviert wurde. Kaum etwas war zur Jahrtausendwende verheißungsvoller als eine aschgraue Altbauwohnung mit Kohleofen in Berlins Osten zu beziehen – und zu schauen, was passiert. Man überpinselte die maroden Wände mit den Pastellfarben der individuellen Träume, mehrmals, wenn nötig, denn das hässliche Gesicht einstiger Armut drang wie hartnäckige Nikotinflecken durch die neuen Anstriche und erinnerte daran, dass das ehemalige politische System, das diese Tristesse hervorgebracht hatte, alles andere als sexy gewesen war.

Als Klaus Wowereit die politische Bühne Berlins verließ, um sich attraktiveren Aufgaben zuzuwenden als der Regierung einer hochverschuldeten Stadt, kostete der Quadratmeter einer Eigentums-Altbauwohnung im Stadtteil Prenzlauer Berg schon durchschnittlich 2800 Euro. Das Märchen von Berlin, das man sich weltweit noch immer erzählt, ist heute lukratives Spekulationsobjekt der Immobilienbranche. Die Menschen aber, die den Zauberformeln der Politik gefolgt sind – auch die Kanzlerin sprach im letzten Jahr einen magischen Satz –, sie sind jetzt da, und sie alle wollen ein Dach über dem Kopf.

In völliger Finsternis wispern ihre Stimmen von einstigen Kaltmiete-Preisen, diskutieren, ob Jalousien oder Gardinen vor die Fenster sollen. Dann blendet im ersten Bild von Jan Krügers neuem Film „Die Geschwister“ die Gegenwart auf: eine Wohnungsbesichtigung in einem Berliner Altbau. Wie Geister mit ihrer Sehnsucht, ins Leben zurückzukehren, schleichen die Mietbewerber durch die lichtdurchfluteten Räume: zarte Studentinnen im Spagettiträger-Top (Sexiness ist ggf. mitzubringen), andere mit der Elternbürgschaft in der Hand, auch der junge Vater mit dem Babytragegurt darf nicht fehlen. Sie tragen ihre Fragen schüchtern, fast schamhaft hervor; alle wissen, dass die Zeit, als man in Berlin hauptberuflich von einem angesagten Kiez in den nächsten zog, unwiederbringlich dahin ist.

Thies Meißner, der Verwalter mit dem funktionalen Vornamen, der auch Firmen- oder Markenname sein könnte, stellt knallharte Bedingungen: Einkommensnachweis, Schufa, wer nicht belegen kann, dass er regelmäßig die Miete zahlen wird, fällt durch das Raster, da helfen entblößte Schultern und ein devoter weiblicher Augenaufschlag wenig. Aber vielleicht doch die unverfängliche Frage eines jungen Mannes nach einem Kuli?

Auch Brüderchen und Schwesterchen haben sich aus dem alten Berlin-Märchen in die Wirklichkeit des aktuellen Wohnungsmarkts verirrt. Sonja und Bruno stammen aus Polen, und der blonde Bruder mit dem hübschen Proll-Gesicht rollt bei seiner Anmache selbstbewusst und ja, sexy, das R. Mit Erfolg – ein paar Szenen später lauert Bruno Thies beim Joggen auf und schlägt ihm ein Date vor. Thies glaubt, der Pole und seine Freundin – Schwester, dementiert Bruno – wollen auf diesem Weg an die Wohnung herankommen. Er lässt Bruno abblitzen, doch was er in Berlin mache, will Thies dennoch wissen. Bruno gefallen Berlins Männer, ein Tatbestand, der in den letzten zwei Jahrzehnten viele Schwule in die Stadt gelockt hat, und nicht alle haben das sexuelle Überangebot verkraftet.

Thies scheint sich gegen die virulente Energie des schwulen Berlins mit einer asketischen Lebensweise zu schützen. Er besucht nicht die Szene, pflegt keinen Homo-Freundeskreis, cruist und datet nicht, hat das alles vielleicht schon hinter sich. Oder fehlt ihm einfach das Interesse? Was interessiert ihn überhaupt? Jedenfalls nicht die Probleme der anderen, moniert die Arbeitskollegin, die ein Auge auf Thies geworfen hat.

Foto: Edition Salzgeber

Die nächste Szene, in der sich Thies und Bruno, die Boxerschort unverschämt sexy auf Halbmast, im Bett wälzen, deutet doch auf eine gewisse sexuelle Routine hin, ein schwules Rollenverständnis. Thies unterwirft sich dem ungestümen Jüngeren – wenn es überhaupt eine bewusste inszenatorische Setzung in der Verteilung der Männlichkeitsanteile ist, dass Brunos fast ikonenhaft ins Bild gesetzter Hintern für Thies sexuelle Tabuzone bleibt. Der Pole lässt sich nicht ficken, jedenfalls nicht von einem wie Thies. Einem, der nur bei halbem Bewusstsein durchs Leben taumelt – traumwandlerisch? Ein Mann ohne Eigenschaften, vom System glatt geschliffen, einer – wenn es hier schon um Märchen geht – von den grauen Männern aus Michael Endes Kinderbuch „Momo“, jenen todesbleichen Herren mit Aktenkoffern, die den Menschen die Lebensqualität stehlen, indem sie in der Welt eine rigide Politik des Zeitsparens installieren.

Thies ist Handlanger der herrschenden Ökonomisierer im Hintergrund, auf dem Berliner Wohnungsmarkt repräsentiert und exekutiert er die Macht des Kapitals, statuarisch, mit schöner, ungerührter Mine und tonloser Stimme. Sein Sprachduktus scheint seinen Gefühlen stets vorauszueilen, nuschelnd hastet er den eigenen Worten hinterher, aus Angst, sie könnten verraten, wer er wirklich ist, und wenn er niemand ist. Nur in Brunos Gegenwart flackert in dieser Stimme manchmal doch die Person auf, die spricht. Thies lächelt dabei sogar. Er ist dem erotischen Geheimnis der Geschwister schon längst verfallen, als sie eines Nachts zu dritt das alte Spiel spielen, mit dem Kinder sich auf Zeltlagern das Grauen vom Leib halten, das draußen in der Finsternis lauert, in der Fremde: Geschichtenerzählen. Einer beginnt, der andere spinnt die Handlung weiter, das erzählerische Grundsystem der Märchen, die aus der Überlieferung, der endlosen mündlichen Weitergabe, hervorgegangen sind. In dieser Erzählung gibt es einen Steve, der einst Sonja nachstellte, mit einem protzigen Auto, in dem er sie „nur bumsen“ wollte, wie Bruno weiß. Auch Bruno hat es mit Steve versucht – die Vorstellung, dass Bruno ihm, dem Liebhaber seiner Schwester und überzeugten Hetero mit Heavy-Metall-Herz, seinen flaumigen Hintern hingehalten hat, bleibt im Film ein Phantombild – oder eher ein Phantomschmerz?

Foto: Edition Salzgeber

Vielleicht ist es Thies’ Elementarkränkung, dass er nie sexuelle Macht über die Männer besessen hat. In die Erzählung bringt Thies einen jungen Mann ein, den er „mal kannte“, und der immer Musik gehört hat, allerdings nur von Frauen. Dieser Jemand verabscheute die machohaften Posen auf der Bühne, alles, was Mann war. Muss er nicht zwangsläufig auch Bruno fürchten, den rumorenden Polen, der die Macht seines virilen Gebarens genauso bewusst einzusetzen weiß wie Thies die Druckmittel seiner Mietverträge?

Thies stellt dem angeblichen Geschwisterpaar unentgeltlich eine Wohnung zur Verfügung. Bruno und Sonja führen nun eine parasitäre Existenz im Dunklen von Thies’ verdrängtem Trauma, und Thies wiederum zehrt von der Angst seiner illegalen Untermieter. Sonjas Schreckgespenst ist die Polizei, die Streifenwagen, die im Film das Bild kreuzen. Sie ist als Weißrussin ohne Papiere in Berlin, verdient sich ihr Schwarzgeld in einem Kiosk und führt ein Schattendasein, das auf Schutz und Verstecke angewiesen ist. Als Handwerker im Auftrag der Immobilienfirma die Wohnung zu renovieren beginnen, wird Sonjas Verfolgungsangst zur Paranoia. Immer schneller beginnen die drei nun um die Leerstelle in ihrer Mitte zu kreisen. Sonja gibt Thies ihre wahre Identität preis, doch zu diesem Zeitpunkt ist er schon längst Spielball der Fliehkräfte dieser unheilvollen Rotation, in einem geheimen Plan, dem Thies um jeden Preis auf die Schliche kommen muss – sein Überleben hängt davon ab. Er will die Wahrheit – „keine Lügengeschichten mehr!“

Foto: Edition Salzgeber

Ob ihn das irgendwie anmache, dass er Pole sei, fragt Bruno spöttisch, als beide im Auto gemeinsam einer Polnisch-Lektion vom Band lauschen, und Thies gesteht offen: „Sieht wohl so aus.“ Die Heimatlosigkeit und Armut des Geflüchteten scheint sexy zu sein, von allen Seiten zieht es Leute an, aus deren Leben die Erotik verschwunden ist. Sie wollen helfen, jedoch vor allem sich selbst. Der Flüchtling mit seinem Ruch der Straße und des Angstschweißes ist das Viagra gegen die seelische Impotenz der Gesettelten. Entsprechend setzt Jan Krügers Kamerafrau (!) Bruno immer wieder in Szene: Wenn er Thies zulächelt – und Jan Krüger spart nicht mit Regieanweisungen zum Lächeln – ist Bruno nur Arsch und Schwanz – und will mehr auch nicht sein.

Vor diesem Eros mit dem Januskopf flüchtet Thies immer wieder in seine schablonisierte Alltagswelt. Da ist Marcos, der Trödelhändler, der mit seinen Gefühlen für die schwermütige Nina ringt. Den Namen des Antidepressivums, das Nina angeblich schlecht verträgt, kann Marcos, der Romantiker, nur stammeln, Thies aber schießt das Wort aus dem Mund, als würde er das Medikament selbst täglich verordnen: Citalopram heißt der Wirkstoff, der den zum Stillstand Gekommenen den nötigen Antrieb zurückgeben soll, um sie als Rädchen in der Beschleunigungsmaschine unserer Zeit wieder funktionsfähig zu machen. „Komm lass fertig machen“, ruft Thies den hadernden Freund auf, die Dinge – alte, verschrammte Möbel – anzupacken.

Marcos ist eine Symbolfigur für den Verwalter und Aufbereiter des materiellen und menschlichen Abfalls der Effizienzgesellschaft, und Thies’ „ehrenamtliche“ Arbeit im Laden seines altmodischen Freunds wirkt wie ein ästhetischer und moralischer Gegenentwurf zu seinem Hauptberuf, in dem er so gute Arbeit leistet, dass seine Vorgesetzte in einer Teamsitzung Thies’ soziale Kompetenzen hervorhebt, die „deeskalierend“ wirken. Tatsächlich aber bewegt sich Thies auf die Katastrophe zu. Immer wieder dringt er mit seinem Generalschlüssel in die Wohnung von Sonja und Bruno ein. Während er sich auf der Flucht vor der eigenen Wahrheit immer mehr in Widersprüchlichkeiten verrennt, bleiben Bruno und Sonja beharrlich auf der Suche nach ihrem Ort, und Krüger und seine Co-Autorin Anke Stelling geben in ihrem Drehbuch diesen Bewegungen, den sehnsüchtigen wie den eskapistischen – großen Raum. Die drei fahren, laufen, rennen durch das nächtliche Berlin, begleitet von langen Kamerafahrten. Schwebend erzählt Krüger so von ihren Träumen, doch es sind auch seine eigenen Blicke auf Neuköllns dunkle Straßen mit den glitzernden Lichtern der Spätis, Momentaufnahmen eines urbanen Zaubers, der auch den Regisseur selbst einst in diese Stadt gelockt hat.

Es sind die von Wehmut erfüllten Blicke des Reisenden. „In diesem Zustand ist Reisen kein Fest, sondern eine Form der Trauer, der Zerstreuung“, schreibt der südafrikanische Schriftsteller Damon Galgut in seinem Erzählungsband „In fremden Räumen“, der ähnlich wie sein Roman „Der arktische Sommer“ über die Indienreise von E.M. Forster die spezifisch homosexuelle Sehnsucht nach dem Anderen im gleichen Geschlecht mit dem Motiv der Rastlosigkeit derer verbindet, die in sich selbst keine Heimat haben, ihrer „gelangweilten Angst vor dem Stillstand.“

Auch in Krügers früheren Filmen ersetzen solche Bildbewegungen große Teile der Handlung, schaffen Leerstellen dort, wo der Zuschauer sich Kausalitäten und eindeutige Konflikte wünscht. Bei Krüger sind diese untrennbar verwoben mit der Morphologie des Bildes; es ist sein ästhetisches Konzept, anstelle einer durch den Darsteller simulierten Emotion eine visuelle Bewegung zu setzen, die für das Unsagbare (oder ist es in Krügers Welt das Unsägliche?) einen Raum schafft, in dem Protagonist und Zuschauer allein mit ihren Projektionen bleiben. Es sind langatmige oder eher lang ausatmende Filmstrecken, bei denen der durchschnittliche Fernsehzuschauer, nach Luft schnappend, umschaltet, und trotzdem hatte der WDR den Mut, vielleicht auch nur die öffentlich-rechtliche Gewissenspflicht, den Film zu koproduzieren; man darf gespannt auf den Sendeplatz sein.

Krügers visuelle (E)Motionen gehen von einer verborgenen Sehnsucht der Figuren aus und münden, nach einer Kreisbewegung, in dieselbe zurück. Dazwischen verstreicht die Zeit. Fast alle seiner bisherigen Filme tragen diese Bewegung des Bildes, die jene des Herzens nicht ersetzt, aber sublimiert, im Titel: „Unterwegs“, „Rückenwind“, „Auf der Suche“, während sich nun in „Die Geschwister“, diesem scheinbar statischen Begriff, der normative, traditionelle und mythische Beziehungsvorstellungen vereint, sowohl semantisch als auch hinsichtlich der Figurenkonstellation die Bezüge auflösen. Zur Mitte des Films fragt Thies Sonja barsch, wie das Märchen von den Geschwistern denn nun weitergehe, eine Szene, in der Krüger die Form seines Films zum zentralen Konflikt der Figuren macht.

Foto: Edition Salzgeber

Das Presseheft zum Film stellt der Inhaltsangabe eine Passage aus dem Märchen „Brüderchen und Schwesterchen“ der Gebrüder Grimm voran und bietet damit eine Lesart an, die sich zusehends im Labyrinth von offenen Fragen und Sackgassen verliert. Da ist zunächst der Pakt mit dem Tod. Viele Menschen, die sich in dieser Zeit auf den Weg in das bessere Leben machen, schließen ihn in dem Moment, da sie zu Flüchtenden werden. Auch Brüderchen nimmt im Märchen sein Schwesterchen an die Hand, denn sie haben dort, wo sie leben, „keine gute Stunde mehr.“ Die böse Stiefmutter aber, eine Hexe, hat den Fluchtweg verwünscht und mit Tod infiziert. Alle Quellen des Waldes sind vergiftet. Die erste, von dem das Brüderchen trinken will, wird ihn in einen Tiger verwandeln, der das Schwesterchen frisst, die zweite droht mit dem Wolf, der dritte Brunnen, aus dem das Brüderchen, halb verdurstet, dann doch trinkt, gibt ihm den Körper eines Rehkitzes. Das Paar weint bitter über sein Schicksal, die Schwäche, den Verlockungen des besseren Lebens nicht widerstanden zu haben. Doch dann erleben sie gemeinsam eine glückliche Zeit, in einem Schwebezustand zwischen Leben und Tod, Tier und Mensch, in der Wildnis, wo das Schwesterchen abends den Kopf auf den weichen Rücken des Rehs bettet.

In seiner psychologischen Märchenanalyse deutet der Philosoph Wilhelm Salber die Konstellation in „Brüderchen und Schwesterchen“ als eine Morphologie der Bewegung unserer Lebenskulturen in ihrer Selbstregulation zwischen Umsturz und Neuordnung (vgl. dazu W. Salber, psychologische Märchenanalyse, Bonn 1999). Doch noch eine andere Interpretation verbirgt sich in dieser rätselhaften Intimität zwischen Bruder und Schwester: der Inzest und sein Tabu, das die Geschwisterliebe aus der Gesellschaft in den rechtsfreien Raum der Wildnis verbannt, wo der Bruder nur als Tier die Zärtlichkeiten der Schwester empfangen darf.

In Sonjas Arme geschmiegt findet Thies eines Nachts seinen Bruno, den Jungen mit dem Unschuldsblick eines Rehs, in dessen Pelz die Bestie schlummert. Während Jan Krüger als sensibler Schauspielerführer das eindimensionale Minenspiel des Thies-Darstellers Vladimir Burlakov für seine Figur zu nutzen weiß, flackern im Gesicht von Julius Nitschkoff alias Bruno abwechselnd der Tiger und das Kälbchen auf, der Verschmuste und der Verschlinger.

Und nur, weil der Königssohn im Märchen das „schöne Thier“ erblickt und ihm mit seinen Jägern nachstellt, fliegt der Inzest in der Waldhöhle auf; der König holt das Schwesterchen als seine Gemahlin an den Hof. „Das Rehchen muß auch mit, das verlaß ich nicht“, stellt das Schwesterchen ihre Bedingungen, eine Entschlossenheit, die Jan Krüger, wie er im Interview sagt, als Kind sehr beeindruckt habe. Aber geht es dem erwachsenen Krüger nicht eher um den verzauberten Leib des Brüderchens? Den begehrenden Mann, der nicht liebender Bruder, nicht gieriges Raubtier sein darf und im Bann der herrschenden Moral als Rehkitz zahm an der Hand läuft?

Thies bleibt kein anderer Weg, als Bruno zu entführen, um ihn ganz für sich allein zu haben. Es war sogar Brunos Idee, für Marcos eine Fuhre alter Möbel von einem polnischen Trödler zu holen, den Bruno noch von früher kennt (Im Märchen hat das Reh Spaß an der Hatz durch die königlichen Jäger, es bittet das Schwesterchen, ihm dafür Freilauf zu gewähren). Gewohnt lässig fragt Bruno Marcos, was „ein gutes Geschäft“ auf Türkisch heiße. „Hakuna Matata“ erwidert Marcos und gibt Bruno mit listigem Fingerzeig ein Rätsel mit auf den Weg. Dem Namen nach ist Marcos eher Spanier oder Portugiese. Im mythischen Babylon war die Sprachverwirrung eine göttliche Strafe, in deren Folge niemand mehr den anderen verstand, was den Untergang der babylonischen Gesellschaft einleitete. „Hakuna Matata“ stammt aus dem afrikanischen Swahili und bedeutet „Alles in bester Ordnung“ oder „Mach dir keine Sorgen“. Disney benutzte den Slogan für eine Fortsetzung des Erfolgsfilms „Der König der Löwen“, und in Ulrich Seidls verstörendem Film „Paradies Liebe“ raunen die gut bestückten jungen Kenianer den Spruch den dicken weißen Frauen zu, die als Sextouristinnen in das Land kommen und an den Stränden auf Beutezug gehen. In Seidls Film verwechselt die Hauptfigur Teresa den allseits angebotenen schwarzen Sex mit der Liebe, an der sie krankt. Seidls Drastik in der Darstellung eines Geschäfts, in dem Sex, Geld, Sehnsucht und Rasse einen brutalen Bund eingehen, steht Krügers verhaltene, um nicht zu sagen: keusche Ästhetik diametral gegenüber – und mag dem Filmemacher gerade deshalb als Referenz gedient haben.

Foto: Edition Salzgeber

In Polen wird das Liebesparadies für Thies zum Höllentrip. Endlos ziehen auf ihrer Fahrt die Fanale des demokratisierten und europäisierten Landes vorbei: Windräder, Werbetafeln, heruntergekommene Plattenbauten, Gewerbegebiete. Fast wie in Zeitlupe ein Banner mit der Aufschrift: BAZAR. Abends steuert Thies ein Hotel mit roter Leuchtreklame an. Hier sagt er etwas, was er in den sterilen Strukturen seines Berliner Lebens nie über die Lippen gebracht hätte: Seit zehn Stunden will er nichts anderes als mit Bruno ins Bett. Doch zuerst müssen sie im Puff die polnischen Prostituierten abwimmeln, mit denen Bruno sich solidarisiert. Die Frauen, für die Sex noch die lukrativste Arbeit in einem Land ist, aus dem man nur fortgehen möchte, fordern nun ihren Anteil an Thies’ Gewinnen. „Ist es dir das nicht wert, eine ganze Nacht mit mir allein?“, sagt Bruno beim Verführungstanz unter der traurig blinkenden Diskokugel. Thies legt sehnsüchtig die Hand auf Brunos stolzen Hintern, dann zückt er die Scheine.

Später in der Nacht, in einer der erotischsten Szenen des Films, steht Bruno auf und pinkelt aus dem offenen Fenster auf sein armes Heimatland hinab, von dem eine Figur aus dem kanadischen Spielfilm „Die Invasion der Barbaren“ von Denis Arcand einst sagte, die anhaltende Misere Polens sei der Beweis für die Nichtexistenz Gottes.

Es ist der Zwangsläufigkeit der Märchendramaturgie geschuldet, dass nach der Rückkehr aus Polen Sonja spurlos verschwunden ist. Und wie bei den Gebrüdern Grimm folgt in Krügers Film nun das Brüderchen seinem Schwesterchen in den Wald, in das Zwischenreich der Verstecke, „daß Gott sich erbarm“. Was soll Bruno auch anderes tun? Schwesterchen hat dem Rehchen als Leine ihr goldenes Strumpfband um den Hals gelegt.

Das Schwesterchen gebiert dem König einen Sohn. Die Hexe erfährt vom neuen Glück ihrer Stiefkinder und sinnt auf Rache. In Gestalt der Zofe führt sie die junge Mutter aus dem Kindbett in die Badestube, wo sie ein „rechtes Höllenfeuer angemacht“ hat. Ihre hässliche leibliche Tochter legt die Hexe als falsche Königsfrau in das Bett. Dreimal erscheint nun das Schwesterchen noch aus der Zwischenwelt am Bett ihres Kindes, wo auch das Reh liegt, und immer wieder sagt sie den gleichen Spruch, der am Ende ihren Tod ankündigt: „Was macht mein Kind? Was macht mein Reh? Nun komm ich noch diesmal und dann nimmermehr.“ Erst da wagt es der König, den Geist anzusprechen. Das Erkennen durch die Liebe aber, das Sichtrauen und Zuwenden, bannt den Fluch. Die falsche Königin wird im Wald den wilden Tieren vorgeworfen, die Hexe verbrannt. Das Brüderchen erhält seine menschliche Gestalt zurück. Sie leben nun Seite an Seite „glücklich bis an ihr Ende“.

Komm in die Puschen, sagt die Vorgesetzte der Immobilen-Firma zu Thies, oder, mit einer anderen Szene gesprochen, in der die depressive Nina an der Seite von Marcos erste Schritte zurück ins Leben unternimmt: funktioniere oder verrecke. Auf seiner Suche betritt Thies eines Abends eine Imbissbude und bestellt sich ein Gericht. Zum Hieressen, er hat jetzt Zeit. An den Tischen sitzen die Berliner, die aus dem einstigen Traum in die kalte Nacht erwacht sind, und kauen an ihrer Currywurst. Thies setzt sich zu ihnen. Jetzt muss auch er aufwachen. Und sprechen.




Die Geschwister
von Jan Krüger
DE
2016, 90 Minuten, FSK 12,
deutsche OF,
Edition Salzgeber

Hier auf DVD.

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VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)

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