Die Farbe des Winters
Trailer • DVD / VoD
Neu auf DVD: Die 21-jährige Filmstudentin Lucia leidet unter Panikattacken und Albträumen. Als sie für die Winterferien in ihre Heimatstadt Salta zurückkommt, geht es ihr zunächst schlechter. Auch hier weiß niemand, was die Ängste auslöst. Da lernt Lucia in einem Club die bildhübsche Olivia kennen. Zusammen mit ihr hat Lucia plötzlich keine Angst mehr… In ihrem autobiografisch eingefärbten Debütfilm erzählt die junge argentinische Regisseurin und Hauptdarstellerin Cecilia Valenzuela Gioia davon, mit welch überwältigender Furcht die Suche nach der eigenen Identität oft verbunden ist – und wie die erste große Liebe einem den Mut geben kann, zu sich selbst zu stehen. Ein berührend zurückhaltender Film über einen entscheidenden Farbwechsel.
Das Rot ihrer Lippen
von Natália Wiedmann
Barfüßig rennt die junge Frau durch das Kobaltblau einer (süd-)Amerikanischen Nacht, niemand vor, niemand hinter ihr, und doch sieht sie sich immer wieder um, als sei sie auf der Flucht. Sie rennt und rennt auf der einsamen Straße, in der Bildkomposition selbst aber kommt sie – da die Kamera zurückfährt – nicht voran. Ein wiederkehrender Traum, der Teil von Lucias Panikattacken ist.
Am Frühstückstisch wechseln die besorgten Eltern schnell vom Reden mit ihr zum Reden über sie, während Lucia unbeteiligt und beinah regungslos dabeisitzt. Das Gezänk der Eltern wird leiser, dumpfer, hört sich an, als käme es aus weiter Ferne, verstummt schließlich ganz – eine akustische Subjektive, die verdeutlicht, dass Lucia inmitten aller Menschen, inmitten ihrer Familie, ihrer Freunde, inmitten der Partys, zu denen sie sich zu gehen zwingt, unter jener unsichtbaren Glasglocke sitzt, der Sylvia Plath einst ein literarisches Denkmal gesetzt hat.
Ihrem besten Freund Gabriel erzählt Lucia, dass ihr Medikament die Panikattacken in Schach hält, ihr aber auch alle anderen Gefühle nimmt. Ihre Psychiaterin habe ihr geraten, den Grund für ihre Ängste zu suchen, aber es scheint, als fehle ihr dafür die Kraft. Bis zum kühlen Blau ihrer ruhelosen Träume eine neue Farbe hinzutritt: das Rot von Olivias Lippen, das Rot ihrer Fingernägel, ihrer Kleidung, des Geschenks, das sie Lucia gibt.
Zu Beginn der Dreharbeiten war die Regisseurin, Drehbuchautorin und Hauptdarstellerin Cecilia Valenzuela Gioia, die Anfang des Jahres auch in dem wunderbaren queeren Kurzfilm „La prima sueca“ („Swedish Cousin“) auf der Berlinale zu sehen war, selbst so alt wie die von ihre gespielte Lucia: gerade mal 21. In seinen Schwächen wie auch seinen Stärken bleibt spürbar, dass es sich bei ihrem Langfilmdebüt um eine Herzensangelegenheit handelt, die von jungen Studierenden mit einem Minimum an finanziellen Mitteln, aber dafür mit umso mehr Engagement umgesetzt wurde.
Stilistisch gleicht die kleine Produktion beinah der großen Temperaturamplitude ihres Drehortes Salta, jener im Nordwesten Argentiniens liegenden Stadt, in welcher der titelgebende Winter tagsüber bis zu 20 Grad warm ist, nachts aber auch Werte von 3 Grad erreicht. In wundervolles Licht getauchte Bilder stehen neben solchen, die flach und schlecht ausgeleuchtet wirken, steife Auflösungen neben Szenen von pulsierender Lebendigkeit. Mal gelingt eine expressive Verdichtung von Stimmungslagen, dann wieder folgen Situationen von zehrender Langsamkeit, weil etwa ein erstes Kennenlerngespräch doch eher unspektakulär ist, wenn man nicht gerade mit pochendem Herzen neben der Person sitzt, zu der man sich so wenig Abstand wie möglich wünscht. Aber in ebendieser Ungeschliffenheit, in dieser Direktheit liegt auch ein besonderer Charme, eine ungeheure Kraft und Authentizität.
Geradezu dokumentarisch wirken vor allem jene Szenen, in denen Lucia mit ihren Freunden agiert. Wunderbar treffend fängt Valenzuela Gioia die Unbeholfenheit und auch Peinlichkeit von ersten Begegnungen und Annäherungen ein, erzählt von der eigentümlichen Mischung zwischen Anziehung und Abwehr, Offensivität und Verunsicherung. Wenn Lucia schließlich, gestärkt durch die zarte Liebesbeziehung zu Olivia, den Mut findet, am Esstisch der Familie erstmals auszusprechen, dass sie Frauen liebt; wenn sie in größtmöglicher Offenheit ihre Angst ausdrückt, damit die Erwartungen der anderen zu enttäuschen, und um die Unterstützung ihrer Familie bittet, um glücklich werden zu dürfen; wenn die Kamera dabei ganz ruhig auf ihrem von Verletzlichkeit gezeichnetem Gesicht verbleibt, während sie um Worte ringt und ihre Tränen zu fließen beginnen – dann ist all das in seiner sorgsam gewählten Einfachheit ein wirklich großer, wahnsinnig berührender filmischer Moment.
Die Farbe des Winters
Ein Film von Cecilia Valenzuela Gioia
ARG 2016, 64 Minuten, FSK 0,
spanische Originalfassung mit deutschen Untertiteln,
Edition Salzgeber
Hier auf DVD.