Der Zauberer von Oz (1939)

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Seit Wochen begeistert das Fantasy-Musical „Wicked“ weltweit sein Publikum und macht so die Figuren und Motive von Lyman Frank Baums Kinderbuch „Der Zauberer von Oz“ (1900), auf dem der Film indirekt basiert, auch für jüngere Generationen von Kinobesucher:innen wieder populär. Als bekannteste Verfilmung des Stoffs darf nach wie vor Victor Flemings „Der Zauberer von Oz“ aus dem Jahr 1939 gelten. Die Geschichte des Mädchens Dorothy, die ein verherender Wirbelsturm von ihrer Heimat Kansas ins Wunderland Oz treibt, wo sie sich mit drei fabelhaften neuen Freunden erst auf die Suche nach dem mysteriösen Zauberer macht und dann nach einem Weg nach Hause, gilt heute als queerer filmischer Ur-Text. Beatrice Behn fragt: Warum eigentlich? Ist Oz wirklich ein unproblematischer Sehnsuchtsort? Und wie könnte eigentlich ein Oz für heute aussehen?

Foto: Warner Bros

Goodbye Yellow Brick Road

von Beatrice Behn

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet Victor Flemings „Der Zauberer von Oz“ (1939) zu einem der einflussreichsten queeren Werke der Filmgeschichte avancierte – wurden doch die politischen Untertöne des zu Grunde liegenden Kinderbuchs in der Filmadaption fast vollständig in einem Fiebertraum aus Technicolor-Farben und Allgemeinplätzen ertränkt.

Der Film „Der Zauberer von Oz“ ist eigentlich konzipiert als kinderfreundliche Coming-of-Age-Geschichte, in der das Mädchen Dorothy versehentlich in eine Zauberwelt transportiert wird und einen Weg zurück nach Hause finden muss. Ihre Reise wird zur Allegorie einer leicht mörderischen Selbstfindung an deren Ende sie versteht, dass es nirgends schöner ist als zuhause. Auf ihrer Reise in dem zutiefst andersartigen Oz trifft sie gute und böse Hexen und findet drei Freunde: den Blechmann, der ein Herz will, die Vogelscheuche, die ein Hirn will, und einen Löwen, der gern Mut hätte. Zusammen erfahren sie am Ende ihrer Reise, dass sie alle schon immer in Besitz dessen waren, was sie suchten.

Die Handlung an sich ist in ihren Details irritierend ambivalent und unscharf, bietet aber ein so großes Spektrum mythisch-symbolischer Allgemeinplätze, dass so ziemlich jede Person außerhalb der Norm Anleihen findet, sich repräsentiert zu sehen. Der perfekte Anker also für das damalige nicht-heterosexuelle Publikum, das ohnehin gewohnt war, sich quasi nie auf der Leinwand repräsentiert zu sehen und deshalb Filme „gegen den Strich“ und zwischen den Zeilen zu lesen. Denn man darf nicht vergessen: „Der Zauberer von Oz“ ist Produkt einer Zeit, in der Hollywood gerade frisch unter der Zensur des Hays Code stand, der die „moralische Integrität“ der Filmindustrie gewährleisten sollte und der jegliche Zurschaustellung von Homosexualität, ja sogar überhaupt von Sexualität verbot.

Und in der Tat: Selbst beim Lesen zwischen den Zeilen erscheint der Film überraschend asexuell. Als queer zu lesen ist vor allem die Devianz der drei männlichen Charaktere in Bezug auf die strikten Regeln heterosexueller Männlichkeit: Die Vogelscheuche sucht nach einer bestimmten Art von Rationalität und kognitiver Intelligenz, die relevanter Bestandteil der Idee einer ideellen Maskulinität ist, nur um am Ende zu verstehen, dass ihre Klugheit vor allem in ihrem Einfühlungsvermögen und ihrer Kreativität zu finden ist – in „weiblich“ konnotierten Eigenschaften also. Der Blechmann hadert mit dem Anspruch, dass Männer stoisch und emotionslos sein müssen und sehnt sich nach einem Herz, damit er Liebe erfahren und Kunst genießen kann. Noch spannender ist der Löwe, der wie ein klassischer Held voll toxischer Aggression auftritt, nur um sich als ängstlich herauszustellen und sofort in die einzig salonfähige Karikatur eines schwulen Mannes im Hollywood-Mainstream-Film dieser Zeit zu verwandeln: eine Sissy – effeminiert und irgendwann sogar mit Schleifchen im Haar.

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Aus heteronormativer Perspektive folgt die Handlung einer strafenden Logik, denn der Film liefert keine „Heilung“ für seine devianten Figuren. Der patriarchale Zauberer hat für die drei Freunde keine Lösung anzubieten, und am Ende ist es nur Dorothy, die bekommt, was sie will. „There is no place like home“ ist ihr Mantra, um zurück in die andere Welt zu finden.

Diese „Bestrafung“ funktioniert freilich nicht für ein queeres Publikum. Vielmehr tut sich in „Der Zauberer von Oz“ eine unendlich befriedigende Utopie auf, zeichnet der Film doch einen Zufluchtsort, ein echtes Zuhause für die Devianten. Die „Strafe der Nicht-Heilung“ wird dort zur Absolution für eine queere Existenz und der Möglichkeit auf ein Leben in einer liebevollen Gemeinschaft und in Akzeptanz mit sich selbst. Im Post-Dorothy-Oz ohne die bösen Hexen und den inkompetenten Zauberer, ohne äußere Regulation und Zwänge, kann man endlich sein, wer man will!

Kein Wunder also, dass zahlreiche Elemente des Films Einfluss auf die queere Kultur hatten. Die Frage „Bist du mit Dorthy befreundet?“ wurde bekanntermaßen rasch zum Erkennungssignal unter schwulen Männern. Und es ist nur ein kleiner symbolischer Schritt von der Ballade „Over the Rainbow“, die von Judy Garland so herzzerreißend im Film gesungen wird, bis zur Regenbogenfahne. Oz bot reichen Symbolismus, Hoffnung und letztendlich eine ultimate queere Utopie, in die wir auch heute noch gern mal sehnsüchtig eintauchen. Doch genau hier ist Obacht geboten!

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Denn eine Utopie als reinen Sehnsuchtsort zu verstehen, keine Kritik an bestehenden Verhältnissen zu entwickeln und aus dieser Ideen für das, was möglich wäre, ist verklärend und gefährlich – vor allem im derzeitigen internationalen politischen Klima. Eine solche Verflachung würde dem Kampf queeren Generationen vor uns einen Bärendienst erweisen und der bereits viel zu weit verbreiteten Entpolitisierung von Queerness Vorschub leisten.

Eine zeitgemäße Auseinandersetzung mit „Der Zauberer von Oz“ zeigt, dass der Film weiterhin reichhaltig als politisches, kulturelles und kritisches Mittel zur Verfügung steht. Aus heutiger Sicht bleiben die Themen rund um Ideen von Maskulinität relevant. Gender und Sexualität verstehen wir mittlerweile als unabhängige Entitäten, die aber beide weiterhin unter der vorherrschenden Idee heteronormativer Männlichkeit leiden. Der Blick hat sich zudem um das Wissen erweitert, dass auch andere Gruppen unter der Gewalt dieser Normen leiden. Es wäre nicht schwer die Ambivalenzen von Dorothys drei Freunden auf trans und non-binäre Menschen auszuweiten. Doch viel offensichtlicher erscheint der Ausschluss Dorothys selbst. Es stellt sich die Frage, weshalb sie beim queeren Lesen dieses Films so maßlos vergessen und verflacht wurde.

Eine spannende historische Doppeldeutigkeit stellt sich hier ein: Nicht nur die Dorothy im Film wird zwar vergöttert, aber nicht wirklich gesehen, sondern auch Judy Garland selbst. Als Schwulenikone gefeiert, war die Schauspielerin oft nur eine campe Projektionsfläche für das schwule Publikum. Judy war laut, glücklos in der Liebe, gesundheitlich gebeutelt und betäubte ihren Schmerz mit Alkohol und Drogen. In die Ideen einer Utopie wurde sie aber nie eingebaut. Und die gut belegten Vorwürfe, dass sie am Set als Minderjährige voller Drogen gepumpt, sexuell genötigt und geschlagen wurde, wurden stillschweigend ignoriert.

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Dorothy bleibt nicht in Oz, und es scheint, als wäre das ihre eigene Wahl gewesen. Doch sieht man einmal genauer hin, merkt man: Sie hatte keine Chance. Unter dem Druck der Behauptung, ihre Tante würde leiden und eventuell sterben, kehrt sie zurück, ohne selbst Nutznießerin der Utopie zu werden. Ihre Freunde, die sie letztendlich von den Zwängen der alten Ordnung befreit, tun nichts, um ihr zumindest noch eine echte Wahlmöglichkeit offen zu lassen. Letztendlich wird sie erst vom Zauberer belogen und bedrängt, dann von der „guten“ Instanz der regulierenden Übermutter Glinda belehrt und schließlich nach Hause geschickt. Was „home“ für Dorothy in Zukunft bedeutet, ist klar. Sie wird den Platz der Tante einnehmen, ohne jemals Raum zu haben ihre eigenen Wünsche auch nur auszuprobieren. Was und wie müsste Dorothy sein, um Teil dieser Utopie bleiben zu dürfen?

Ein Ansatz, der Oz zu einer Utopie macht, die nicht nur für schwule Männer zugänglich ist, wäre vielleicht eine Inklusion von Asexualität im Rahmen einer Öffnung für ein größeres Verständnis von Queerness. Eigentlich ist die Metapher von Oz so flexibel, dass sie für alle Buchstaben des Regenbogen-Alphabets etwas zu bieten hätte, vorausgesetzt dieser queere Sehnsuchtsort setzt sich mit seinen eigenen, inhärenten Vorurteilen auseinander.

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Und noch eine Frage, die sich aus heutiger Sicht stellt: Ist der utopische Sehnsuchtsort überhaupt wirklich noch immer die beste Wahl? Oder ist es nicht eher an der Zeit, die Grenzen zwischen Kansas und Oz einzureißen und einen Platz in allen Welten einzufordern, anstatt im Oz-Schrank zu verbleiben? Mehr Musical-Nummern mit Munchkins für Onkel Henrys depressives Gemüt! Und viel zu viele gelbe Blumen und Tee-Nachmittage mit dem Löwen für Tante Em! Und eine Kongregation von bitchy Twinks und butchy Dykes, die der Nachbarin einen Besuch abstatten. Übernehmt die fucking Nachbarschaft, nieder mit dem Leben in Sepia! Was geht noch?

Die Frage ist offen und wartet auf Antwort. Was kann „Der Zauberer von Oz“ für uns symbolisch und politisch bewegen? Wo geht die nächste Reise auf der Yellow Brick Road hin und wer darf mit?




Der Zauberer von Oz
von Victor Fleming
US 1939, 102 Minuten, FSK 0,
deutsche SF & englische OF mit deutschen UT

Als DVD und VoD