Bibliothek rosa Winkel: Interview mit Wolfram Setz

Bücher

Im Rahmen eines einzigartigen editorischen Projekts sichert die „Bibliothek rosa Winkel“ seit 1991 die historischen Texte der schwulen und queeren Emanzipationsbewegung. 76 Bände sind in den vergangenen 28 Jahren erschienen, außerdem sieben Bände in der „Sonderreihe Wissenschaft“. Initiator, Herausgeber und Mäzen dieser außergewöhnlichen Bibliothek, die verlegerisch mittlerweile bei Männerschwarm ihr Zuhause gefunden hat, ist der Historiker Wolfram Setz. Wir haben mit ihm gesprochen.

Bücher mit Geschichte

Interview: Joachim Bartholomae

Wolfram, Du warst schon seit einiger Zeit in der Schwulenbewegung aktiv und hast gewissermaßen im Verborgenen im Verlag rosa Winkel mitgearbeitet, bevor Du dann 1991 die „Bibliothek rosa Winkel“ aus der Taufe gehoben hast. 1991 sind drei Titel erschienen, in diesem Frühjahr Band 75 – allesamt Texte, die in der langen Geschichte der schwulen Emanzipationsbewegung eine Rolle gespielt haben, sorgfältig herausgegeben und mit einem Nachwort versehen. Die Bibliothek erschien anfangs im Verlag rosa Winkel, seit Band 26 dann im Männerschwarm Verlag. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Du die Bände der Bibliothek nicht nur inhaltlich gestaltest, sondern auch finanziell ermöglichst. Was motiviert Dich zu diesem außergewöhnlichen Engagement? Kann man heute noch mit Büchern die Welt verbessern?

Ich beginne mit einem Zitat. Kürzlich las ich in anderem Zusammenhang das Editorial zur ersten Nummer der „Schwuchtel“, die 1975 erschien. Darin heißt es: „Was wissen wir schon über unsere Geschichte? Wer kennt die vergessenen Gedichte, Romane und wissenschaftlichen Publikationen unserer ,Väter‘? Unser Bewußtsein ist abgeschnitten. Unsere Tradition verschüttet von patriarchalischer Geschichtsschreibung.“ Das beschreibt recht gut meine Motivation, interessante Texte wieder verfügbar zu machen.

1975 wurde auch der Verlag rosa Winkel gegründet, und Anfang der 1980er Jahre lernte ich Egmont Fassbinder kennen, der inzwischen den Verlag übernommen hatte. Von drei Projekten, die ich mit Egmont in den 80ern verwirklicht habe, waren zwei recht erfolgreich. Und so kam mir die Idee, weitere Projekte dieser Art in einer Reihe zu bündeln. Eine solche Reihe verpflichtet zu einer gewissen Stetigkeit und könnte, so hoffte ich, den einen oder anderen animieren, eigene Ideen einzubringen.

Der Drang, mehr über die „eigene Geschichte“ erfahren zu wollen, ist heute nicht mehr so stark wie 1975. Ablesbar ist das an der Höhe der Auflagen: 1991 begannen wir mit Auflagen von 1.000 Exemplaren, nach einigen Jahren waren es dann in der Regel nur noch 500, heutzutage nur noch 300 Exemplare.

Die programmatischen Sätze zur Reihe, die ich 1991 formuliert habe, beschreiben auch heute noch ganz gut, was für Bücher in der „Bibliothek“ erscheinen: „Angesiedelt am Schnittpunkt von Geschichte und Literatur, versammelt sie Zeugnisse unterschiedlichster literarischer Ausprägung, in denen sich das Lebensgefühl, die Selbst- und Fremdeinschätzung von Sodomitern, Urningen, Homosexuellen und Schwulen in verschiedenen Ländern und Epochen ausdrücken oder gesellschaftliche Wirklichkeiten und Utopien gespiegelt werden.“ Mit Büchern die Welt verbessern zu wollen, wie Du formulierst, käme mir nie in den Sinn, und politisch wirksam werden wollte ich höchstens ganz punktuell in der damaligen schwulenpolitischen Diskussion insofern, als ich möglichst schnell die damals kaum erreichbaren Schriften von Karl Heinrich Ulrichs und seinem „Vorgänger im Kampfe“ Heinrich Hössli herausbringen wollte.

Ist die „Bibliothek rosa Winkel“ so etwas wie Marcel Reich-Ranickis „Kanon“ – Klassiker, die der schwule Mann gelesen haben muss? Umfasst sie die Bücher, die in Deinem Coming-out, Deiner Entwicklung eine Rolle gespielt haben? Ist das eine Buch darunter, das Du mit auf die einsame Insel nehmen würdest?

Der Begriff „Kanon“, hier im Sinne von „Homo-Kanon“ (wenn es denn so etwas überhaupt gibt oder geben kann), macht für die „Bibliothek“ wenig Sinn, allein schon deshalb, weil Autoren wie Oscar Wilde oder André Gide, die dann sicher dazugehören würden, verlegerisch bestens betreut sind. Die „Bibliothek“ ist nicht nach einem festen Plan oder einem „Best of“-Prinzip entstanden, sondern organisch gewachsen. Von manchem Buch, das in der Reihe erschienen ist, hatte ich zuvor keine Ahnung, und andererseits hat sich manche Idee aus unterschiedlichen Gründen nicht oder noch nicht verwirklichen lassen.

Zu meinem Coming-out (als Spätberufener) kann ich keinen Bezug herstellen, und auch das eine Buch für die einsame Insel gibt es für mich nicht. Aber ich wandle den Aspekt mal etwas ab: Wenn ich irgendwohin nur ein Buch aus der „Bibliothek“ mitnehmen dürfte, wären das Ulrichs‘ „Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe“. Jedem, der die Liste der Bände durchgeht, wird auffallen, dass Ulrichs ungewöhnlich breit in der „Bibliothek“ vertreten ist: mit insgesamt 9 von 75 Bänden. Dieser Vorkämpfer hat mich von allen Mitstreitern in 150 Jahren Emanzipationsgeschichte am meisten beeindruckt. Als wir in München in den 90er Jahren um einen Platz zu seinen Ehren kämpften, waren seine damals gerade wieder aufgelegten „Forschungen“ – immerhin vier Bände mit über 1.300 Seiten – ein durchaus ‚gewichtiges‘ Argument. Ulrichs war buchstäblich wieder sichtbar geworden. Ich wage zu behaupten, dass die Neuausgabe seiner Schriften in München und auch bei den vielen nachfolgenden Ehrungen direkt oder indirekt eine Rolle gespielt hat. Ich will die Bände von, zu und über Ulrichs nicht im einzelnen aufführen, möchte aber eine schöne historische Volte aufzeigen. Ich habe dazu beitragen dürfen, dass Ulrichs‘ Handexemplar seiner Gedichtsammlung „Auf Bienchens Flügeln“, das vor wenigen Jahren bei einer Versteigerung auftauchte, nicht in die USA abwanderte, sondern in Deutschland verbleiben konnte. Es liegt jetzt im Frankfurter Goethehaus, gehört also zu den Schätzen des Freien Deutschen Hochstifts, der Organisation also, die vor gut 150 Jahren ihr Mitglied Karl Heinrich Ulrichs ausgeschlossen hat, weil die Satzung nur die Mitgliedschaft von Männern und Frauen vorsah, Ulrichs aber öffentlich bekannt habe, ein „Urning“ zu sein. Das Handexemplar also liegt jetzt in Frankfurt und soll bald als Digitalisat zur Verfügung stehen. Dass es auch in Buchform eine Neuausgabe der Gedichtsammlung nach diesem Handexemplar mit Ulrichs‘ vielen Ergänzungen geben musste, lag für mich auf der Hand.

76 Bände, darunter viele vergessene, entlegene und manchmal auch eigenartige Bücher, sind schon ein Kraftakt. Auch wenn Du die treibende Kraft dieses Projekts bist, gab es im Laufe der Jahre bestimmt auch viele Mitstreiter. Wie hast Du die gefunden?

Das große Interesse an der „eigenen Geschichte“ war vor einem Vierteljahrhundert auch im Wissenschaftsbereich ablesbar. Es gab an Universitäten entsprechende Forschungsschwerpunkte. Für den Bereich Literatur war das „Forum Homosexualität und Literatur“ von zentraler Bedeutung, das sich um den Siegener Professor Wolfgang Popp gebildet hatte. „Forum“ bedeutete vielerlei: regelmäßige Treffen (im „Waldschlößchen“ bei Göttingen), Tagungen in Siegen und nicht zuletzt eine wissenschaftliche Zeitschrift, von der über zwei Jahrzehnte hin 50 zum Teil recht umfangreiche Hefte erschienen sind. Den Fundus, aus dem die „Bibliothek“ schöpft, hat vor allem Marita Keilson-Lauritz in einer umfangreichen Studie und Materialsammlung zur Rolle der Literatur und Literaturkritik in der frühen Schwulenbewegung aufgearbeitet. Aus diesem Umkreis sind dann einige Projekte der „Bibliothek“ erwachsen. Diese Strukturen sind inzwischen leider weitgehend verschwunden. Zwei Mitstreiter, die durchaus unabhängig von dem beschriebenen Netzwerk waren, seien hervorgehoben: Manfred Herzer war schon früh eng mit dem Verlag rosa Winkel verbunden. Seine Neuausgabe von Magnus Hirschfelds „Berlins Drittes Geschlecht“ war schon länger in Arbeit und durfte die „Bibliothek“ eröffnen. Es folgten von ihm u.a. Studien zu Heinrich Hössli und Karl Maria Kertbeny. Den Amerikaner Hubert Kennedy, der 1988 seine Biographie zu Karl Heinrich Ulrichs veröffentlicht hatte, konnte ich für die Kommentierung der Ulrichs-Schriften gewinnen. Daraus entwickelte sich eine besonders gute und ertragreiche Zusammenarbeit, von der die stark erweiterte Neuausgabe seiner Ulrichs-Biographie ebenso Zeugnis ablegt wie Bücher von und über John Henry Mackay oder die Zeitschrift „Der Kreis“. Besonders gefreut habe ich mich, wenn nicht nur Vorschläge an mich herangetragen wurden, sondern damit zugleich die Bereitschaft verbunden war, ein entsprechendes Projekt zu verwirklichen. Da ließe sich so manche Geschichte erzählen …

Damit gibst Du mir das Stichwort zur nächsten Frage: Du hast einmal gesagt, Dich interessierten besonders solche Bücher, die eine „Geschichte“ haben. Ein schönes Beispiel dafür ist der Roman „Lucien“ von Binet-Valmer, von dem sich Marcel Proust ausdrücklich distanzierte. Gibt es noch mehr solcher Geschichten?

Ja, und zwar dutzendweise. Das ist ja der Anspruch der Reihe: nicht nur Texte wieder zugänglich zu machen, sondern auch die Autoren vorzustellen und die Wirkungsgeschichte der Werke nachzuzeichnen. Ich nenne nur zwei Beispiele: Der polnische Komponist Karol Szymanowski hat einen Roman mit dem programmatischen Titel „Ephebos“ geschrieben. Das Manuskript ist in den Feuern des Zweiten Weltkriegs untergegangen. Durch Zufall aber ist das zentrale Kapitel in russischer Übersetzung erhalten geblieben, weil Szymanowski es dem Epheben Boris Kochno mitgegeben hatte, der später zu einer zentralen Figur in der Geschichte der Ballets Russes wurde. Oder der Roman „Seelenwanderung“ von Jules Siber. Von Kurt Hiller höher geschätzt als Thomas Manns „Der Tod in Venedig“, war er total verschollen und in keiner Bibliothek vorhanden. Ein privater Sammler hat die Wiederveröffentlichung möglich gemacht.

Zu Deinem Beispiel Binet-Valmer und Proust: Proust sah sich z.B. auch gezwungen, den Titel seines Werkes zu ändern, weil Binet-Valmer ihm mit einem ähnlichen in die Quere gekommen war.

Auf dem deutschen Buchmarkt ist es Mode geworden, Bücher oft in recht kurzen Zeitabständen in neuen Übersetzungen herauszubringen; Du verwendest für Deine Neuausgaben die alten Übersetzungen in unveränderter Form, selbst z.B. bei Alec Scouffis Roman „Hotel zum Goldfisch“, dessen deutsche Erstausgabe an einigen Stellen deutlich gekürzt ist. Wie begründest Du diese Vorgehensweise?

Zunächst ein kurzer Hinweis zu den Relationen: Von den 76 erschienenen Bänden sind 23 Übersetzungen, also ein knappes Drittel, davon nur neun in „alten“ Übersetzungen. Dass diese „alten“ Übersetzungen nicht verändert werden, versteht sich für mich von selbst. Wenn ich einen Text und seine Geschichte wieder aufleben lassen will, kann ich nicht gleichzeitig den Text verändern. Außerdem liegt in einem zuweilen aus heutiger Sicht altertümelnden Sprachduktus ja auch ein gewisser Reiz. Wenn es zu der Übersetzung etwas anzumerken gilt, geschieht das im Nachwort. So auch bei Deinem Beispiel Scouffi, zu dem der Wunsch geäußert wurde, die gekürzten Passagen in Übersetzung sozusagen „nachgeliefert“ zu bekommen. Auf diese Kürzungen habe ich ebenso hingewiesen wie auf ein zweites Charakteristikum der Übersetzung: sie ist gegenüber dem Original durchgehend gestrafft, d.h. es fehlen immer wieder einzelne Wendungen, halbe oder ganze Sätze usw. Dieses Phänomen ist weiter verbreitet als man denkt, z.B. auch bei Hans Feists Übersetzung von René Crevels „Der schwierige Tod“ festzustellen, die im selben Jahr erschien wie die Übersetzung von Scouffis Roman und die eine ähnliche Tendenz zur Straffung aufweist. Sie ist bis heute unverändert im Handel. Bei einem solchen Befund nur einzelne „Stellen“ nachzuliefern, ergäbe ein schiefes Bild. Der völlig in Vergessenheit geratene Roman von Alec Scouffi ist jetzt wieder zu lesen, und zwar in einer sprachlich sehr gelungenen Form. Wenn ein Verlag irgendwann meint, eine Neuübersetzung sei angebracht – nur zu!

Bei den „alten“ Übersetzungen gibt es zuweilen ein ganz anderes Problem, dass nämlich die deutsche Version sprachlich unzureichend ist. Auch hierzu zwei Beispiele: 1905 erschien von Jean Bosc der Roman „Le Vice marin“, der „Bekenntnisse eines Matrosen“ verspricht. Die „einzig berechtigte Übersetzung ins Deutsche“ erschien anonym in Budapest und ist hierzulande nicht greifbar. Also eigentlich ein Fall für die „Bibliothek“. Das Deutsch dieser Übersetzung ist allerdings so grauenvoll, dass ich mich nicht zu einer Wiederveröffentlichung entschließen konnte. Das gilt auch für die Übersetzung der Erzählung „Wüstenträumer. Ein Freundschaftsidyll“, die Adolf Brand, der Verleger des „Eigenen“, 1922 veröffentlichte. Hinter dem Pseudonym Patrick Weston verbirgt sich der Autor Gerald Hamilton, der später bei Christopher Isherwood als Mr. Norris selbst zur literarischen Figur geworden ist. Insgesamt also ein interessante Geschichte. Die (wiederum anonyme) Übersetzung nennt sich zwar auch „einzig autorisiert“, ist aber leider einem (heutigen) Leser aus meiner Sicht kaum zuzumuten.

Diese Beispiele geben Anlass zur Hoffnung, dass Dir der Stoff für die Weiterführung der Bibliothek so schnell nicht ausgehen wird – vielleicht melden sich ja sogar Übersetzer, die Dein Engagement unterstützen wollen und Dir adäquate Übersetzungen für die genannten Titel anbieten. Zum Abschluss dieses Gesprächs noch eine Frage: Wenden sich die Bücher der „Bibliothek rosa Winkel“ in erster Linie an geschichtlich interessierte Leser, oder sind diese Stoffe aus längst vergangenen Welten auch für heutige Leser von Interesse?

Ich würde diese Unterscheidung nicht machen wollen. Wer liest, begibt sich doch stets auf Entdeckungsreise. Und in einer Reihe, die in großem Bogen Epochen und Räume berührt, lässt sich allerlei entdecken. Bücher aus „längst vergangenen Welten“ muten zuweilen doch recht modern an, wenn etwa in dem fast zweitausend Jahre alten „Erotes“ von Lukian über mannmännliche und mannweibliche Liebe diskutiert wird und Luigi Settembrini, einer der Heroen des italienischen Risorgimento, sich von dem antiken Text zu einer neuen, märchenhaften Version anregen lässt, die in der heutigen Gender-Diskussion ihren besonderen Reiz hat. Wenn Thomas Mann den Erstlingsroman von Fritz Geron Pernauhm lobte, lässt sich diese literarische Begegnung in den Räumen der „Bibliothek rosa Winkel“ wiederholen. So vergangen sind die Welten ja oft gar nicht. Auch die in den 1970er Jahren neu erstandene Schwulenbewegung ist inzwischen „historisch“ geworden und vielfach in der „Bibliothek“ vertreten, ich nenne nur die Namen Felix Rexhausen und Peter Schult, die Glossen von Elmar Kraushaar („Der homosexuelle Mann …“) und die Erzählungen von Friedrich Kröhnke („Ende der Fuchsjagd“) oder den neuesten Band der Reihe, Ulrike Heiders „Der Schwule und der Spießer“: ein persönlicher und zugleich analysierender (Rück-)Blick auf  „Provokation, Sex und Poesie in der Schwulenbewegung“.



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