Anima – Die Kleider meines Vaters

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Nach dem Tod ihres Vaters bekommt die Regisseurin Uli Decker von der Mutter seine „geheime Kiste“ als Erbe ausgehändigt. Der Inhalt – hochhackige Schuhe, künstliche Fingernägel, Schminke und eine Echthaarperücke – verändert ihren Blick auf den Vater, ihre Familie und die Gesellschaft, in der sie aufwuchs. In „Anima – Die Kleider meines Vaters“ erzählt sie die berührende Lebensgeschichte ihres Vaters als tragisch-komische Achterbahnfahrt durch animierte und dokumentarische Bilderwelten. Verena Schmoeller hat den Film, der dieses Jahr mit dem Max-Ophüls-Preis für den Besten Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde, für uns gesehen – und ist von der posthumen Begegnung zwischen Vater und Tochter sehr berührt.

Foto: farbfilm Verleih

Bilder im Familienalbum, neu arrangiert

von Verena Schmoeller

Zwei Töchter erfahren am Sterbebett ihres Vaters von dessen Geheimnis, können dann aber nicht mehr mit ihm darüber sprechen. Er sei Transvestit gewesen, erklärt ihnen die Mutter. Uli und Cordula haben viele Fragen, die sie ihrem Vater gerne gestellt hätten. Sie versuchen, ihr Bild von ihm neu zusammenzusetzen.

Die Regisseurin Uli Decker hat schon immer viel nachgedacht und viele Fragen gestellt. Sie wollte Papst werden oder zumindest Pirat, oder als Ritter gegen Drachen kämpfen. All das, was sie spannend fand und ihr Spaß machte, war in ihrer Kindheit den Jungs vorbehalten. Sie sollte Kleider anziehen, wollte aber Hosen, eine Lederhose statt Dirndl, und dafür hat sie lautstark gekämpft. Aber sie kam sich seltsam dabei vor, „abartig“, wie sie sagt. Sie hatte Angst davor, anders zu sein. Gesprochen hat sie darüber fast nicht.

Dass ihr Vater ähnliche Sehnsüchte wie sie hatte, findet sie erst nach der Enthüllung der Mutter und dem Tod des Vaters heraus. Im Zusammensetzen der Puzzleteile seiner Geschichte erzählt sie auch ihre ganz persönliche Geschichte. Sie lässt uns dabei zuschauen, wie sie Kisten öffnet und in alten Ordnern und Fotobüchern blättert, sie spricht mit ihrer Mutter und ihrer Schwester, lässt diese sich öffnen und ihre – auch ganz intime – Sichtweise erzählen, baut dabei Spannung auf und findet versöhnliche Momente wie die des Zweifelns.

Für jeden Gedanken und jede Geschichte sucht sie nach den richtigen Bildern, dem richtigen Ton. Gerade die Bilder, die „Anima – Die Kleider meines Vaters“ auf die Leinwand wirft, sind besonders. An vielen Stellen sind es nur Ausschnitte, die bewusst eng gewählt sind: Von einer Straße sehen wir nur eine Häuserzeile, nicht deren Anfang oder eine Wegbiegung, der Blick ist immer ein enger, ein Ausschnitt von Leben eben, der deutlich macht: Das ist nur ein Teil dessen, was die erfahrbare Realität ist, ein Blickwinkel, eine Sichtweise.

Dass Uli Decker eine andere Perspektive auf das Leben ihres Vaters, vielleicht aber auch das Leben im Allgemeinen, die Welt, aus der sie kommt, einnehmen will, macht schon das bemerkenswerte Titelbild deutlich, das am Anfang des Films steht: eine kleine Menschenmenge, fotografiert in Schwarzweiß und freigestellt über ein farbiges Bild gelegt. Die Leute schauen auf die Landschaft, ein gelb leuchtendes Feld, eine Baumgruppe im Abendlicht, dahinter erhebt sich der Filmtitel, und noch weiter im Hintergrund ist eine Bergkette und der blaue Himmel zu sehen. Eine Frau mit Fernglas – ebenfalls die freigestellte Figur einer Schwarzweiß-Fotografie – kommt hinter den Bergen hervor und blickt von der Seite aus auf den Titel des Films. Ein Bild, das treffend andeutet, was der Film erzählen wird.

Immer wieder arbeitet „Anima“ mit solchen Collagen und Animationen alter Familienbilder. Sie wirken, als hätte das Mädchen Bilder aus dem Fotoalbum genommen, ausgeschnitten und neu arrangiert. Man denkt an Kinderbilder und Poesiealben und eben die Vorstellung, die sich Kinder von der Welt machen. Und doch passiert eigentlich etwas ganz anderes: Uli Decker nimmt die Erinnerungen, die sie aus ihrer Kindheit und Jugend hat ebenso wie die Erzählungen und Bilder aus dem Leben ihres Vaters und setzt diese neu zusammen, erzählt die Familiengeschichte neu, versucht, sich ein neues Bild zu machen von dem, was war – was wirklich war.

Foto: farbfilm Verleih

Häufig ist im Film die Rede vom Bild, dem man entsprechen sollte oder musste, die Erwartung der anderen, das, was man darf, was normal war. Wenn Uli Decker Freunde der Familie fragt, dann sagen sie: Helmut Decker sei genau das gewesen, „nicht auffallend, normal vielleicht“. Und so hätten sie, sagt die Regisseurin aus dem Off, „das Stück von der makellosen bürgerlichen Familie“ gespielt. Damit zeichnet der Film nicht nur die Geschichte einer Familie, sondern auch die einer Gesellschaft nach. Er bindet zeitgenössische Archivaufnahmen mit ein, blickt auf den Fernseher, der „voller Männer war, die sagten, wo’s langgeht“. Die Frauen dagegen sollten sich um Kinder und Haushalt kümmern, den Männern den Rücken freihalten und nebenbei gut aussehen. Zwischen die Fernsehbilder hat die Filmemacherin das private Foto von zwei Mädchen gesetzt, die mit Schrecken auf etwas blicken – das Fernsehgerät, die Welt, wie sie war? „Unter solchen Bedingungen wollte ich kein Mädchen sein“, sagt Uli Decker.

Im Film lässt sie auch den Vater selbst sprechen, der – so scheint es – zeit seines Lebens ausführlich Tagebuch geschrieben und dort das Geschehene, seine Gedanken, Träume und Sehnsüchte festgehalten hat. Die Texte sind konkret, präzise und schön formuliert, so dass man eigentlich nicht aufhören will zuzuhören. Darüber hinaus aber entwerfen sie eben diese zweite Version von Wirklichkeit und offenbaren das Doppelleben, das der Vater geführt hat. Die andere Sichtweise wird dann besonders deutlich, wenn die Regisseurin aus dem Off zunächst ihre Version erzählt und dann sein Tagebuch zitiert. Beide Versionen stecken voller Liebe und Zuneigung für den anderen – auch wenn deutlich wird, dass das nie ausgesprochen, nie miteinander gelebt wurde. Die Kommunikation findet nun erst posthum im Film statt. Als Zuschauer:in bei diesem Prozess dabei zu sein, das miterleben zu dürfen, fühlt sich an wie ein großes Privileg – und deshalb berührt der Film in ganz besonderer Weise.




Anima – Die Kleider meines Vaters
von Uli Decker
DE 2022, 94 Minuten, FSK 6,
deutsche OF
farbfilm Verleih

Ab 20. Oktober im Kino.

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