All the Beauty and the Bloodshed

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Nan Goldin gilt als eine der wichtigsten Fotograf:innen der letzten 50 Jahre. Ihre „Ballade von der sexuellen Abhängigkeit“ (1986) mit Bildern aus ihrem sozialen Umfeld ist ein Schlüsselwerk der Fotokunst des 20. Jahrhunderts. „Citizenfour“-Regisseurin Laura Poitras porträtiert Goldin in ihrem neuen Film als Chronistin queeren Lebens seit den 1970ern und als politische Kämpferin, die ihren Status in den letzten Jahren vor allem gegen das problematische Treiben eines US-Pharmakonzerns eingesetzt hat. Im Herbst wurde „All the Beauty and the Bloodshed“ in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet, jetzt ist er in den deutschen Kino zu sehen. Cosima Lutz über einen Film, der Aktivismus als natürliche Fortsetzung eines künstlerischen Ausbruchs aus der normativen Hölle versteht.

Foto: Nan Goldin

Beziehungsbilder

von Cosima Lutz

Sie habe die Fotografie oft als Sublimation von Sex gesehen, sagt Nan Goldin einmal, „oft war sie sogar besser als Sex“. Die Wärme ihrer rauchigen Stimme hat den ganzen Film zusammengehalten, seine grausamen und schönen Partikel auf die zärtlichste und schmerzhafteste Weise umarmt, doch am Ende klingt Nan Goldin müde. In dieser Gesellschaft, murmelt die derzeit wohl erfolgreichste Fotokünstlerin der Welt, würden die falschen Dinge geheim gehalten, und das zerstöre Menschen. „Lass uns für eine Minute ausschalten“, bittet sie ihre Gesprächspartnerin.

Bis zu diesem fast sakralen Verstummen, bis zu dieser Erschöpftheit hat das Du ihrer Rede, die Dokumentarfilmerin Laura Poitras, so intensiv zugehört, dass diese in ihrem eigenen Filmsujet fast verschwunden ist. Der mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnete Bilder- und Erzählflow „All the Beauty and the Bloodshed“ schmiegt sich so nah an Goldins ursprüngliche Vorführpraxis der mit Musik unterlegten Diaschau an, dass das Filmbild immersiv mit seinem Thema verschmilzt.

Einen streng journalistischen Ansatz verfolgt Poitras, 2015 Oscar-Gewinnerin für „Citizenfour“ über Edward Snowden, also genauso wenig, wie Nan Goldins Fotografien queeren Lebens mit dem Label „dokumentarisch“ vollständig beschrieben sind. Ihre schnappschussartig wirkenden Kompositionen brachten ihr vielmehr Vergleiche mit Malern wie Caravaggio ein, aber solche Adelung haben ihre Bilder gar nicht nötig. Sie genügen sich selbst, wie der weiße Leib der Schriftstellerin Thora Siemsen, den Goldin in einem selbstvergessen-selbstbestimmten Moment in neugieriger Zwiesprache mit dem eigenen Spiegelbild ablichtete.

Ihre bekannteste Arbeit, die „Ballade von der sexuellen Abhängigkeit“ (1980-86), zeigt in einer ungeschönten, rauschhaften Feierlichkeit Menschen auf zerwühlten Betten, körperlich einander nah, aber oft abgewandt, manchmal einsam. Und immer wieder porträtiert sich die Fotografin selbst. Sie ist Teil der LGBT-Szene in Boston, New York, später auch Berlin, verdient sich Geld als Gogo-Tänzerin, Bardame und Sexarbeiterin. Mal lebt sie mit Frauen zusammen, mal lichtet sie sich nach einer Prügelattacke ihres Exfreundes mit Blutergüssen unter den geschwollenen Augen ab.

Um ein Haar wären die Fotos der „Ballade“ einem Brandanschlag ihres Ex-Partners zum Opfer gefallen; später, als sie ein Buch mit einer Auswahl einiger Fotos aus der „Ballade“ veröffentlichte, versuchte ihr Vater, das Erscheinen zu torpedieren. Dieses Buch und „all die Männer, die es verhindern wollten…“, seufzt sie einmal, ohne den Satz zu vervollständigen. Als kämen ihr diese Vernichtungsanstrengungen einzelner hilfloser Männer fast lächerlich vor im Vergleich zur großen Katastrophe, die bald darauf über ihren Freundeskreis hereinbrach. Nach einem Entzug 1988 kehrt sie in „ihre Gemeinde“ in New York zurück, und der vorher so beneidenswert lebenspralle, verspielte Film verdüstert sich: Die Aids-Epidemie wird zur Apokalypse, ihre Freunde sind entweder tot oder sterbenskrank. „Es war wie der Zweite Weltkrieg“.

Den Blick will man keine Sekunde abwenden von all diesen majestätischen und verwundbaren, aufbegehrenden und verlöschenden Körpern. Die Liebe, die Goldin in diesen Blick legt, überträgt sich noch heute, in Zeiten, in denen jede*r jederzeit und überall auf algorithmisch kuratierte Fotos Zugriff hat. Doch statt filtergenerierter Glätte feiern sie das Raue und die Pracht des Unperfekten, Körper, die sich unverblümt einander schenkten. Statt Likes gab es bei den Live-Diashows Applaus oder Buh-Rufe, wobei das Publikum zum großen Teil aus den Abgelichteten selbst bestand. Manche ihrer Freunde hätten ihre Fotos zerrissen, doch das war ok für Goldin, die ja wollte, „dass sie stolz darauf waren, Teil des Werks zu sein“.

Foto: Nan Goldin

Ihre Bilder, noch lange vor Aufkommen des „Heroin Chic“ in der Modefotografie, stießen anfangs auf große Skepsis in der etablierten Kunstwelt: Anspruchsvolle Fotografie, sagt Goldin, hatte Schwarzweiß zu sein, und man stellte auch nicht sein eigenes Leben aus. Doch sie marschierte einfach so lange in Galerien, bis sie verstanden wurde. Goldins Bilder entfalten in ihrer Verweisfunktion aufs eigene Leben eine zeitlose Kraft, enthüllen dabei aber auch einen wesentlichen Unterschied zu heutiger, hochkontrollierer Selbstentblößung: weil nicht das Ausstellen des eigenen, flirrenden, perfekt konsumablen So-und-nicht-anders-Seins diesen Bildern Aktualität verleiht, sondern ihr Ursprung aus dem Bedürfnis heraus, einer normativen Hölle zu entkommen und sich mit Anderen neu und freier aufzustellen.

Das Tilgen des Nonkonformen, das Unter-den-Teppich-Kehren, die perfekte Fassade: Schon in den frühen 1960er Jahren war es für die innerlich längst auf Abstand zu ihrer dysfunktionalen Familie in der Washingtoner Vorstadt gegangene Nan der Urgrund allen Übels, und es wurde zum Antrieb ihrer Kunst. Die größte Sorge der Eltern war es, dass die Nachbarn die lautstarken Streits mit ihrer ältesten Tochter, Nans Schwester Barbara, hören könnten. Sogar den Suizid des temperamentvollen Teenagers verleugneten Vater und Mutter: Es war ein Unfall, so lautete die offizielle Sprachregelung, an die sich Nan, die Jüngste, und ihre zwei älteren Brüder zu halten hatten.

Wenn du damit aufwächst, dass dies nie geschehen ist, fragt sie, „wie sollst du dir jemals selbst vertrauen?“ Erst durch ihre Freunde und durch die Fotografie habe sie Amerika entkommen können: „Fotografieren war die einzige Sprache, die ich damals sprach. Ein Foto zu machen, ist eine Art Schutz“. Ihr Jugendfreund David Armstrong wurde zu ihrer ersten Muse, man erkannte und befreite einander. Im Talent, sich mit anderen Menschen zu verbinden, auch und gerade mit denjenigen, die womöglich erst einmal ganz anders scheinen als das, was man bisher kannte, darin liegt eine der Quellen für Nan Goldins künstlerische Arbeit: „Meine Fotos“, sagte sie kürzlich im Interview mit dem SZ-Magazin, „entstammen nicht der Beobachtung, sie resultieren aus Beziehungen“.

Foto: Nan Goldin

Poitras’ Film, dem wenig an der reinen Betrachtung der Ästhethik der Fotos gelegen ist, sondern diese immer erzählerisch einbindet, macht diese Aussage plausibel. So, wie sich Poitras ihrem Thema anverwandelt, so fügen sich auch die beiden Erzählstränge des Films organisch aneinander: zum einen die Biografie Goldins, die zur Autobiografie wird, weil die Porträtierte selbst aus dem Off oder vor der Kamera ständig ihre Erinnerungen und Bilder kommentiert; andererseits Goldins Kampf gegen die Opioidkrise in Amerika, auf den der Film wie auf ein logisches Ziel zusteuert, dabei aber immer wieder in Goldins Vergangenheit zurückspringt.

Seit 2019 begleitete die Regisseurin Goldins kurz zuvor begonnenen Aktivismus gegen die Pharmaindustriellenfamilie Sackler: „Ich hasse diese Leute“, sagt Nan Goldin. Reich geworden durch das aggressiv beworbene und schnell abhängig machende Schmerzmittel Oxycontin, spendeten die sich philanthropisch gebenden Sacklers den großen Kunstmuseen dieser Welt hohe Geldbeträge, von denen auch Nan Goldin unfreiweillig profitierte. Als auch sie nach einer Hand-Operation das Mittel verschrieben bekam und sofort abhängig wurde, beschloss sie, gegen die Pharmafirma vorzugehen: mit den Mitteln der Kunst und durch die Kraft ihres Status als Künstlerin. Denn anders als ihr gelang und gelingt es Hunderttausenden Amerikaner:innen nicht, von dem Mittel loszukommen, fast eine Million Menschen sind seit 1999 an einer Überdosis gestorben. Mit ihren Mitstreiter:innen gelang es Goldin, mit Aufsehen erregenden Kunstaktionen – etwa einem Gestöber aus gefälschten Opioid-Rezepten – Druck auf Häuser wie das MoMa oder den Louvre auszuüben. Ihr Werk hat Gewicht, es ist ihre Stimme: Nach und nach distanzierten sich immer mehr Museen von den Sacklers, lehnten zunächst weitere Spenden ab und verbannten dann auch den Namen aus ihren Hallen. Man hätte zwar gerne mehr erfahren von den Entscheidungsprozessen der Museumsdirektionen, und auch die Sacklers bleiben weitgehend stumme Feindbilder. Aber was zählt für Goldin und für Poitras, ist das Ergebnis: Der Feind ist besiegt.

Diesen Namen hingegen wird niemand vergessen, der den Film gesehen hat: Barbara Holly Goldin. Der Titel „All the Beauty and the Bloodshed“ zitiert eine Notiz aus den Krankenakten der als „geisteskrank“ gebrandmarkten, in Wahrheit nur völlig allein gelassenen älteren Schwester. Diese habe ihr, sagt Nan, mit ihrer Rebellion „den Weg gezeigt“. Im letzten Bild taucht Goldins Lockenkopf hinter ihrem Fotoapparat auf, sie hat gerade etwas festgehalten, für das sich ihr ganzer Kampf, ihr ganzes Leben gelohnt hat, eine Tafel, auf der der Name Sackler getilgt ist. Kurz schaut sie über ihren Apparat hinweg in Poitras’ Kamera, wie zu einer Schwester, die als einzige den Witz versteht, den man gerade gemacht hat, und in ihren Augen funkelt Glück.




All the Beauty and the Bloodshed
von Laura Poitras
US 2022, 122 Minuten, FSK 12,
englische OF mit deutschen UT

Ab 25. Mai im Kino.