Das Gesetz der Begierde (1987)
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„Das Gesetz der Begierde“ war 1987 Pedro Almodóvars erster Film, der in Deutschland gezeigt wurde – und gewann auf der Berlinale damals den ersten Teddy-Award überhaupt. Die Vierecksgeschichte zwischen einem narzisstischen Regisseur, seiner trans Schwester, seinem viel jüngeren Liebhaber und einem besessenen Stalker steht wie kein anderer Film für die wilden Jahre des frühen Almodóvar-Kinos: provokant, queer, enthusiastisch – „und voller libidinöser Energie“, wie sissy-Autor Philipp Stadelmaier schreibt. Die wahre Schönheit des Films liege dabei in den Besonderheiten der Figuren: „in einer Form von Liebe und Sanftmut, die mitten in diesem wilden Leben gedeiht.“

Bild: Tobis
Rette mich, wer kann!
Madrid, Mitte der Achtzigerjahre. Pablo Quintero (Eusebio Poncela), ein junger, schwuler Regisseur à la mode, der zuletzt mit trashigen Titeln wie „Remake“, „Paradigma der Muschel“ oder „Mundgeruch“ Furore machte, feiert in Madrid die Premiere seines neuesten Films. In ihm masturbiert ein Mann vor einem anderen, älteren, der unsichtbar bleibt und aus dem Off heraus Anweisungen gibt. Die Zuschauer:innen sind begeistert. Unter ihnen: ein junger Mann namens Antonio (Antonio Banderas), mit zurückgegeltem Haar und Poloshirt, den das Gesehene so erregt, dass er nach der Vorführung auf den Toiletten verschwindet, um ebenfalls zu masturbieren. Als würde er sich dabei, mit geschlossenen Augen, dem eigentlichen Träger der Stimme im Film hingeben, der aus dem Verborgenen heraus die Szene dirigierte: Pablo, dem Regisseur, der in seinen Filmen sein Begehren auslebt – und in der Folge zum Objekt von Antonios Begehren werden wird, mit komplizierten Folgen für alle Beteiligten.
„La ley del deseo“, „Das Gesetz der Begierde“: Kein anderer Titel von Pedro Almodóvars formuliert so deutlich ein „Gesetz“ seines Kinos. Zumindest mit Bezug auf die Filme dieser frühen Phase seiner Karriere, die 1974 mit Undergroundkurzfilmen beginnt, nach dem Tod Francos an Fahrt aufnimmt und ab Beginn der Achtziger zu einer ersten vollen Entfaltung gelangt, getragen von der Movida Madrileña, jenem späten Goldenen Zeitalter der Gegenkultur des 20. Jahrhunderts. Die Filme sind wie ihre Epoche: wild, schrill und provokant, queer und anti-(hetero-)normnativ, enthusiastisch und voll von libidinöser Energie. Es handelt sich außerdem um den ersten von bislang drei „autobiografischen“ Almodóvar-Filmen, die sich über einen Zeitraum von 30 Jahren verteilen und in deren Zentrum jeweils ein schwuler Filmemacher steht. So treffen wir nach Pablo Quintero in „Die schlechte Erziehung“ (2004) auf Enrique Goded (Fele Martínez) und in „Leid und Herrlichkeit“ (2019) auf Salvador Mallo (Banderas).
Pablo ist es gewohnt, die Kontrolle zu behalten, im Leben wie im Kino. Die Anfangsszene, in der die (Regie-)Stimme in Pablos letztem Film Anweisungen gibt, spricht für sich. Für das Drehbuch zu seinem nächsten Projekt bedient er sich außerdem bei der Lebensgeschichte seiner Schwester Tina (Carmen Maura), einer trans Frau, die Schauspielerin ist und sich um Ada kümmert (Manuela Velasco), die minderjährige Tochter einer verreisten Freundin. Pablo liebt Tina, der er in dem Film die Hauptrolle geben will und die er schon in einer Theaterinszenierung von Cocteaus „La voix humaine“ besetzt (das Stück, aus dem Almodóvar 2020 einen Kurzfilm mit Tilda Swinton machen wird, „The Human Voice“); er nutzt sie aber auch aus. Ähnlich verhält es sich mit seiner Beziehung zu Juan (Miguel Molina), einem Jungen, den Pablo liebt und der Pablo liebt – nur nicht so, wie Pablo sich das vorstellt. Nachdem Juan über den Sommer Madrid verlassen hat, schickt Pablo ihm Briefe, die er, in genau diesem Wortlaut, von seinem Liebhaber erhalten will: Juan soll sie nur unterzeichnen und an Pablo zurückschicken. Die Inszenierung dieses Briefwechsels macht klar, welcher Wunsch sich hinter Pablos Narzissmus verbirgt: Endlich einmal zum Objekt der Begierde eines anderen zu werden. Sich begehren zu lassen. Aber eben: nur zu den eigenen Bedingungen.
Das Kino unterwirft sich alles. Es speist sich aus dem Leben der anderen und greift inszenierend in dieses Leben ein. Es schreibt vor. Es ist das Gesetz, das Gesetz der Begierde. Gierig, begierig, Anspruch auf alles erhebend. Das Kino steht am Anfang des Films, als Film im Film, als Prinzip. So auch in jenen Filmen, die Almodóvar vor und nach dem „Gesetz“ dreht. In „Matador“ (1986) masturbiert der mordende Torero während des Vorspanns vor einem Fernseher, in dem Gewalt- und Horrorfilme laufen. Und „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“ (1988) beginnt damit, dass eine Schauspielerin und ein Schauspieler, deren Beziehung gerade in die Brüche geht, in einem Tonstudio eine Szene aus Nicholas Rays romantischem Western „Johnny Guitar“ (1954) auf Spanisch post-synchronisieren. Womit Almodóvar ein Motiv aus dem „Gesetz“ wiederaufgreift und verfeinert: Auch hier wird die Szene aus Pablos Film „nachvertont“, der Dialog von zwei Männern in einem Tonstudio eingesprochen. Man kann sagen: Noch dieser Aspekt des Begehrens – der Sprache und der Stimme – wird ästhetisch geformt und künstlerisch beherrscht; noch hier „diktiert“ das Kino seine Gesetze.

Bild: Tobis
Indem Antonio nun eine regelrechte Besessenheit mit Bezug auf Pablo entwickelt und sich immer rabiater und bisweilen gegen Pablos Widerstand in dessen Bett und Leben drängt, scheint sich das vom Kino dominierte Leben an der Dominanz des Kinos zu rächen: Antonio entreißt dem Filmemacher die Kontrolle und macht ihn zum Objekt einer Leidenschaft, der er sich nur noch hingeben kann. Und doch verlassen wir dabei nie die Domäne des Kinos und seiner Mächte, sind Kunst und Leben untrennbar verflochten. Ein zentrales Motiv ist Pablos Schreibmaschine, die ebenso dem Schreiben des Drehbuchs wie persönlicher Briefe dient: an Juan und später an Antonio. Letztere sind unterzeichnet mit „Laura P.“, der Hauptfigur von Pablos neuem Film (die Laura Palmer aus „Twin Peaks“ gibt es erst drei Jahre später). Nachdem Antonio Juan von einem Felsen am Meer stößt, beginnt eine polizeiliche Ermittlung, bei der die Hauptverdächtige eine (Film-)Figur ist, die gar nicht existiert.
Aus diesem Grund mag der Film, den wir sehen, nichts als eine weitere Phantasie Pablos sein: eine von ihm imaginierte und damit weiter von ihm kontrollierte Erfüllung seines Wunsches, die Kontrolle zu verlieren – oder ein mentaler Vorentwurf zu dem Film, den er gerade schreibt. Sowohl Laura P. als auch Antonio sind maßlos eifersüchtig, so dass die Grenzen zwischen ihnen verwischen (Laura P. wird verdächtigt / Antonio ist der Täter). Und wenn die polizeiliche Intrige, der wir folgen, so zusammengeschustert wirkt, dann vielleicht deshalb, weil Pablo das Drehbuch dazu nie beenden kann (die Schreibmaschine geht am Ende in Flammen auf). Noch wenn in der letzten, großartigen Einstellung die anderen Figuren über Feuerleitern zu einem brennenden Apartment klettern, um den dort eingesperrten Pablo zu retten, bewegen wir uns im Narzissmus des Regisseurs: Alles muss ihm zur Rettung kommen, während die von unten gefilmte Häuserfassade wie eine riesige Kinoleinwand wirkt. Pablos Leben verschmilzt mit seiner künstlerischen Vision. Das Leben rächt sich, doch das Kino dominiert weiterhin.
Diesen „Triumph“ des Kinos teilt „Das Gesetz der Begierde“ mit der „Schlechten Erziehung“, die viele Motive des früheren Films wiederaufnimmt, sowie mit „Leid und Herrlichkeit“. Enrique Goded und Salvador Mallo drehen am Ende wieder „mit Leidenschaft“ Filme, was auch von Pablo Quintero zu vermuten ist. Die drei Filme teilen außerdem einen Bezug zur Movida. Doch die zwei späteren können auf diese Zeit nur noch zurückblicken. In „Die schlechte Erziehung“ von 2004 werden die Achtzigerjahre in einem kühlen, abstrakt-verschachtelten erzählerischen Mosaik aufgelöst, während sie in „Leid und Herrlichkeit“ nur noch eine 30 Jahre alte Erinnerung sind. Im „Gesetz“ befinden wir uns hingegen am Puls einer wilden Gegenwart. Die Einstellungen, die beim späteren Almodóvar einen sterilen und dekorativen Charakter annehmen, sind hier noch mit prallem Leben gefüllt. Der Film ist bewohnt, die Figuren sind in ihrer Zeit zuhause, die – dank des Primats des Kinos, der Kunst, des Pop – eine Zeit befreiender Transgressionen ist.

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Ada, das Kind, liest SM-Comics; Tina, die trans Frau, hatte als Junge erst eine Affäre mit ihrem Priester im „Collegio“, dann eine weitere mit ihrem eigenen, leidenschaftlich geliebten Vater, dem zuliebe sie die Transition vornahm. Das Faszinierende und Luzide am frühen Almodóvar ist jedoch, dass er stets auch die Kehrseite des Transgressiven im Blick hat. Das Begehren dort zu suchen, wo es nicht mehr oder noch nicht ist (im Bereich der Vergewaltigung, des Masochismus, des Schmerzes, des Inzests), bleibt ein progressiver Akt und eine Überwindung heteronormativ-traditioneller Lebensformen und Moralvorstellungen, zeigt aber gleichsam eine Fortführung der patriarchalen Strukturen des franquistischen Spaniens an, eine „Sehnsucht“ nach Unterdrückung, die das neue, queere Begehren begleitet, ohne von ihm geschieden werden zu können. Dies wurde schon in Almodóvars erstem Spielfilm „Pepi, Luci, Bom und der Rest der Bande“ (1980) deutlich, der eine masochistischen Frau (Luci) zeigt, die nach ihrer „Befreiung“ in einer lesbischen Beziehung doch noch mit ihrem Ehemann glücklich wird, als dieser bereit ist, sie „endlich“ zu vergewaltigen.
Ob er nicht etwas reaktionär sei, fragt Pablo Antonio, als dieser den ungesunden Lebenswandel des Filmemachers kritisiert. „Ich bin, wie man sein muss“, antwortet Antonio. Wie in „Matador“, „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“ und „Fessle mich!“ (1990) spielt Banderas hier einen jungen, impulsiven Mann aus der konservativen Bourgeoisie, der mit einer kontrollsüchtigen Mutter des Grauens geschlagen ist und in dem sich ein queeres Begehren und eine zwanghafte (Hetero-)Normalität zu einem explosiven, von krassen Gegensätzen bestimmten Gemisch verbindet.

Bild: Tobis
Die wahren Schönheiten des Films liegen aber weniger im Triumph des Kinos, im Spiel mit der Transgression oder der Besessenheit der Figuren. Sie liegen vielmehr in deren Besonderheiten: in einer Form von Liebe und Sanftmut, die mitten in diesem wilden Leben gedeiht und dieses ausgestaltet, also lebendig, gut und überhaupt erst lebenswert macht. Da wäre Eusebio Poncela (der schon in „Matador“ zu sehen ist), eine wunderbare Erscheinung, dessen kühle Arroganz von Melancholie und Verletzlichkeit unterfüttert ist. Da wäre der cinephile Arzt, der mit Pablo und Tina gegen die Polizei konspiriert, und da wäre jener humorvolle, dem Kokain nicht abgeneigte Polizist (Fernando Guillén, der in „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“ wieder auftaucht). Ein anderer Polizist (dem Kokain gänzlich abgeneigt und mit sehr viel weniger Humor) faucht Tina an: „No eres una mujer!“, worauf diese ihm eine reinhaut – ein perfektes, auf den Punkt gebrachtes trans-Statement. Da sind die wunderbaren Szenen mit dem schwulen Filmemacher, seiner trans Schwester und der neunjährigen Ada, die sie „adoptiert“ haben; gemeinsam formen sie eine Patchwork-Familie jenseits aller traditioneller Strukturen.
Und da ist jene magische Szene, in der sich Carmen Maura in einer heißen Sommernacht auf den Straßen Madrids zur Abkühlung mit einem Feuerwehrschlauch abspritzen lässt, dessen Strahl sich wie ein Bogen in der Einstellung erhebt, während Pablo und Ada, die von ihm auf dem Rücken getragen wird, ihr amüsiert zuschauen. In Anlehnung an Fellinis „Das süße Leben“ könnte man vom „Trevi“-Moment im Kino von Almodóvar sprechen. Es ist ein Moment purer Freude und reinen Genusses, genauso erfrischend wie 1987.
Das Gesetz der Begierde
von Pedro Almodóvar
ES 1987, 102 Minuten, FSK 16,
spanische OF mit deutschen UT, deutsche SF
Auf DVD und VoD