Alan Hollinghurst: Der Hirtenstern

Buch

Seit Erscheinen seines ersten Romans „Die Schwimmbadbibliothek“ im Jahr 1988 gilt Alan Hollinghurst als einer der wichtigsten Chronisten der britischen Gesellschaft. Die Beschreibung schwuler Lebensrealitäten war von Anfang an ein zentrales Thema seiner Bücher. Für „Die Schönheitslinie“ erhielt Hollinghurst 2004 den renommierten Booker Prize. Auf die Booker-Prize-Shortlist schaffte es 1994 bereits sein zweiter Roman „The Folding Star“ – und wurde damals trotzdem nicht ins Deutsche übersetzt. Ein Versäumnis, das nun nachgeholt wurde: „Der Hirtenstern“ ist jüngst im Albino Verlag erschienen. Tobias Völker hat sich in das 600-Seiten-Werk vertieft und dabei nicht nur ein großes Panorama menschlicher Leidenschaften entdeckt, sondern auch den intimsten aller Hollinghurst-Romane.

Das fehlende Puzzleteil

von Tobias Völker

Ein schwuler, äußerst kulturbeflissener Mittdreißiger hadert mit seinem ziellosen Leben und seiner schwindenden Jugend und wagt einen Neuanfang im Ausland. Doch nicht das Kulturhuschen-Mekka Norditalien ist sein Ziel, sondern eine nicht konkret benannte, aber stark an Brügge erinnernde Stadt in Flandern. Dort verdient Edward – so der Name des Protagonisten – als Privatlehrer höherer Söhne sein Geld und gerät im Rahmen erotischer Streifzüge durch die zwielichtigen Gassen zunehmend in den Bann des geheimnisvollen, schwer lesbaren Ortes, und verliebt sich Hals über Kopf in seinen siebzehnjährigen Schüler Luc. Sein unerfülltes Verlangen verschmilzt mit der verrätselten Symbolhaftigkeit der Umgebung zu einer überspannten Obsession.

Nicht erst seit dem Film „Brügge sehen und sterben“ (2008) wissen wir, dass mittelalterliche flämische Städte mit ihrem morbiden Charme und ihrer kultursatten Geschichtsträchtigkeit eine gute Kulisse darstellen für künstlerische Reflektionen über Vergänglichkeit und Begehren – hierin Venedig nicht unähnlich. Zudem wirkt der erste Teil von „Der Hirtenstern“ wie eine kluge Variation auf Rodenbachs berühmten Roman „Bruges-la-Morte“. Im zweiten Teil erfahren wir dann mehr über Edwards Jugend. Zur Beerdigung eines früheren Liebhabers nach England zurückgekehrt, erinnert er sich an das Aufkeimen der Beziehung, als schwärmerische Sehnsucht und sexuelle Erfüllung in der ersten großen Liebe zusammenfielen. Gleichzeitig führen ihm Begegnungen und Gespräche mit alten Freunden die Unterschiedlichkeit ihrer parallelen Lebenswege vor Augen. Hollinghurst ist hier ganz in seinem Element, indem er die Erfahrungen seiner Generation (er ist Jahrgang 1954) durch die Augen des schwulen Beobachters schildert. Zugleich wird durch den Kontrast zwischen Edwards Erinnerungen an seinen hoffnungsvollen Aufbruch in das Erwachsenleben und der Erzählgegenwart die Orientierungslosigkeit und emotionale Unreife, die er in Flandern an den Tag legt, frappanter und tragischer, aber auch nachvollziehbarer, weil wir die Sehnsüchte hinter seinen Eskapaden besser verstehen lernen. Edward, so scheint es, war schon immer mehr an der Schönheit von Menschen interessiert als an den Menschen selbst, die ihn schnell langweilen. Da menschliche Schönheit aber vergänglich ist, hängt er einem Phantom nach.

Der dritte und letzte Teil schlägt dann nochmal einen ganz anderen Ton an. Nach Edwards Rückkehr nach Belgien überschlagen sich die Ereignisse, und die aufgestaute Spannung entlädt sich in einem atemlosen Finale, das in puncto Tempo und Atmosphäre wie ein Thriller anmutet. Bereits in der Rückschau auf die Jugendzeit wurde das Motiv des titelgebenden Hirtensterns eingeführt, als der junge Edward in liebesberauschten Nächten zum Himmel aufblickte und dabei an ein Gedicht von John Milton dachte. Wie der Abendstern den Hirten ermahnt, die Herde in den sicheren Stall zu bringen, so soll in dem Singspiel „Comus“, dem das Gedicht entnommen ist, ein Erzieher (im Englischen attendant spirit) die ihm anvertrauten Kinder anleiten und beschützen. Bei Hollinghurst jedoch wird der pädagogische zu einem sehr realen Eros, indem Edward seinen Schützling, statt ihn vor den Verlockungen der Welt zu bewahren, selbst verführt. Der Sex mit Luc, der gegen alle Wahrscheinlichkeit schließlich stattfindet, bedeutet aber keineswegs die ersehnte Glückseligkeit. Vielmehr reißt der Junge kurz danach von zu Hause aus, und Edward schlägt sich bei der panischen Suche nach ihm mit Gewissensbissen und Fragen über Schuld und Verantwortung herum.

Alan Hollinghurst – Foto: Robert Taylor

Wie alle Romane Hollinghursts ist „Der Hirtenstern“ kunstvoll konstruiert, ein literarisches Spiegellabyrinth, reich an Querverweisen zwischen Erzählebenen und Motiven. Anders aber als in den meisten anderen Büchern des Autors fehlt hier die große Rahmenhandlung, die das Schicksal des Protagonisten prädeterminiert und seinen Erlebnissen eine verborgene Zielhaftigkeit verleihen könnte. Vielmehr konzentriert sich die Erzählung ganz auf die Spielarten der Liebe, wie sie Edward und die Menschen um ihn herum erfahren. Neben der ätherischen Schwärmerei für den adoleszenten Luc unterhält Edward sehr handfeste sexuelle Beziehungen zu dem hübschen Nordafrikaner Cherif, dessen echte Verliebtheit er aber nicht erwidern kann, und zu dem manipulativen Matt, für den Sex vor allem unverbindliche gegenseitige Befriedigung bedeutet. Hinzu kommen die erotischen Lebensläufe, homosexuelle wie heterosexuelle, die bei Edwards Begegnungen mit den Menschen um ihn herum aufscheinen – ehemalige Mitschüler, die Eltern seiner Schüler, die Schwulen in der örtlichen Bar. Deren Erfahrungen und Lebensentscheidungen stecken gewissermaßen den Möglichkeitsraum ab, vor dem der Protagonist seine eigenen Obsessionen verfolgt.

Eine besondere Form der biografischen Gegenüberstellung ermöglicht die Figur des fiktiven belgischen Symbolisten Edgard Orst, ein Sohn der flämischen Kleinstadt, die der Hauptschauplatz der Handlung ist. Im lokalen, dem Künstler gewidmeten Museum versucht Edward die Geheimnisse zu enträtseln, die sowohl die Bilder als auch das Leben des Malers umgeben. Die entrückte und sexualisierte Welt der Gemälde scheint auf unheimliche Weise sein eigenes Gefühlsleben widerzuspiegeln, und hinter den ungeklärten Umständen von Orsts Tod verbirgt sich ein Schicksal, in dem seine eigene moralische Verstrickung anklingt. Diese narrative Metaebene erinnert dann doch an die biografischen Rätsel, mit denen die Protagonisten in „Die Schwimmbad-Bibliothek“ oder „Des Fremden Kind“ konfrontiert sind. Der bis ins kleinste Detail ausfantasierte Orst-Kosmos wird zur Folie von Edwards Gefühlsleben, für seine hysterische Obsession und deren dunkle, triebhafte Unterströmung.

Eine Hollinghurstsche Spezialität ist, dass schwuler Sex und die Schönheit der männlichen Anatomie ebenso liebevoll und konkret beschrieben werden wie verstiegene und hoch ästhetisierte Gefühlszustände. Die Darstellung von Sexualität aus der Schmuddelecke zu holen und sie als valides Sujet in die sogenannte Hochliteratur zu integrieren, gehörte seit den literarischen Anfängen des Autors in den späten Achtzigern zu seinem sprachlichen und inhaltlichen Programm; an eventuelle Empfindlichkeiten der Leserschaft, die in diesem Fall weit über eine wie auch immer geartete schwule Zielgruppe hinausgeht, werden keine Zugeständnisse gemacht. Für Übersetzer ist Hollinghursts an Anspielungen und Wortspielen reiche Sprache unweigerlich eine Herausforderung. Joachim Bartholomae macht in dieser Hinsicht einen großartigen Job, gerade wenn man den „Hirtenstern“ mit früheren Romanen des Autors vergleicht, deren deutsche Ausgaben es nicht schafften, die sprachliche Virtuosität und nonchalante Zickigkeit der Originale einzufangen.

Legt man nach über 600 Seiten Lektüre den Roman aus der Hand, hat man eigentlich mehrere Bücher gelesen: eine kunstvolle Reflexion über das komplexe Wechselspiel von Schönheit und Lust; eine penible Erkundung schwuler Torschlusspanik, die gerade deshalb nachvollziehbar wird, weil sie in einem entrückten Setting stattfindet; und ein großes Panoptikum menschlicher Leidenschaften, das durch das Prisma der Erfahrungswelt eines schwulen Mannes ausgeleuchtet wird. Für alle deutschsprachigen Hollinghurst-Fans ist „Der Hirtenstern“ das fehlende Puzzleteil im Schaffenskosmos dieses Ausnahmeschriftstellers: sein in vieler Hinsicht intimstes Buch, in dem auf die großen, generationenübergreifenden Narrative der anderen Romane verzichtet wird und sich der Autor ganz auf die Beschreibung der Gefühlswelt eines schwulen Mittdreißigers konzentriert.




Der Hirtenstern
von Alan Hollinghurst
Aus dem Englischen von Joachim Bartholomae
Hardcover, 621 Seiten, € 28,00
Albino Verlag

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