Überleben in Neukölln

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Rosa von Praunheim hat halbrunden Geburtstag und uns zur Feier einen neuen Film aus Neukölln mitgebracht. Das queere Panorama aus Porträts von kreativen, verrückten und – im Praunheimschen Sinne – herrlich perversen Bewohner_innen des berüchtigten Szenebezirks setzt das Prinzip der unangepassten Lebenstraumerzählungen fort, mit dem der Regisseur seit nunmehr 50 Jahren die heterornormativen Strukturen der deutschen Kino- und Fernsehlandschaft unterwandert. Eine Hommage.

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75 Jahre pervers

von Jan Künemund

„Du brauchst kein Geld – du brauchst nur Mut“, heißt es in einem Song von Juwelia über Berlin, in dem sie vor vielen Jahren kleben geblieben ist. Geld hat sie noch immer nicht, aber den Mut noch nicht verloren. Für das Berlin der mutigen mittellosen Künstler_innen, die aus zu engen Welten fliehen und ihre Träume mitbringen, steht aktuell der Stadtteil Neukölln – mit dem Gespenst der Gentrifizierung bereits in Sichtweite. Unter dem Künstlerinnen-Namen Juwelia betreibt Stefan Stricker dort einen ‚Laden‘, einen offenen Salon für ähnlich Träumende und ähnlich Mutige. Von hier aus gehen Rosa von Praunheim, sein Co-Regisseur Markus Tiarks und die Kamerafrau Elfi Mikesch auf Streifzüge durch den Szenebezirk, was wie so oft bei Praunheim heißt: sie treffen kreative, verrückte und ‚perverse‘ (Praunheim-Code für ‚queer‘) Menschen, für die Neukölln zwischen Spielotheken, SchwuZ und Food-Manufakturen gerade irgendwie funktioniert, und die bereitwillig aus ihren Biografien erzählen: eine Künstlerin aus Baltimore, eine 89-jährige ehemalige Blumenhändlerin, einen Hip-Hop-Youtuber im Rollstuhl, eine aus Damaskus geflüchtete Singer-Songwriterin, den dauerprotestierenden ‚Neuköllner Türken‘ Aydin Akin, einen Kriegsjournalisten, der mit einem kubanischen Performancekünstler und dessen 16-jährigen Sohn zusammenlebt, die Polittunte Patsy L’Amour laLove und viele andere. Dieses Mosaik der Unangepassten wird immer wieder neu in Juwelias Salon zusammengesetzt, wo Praunheim und Mikesch Musikvideos zu ihren Berlin-Songs drehen und nebenher ihre Biografie weiter erzählen, die schließlich aus Neukölln herausführt, nach Korbach, zum Grab der Eltern. Wo deutlich wird, dass nicht jeder Neuanfang ein Ausradieren der Vorgeschichte bedeuten muss.

Seit 50 Jahren funktioniert dieses Praunheim-Prinzip der zusammengesetzten Lebenstraumerzählungen schon, ein großes, produktives Gegenprogramm zu Kino-Bio-Pics und den Prominentenporträts, die das deutsche TV für erzählenswert erachtet. Praunheims Filme sind aber nicht nur wegen ihrer unangepassten Heldinnen und Helden interessant, für deren Poesie, Lebenswitz und Sprache er seit den späten 1960ern einen wachen Blick, ein offenes Ohr und ein leicht entflammbares Herz hat. Sie haben auch Stil – auch wenn Stil-Haben für ihn selbst wahrscheinlich ein nasebohrend intellektuelles Konzept ist. Wenn sich Praunheim wie so oft als Regie-Dilettanten darstellt, der kein Interesse für formale Aspekte des Filmemachens aufbringt und die Kraft seiner Filme in der Zusammenarbeit mit kreativen Menschen begründet, so ist das zwar kokett und sicherlich gegen etablierte Vorstellungen von Autorenkino gerichtet, dennoch nichtsdestotrotz falsch – man erkennt jeden Praunheimfilm nach spätestens fünf Minuten, egal, ob es ein dokumentarisches Porträt, ein Spielfilm oder irgendeine Mir-doch-egal-Form dazwischen ist.

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Man muss den vielen Produzenten und Redakteuren dankbar sein, dass sie diese Filme nie mit einem großen Budget ausgestattet haben. Ihre Rotzigkeit, ihr Flickschusterismus und DIY-Ethos verschafft Praunheim seit jeher maximale Bewegungsfreiheit und Offenheit für die Geschichten, in die er sich verläuft. Während andere noch über ein Komma in einem Antrag für die Filmförderung nachdenken, hat er schon wieder zwei Filme fertig. Oder, wie zu seinem 70. Geburtstag 2012, 70. Diese Schnelligkeit hat etwas Getriebenes, sie wird aber durch Bildsicherheit (Kamera fast immer: Elfi Mikesch) und dramaturgische Intelligenz (Schnitt, seit Ewigkeiten: Mike Shephard) zum Stil. Und ist notwendig, um immer wieder flüchtige Momente und Konstellationen dokumentieren zu können, wie aktuell das sich rasant wandelnde Neukölln, oder wie Ende der 1980er das gerade noch nicht gentrifizierte New York. „Überleben in New York“ (1988) und „Überleben in Neukölln“ (2017): Traumbewegungen und was aus ihnen wird. „New York Memories“ (2010) und „Praunheim Memoires“ (2014): Bewegungen in der auch ziemlich traumhaften eigenen Biografie.

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Über die man natürlich auch mal reden muss, zumal der Protagonist seit 50 Jahren sein Gesicht hinhält als Vorzeigeschwuler in den deutschen Medien. Das führt zwar zum Gewöhnungseffekt à la Alice Schwarzer, aber Praunheim ist auch mindestens dreimal zur Hassfigur der eigenen Szene geworden: durch die konfrontative Kritik an der schwulen Bürgerlichkeit im berühmten „Nicht der Homosexuelle ist pervers…“ (1971), durch den Aufruf zur Aufgabe der sexuellen Promiskuität in der „Aids-Trilogie“ (1989/90) und schließlich durch sein TV-Outing von Biolek und Kerkeling (1991), das tief sitzende Ängste vor dem Sichtbarwerden außerhalb der Schutzräume triggerte. Jedes Mal rechtfertigte der emanzipatorische Erfolg die drastischen Mittel, die Freunde wurden dadurch nicht mehr. Seine Filme sind aber, selbst in ihren besserwisserischsten Momenten, grundsätzlich dialogisch, lassen Gegenmeinungen zu, wie die von Mario Wirz in „Feuer unterm Arsch“ (1990), der am Ende von Praunheims Szene-Beschimpfung ihn einen „Oberlehrer“ nennen darf und damit das letzte Wort hat.

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Vielleicht ist ja die Langeweile sein Todfeind. Das Ausruhen auf Erreichtem, das liberale ‚Mussmanjanichtmehrdrüberreden‘, die Homo-Ehe, die sanft verlaufenden Biografien, die Bruchlosigkeit der Erfahrungen. Da springt Praunheim sofort einen Konfliktschauplatz weiter. Und wenn Filme da zu lange dauern, dann schnell noch ein Gedicht, ein Theaterstück, ein Hörspiel. Auch der Tod ist ein Todfeind. So lange es geht, gilt es zu produzieren, mit Haltung und Stil. „Jetzt höre ich aber auf mit Jammern“, sagt Juwelia am Ende von „Überleben in Neukölln“. Und singt ein Lied über das Paradies. Das hoffentlich mit Rosa von Praunheim noch ein paar Jahrzehnte Geduld hat.

Der Text wurde ursprünglich in Indiekino 42 (Nov 2017) veröffentlicht,
dem Magazin der unabhängigen Berliner Lichtspielhäuser.




Überleben in Neukölln
von Rosa von Praunheim
DE 2017, 82 Minuten, FSK 12,
deutsche OF,

missingFILMS

Ab 23. November hier im Kino.

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