Speed Walking

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Jetzt im Salzgeber Club: Coming of Age in der dänischen Provinz, in den 1970er Jahren. Wie der 14-jährige Martin ohne Mutter ins Leben findet, und dabei die Bodenhaftung behält, wie es auch in seiner athletischen Disziplin, dem Gehen, verlangt wird, das erzählt der preisgekrönte Jugendfilm „Speed Walking“ von Niels Arden Oplev in bewährter Skandinavian frankness. Unsere Autorin Natália Wiedmann wendet sich direkt an den jungen Protagonisten, um ihm zu schildern, wie sehr sie geweint und gelacht hat.

Foto: Salzgeber

Liebe ist kein Triumphmarsch

von Natália Wiedmann

„Love hurts“ tönt es aus Martins portablem Kassettenrekorder, aber wie sehr, Martin, das weißt Du noch nicht, als Du auf Deinem Fahrrad durch diesen beginnenden Sommer von der Schule nach Hause fährst, durch einen dieser Sommer, von dem man später vielleicht sagen wird: „It was the best of times, it was the worst of times“. Aber mit jedem Ortsansässigen, der Dir hinterherschaut, wie Du singend durch die erdigen Farbtöne der 1970er Jahre radelst in diesem einen Sommer, in dem sich alles ändert und der schon beinah ein Topos des Coming-of-Age-Films ist, mit jedem dieser versprengt Spalier Stehenden wächst unsere Gewissheit, dass die auf Halbmast gezogenen dänischen Flaggen den ersten tiefen Riss ankündigen, den Dein kleines, 14-jähriges Herz gleich bekommen soll.

Und dann, endlich zuhause, umklammert Dich Dein schluchzender Vater so fest, fest, fest, als müsste er sonst in seiner Verzweiflung ertrinken. Was Du für eine Grippe gehalten hattest, Martin, war eine kurze, schwere Krankheit, wie es eine Traueranzeige formulieren würde, und die Leere, die vom Bett Deiner Mutter aus um sich greift, ist so schrecklich, dass sich Dein Vater vor ihr im Keller und Dein Bruder hinter einer großen Sonnenbrille versteckt, als wäre die Dunkelheit noch nicht dunkel genug.

Nun bist Du buchstäblich so mutterseelenallein wie Dein Seelenverwandter Léon Doré – aus einem anderen Sommer in einem anderen Film, „C‘est pas moi, je le jure!“ (2008) –, dessen Gesichtszüge Deinen so ähnlich sind; aber noch enger ist Dein Film mit Lasse Hallströms „Mein Leben als Hund“ (1985) verwandt und hat schon jetzt etwas von dessen Zeitlosigkeit. Sie teilen die beinah schon sprichwörtlich gewordene Scandinavian frankness: Eine zärtliche Schonungslosigkeit, mit der sie die Verletzlichkeit ihrer tragikomischen Figuren entblättern, Figuren, die mit liebevoller Präzision immer genau im richtigen Augenblick genau das Falsche sagen, und sie teilen die fast schmerzhafte Offenheit, mit der sie von den ersten sexuellen Erfahrungen und den manchmal verwirrenden, aufwühlenden, verstörenden, verstohlenen Blicken auf erwachsene Sexualität erzählen.

Kaum ein Bild ist so traurig wie das Deines Vaters, Martin, der sich in seinem hilflosen Kummer in völliger Teilnahmslosigkeit von der Friseuse Mona vögeln lässt. „Martins Vater bumst nicht, der ist traurig“, so sieht es Martins Klassenkameradin Kristine. „Ich weiß, was Martins Vater macht. Er lässt sich trösten.“ Für Martin ist es ein kleiner Trost, dass Kristine ihm einen Kuss versprochen hat, einen Kuss und nach der Konfirmation sogar mehr. Aber die suchende Zärtlichkeit in den Blicken und Berührungen, die einen sanften Kontrapunkt zu den kleinen und großen Verletzungen bilden, diese suchende Zärtlichkeit hat Dein Blick nur bei Deinem besten Freund Kim, der Dir beibringt, was „Keulen“ bedeutet. So weich und glücklich möchte man Dich immer sehen, Martin, wie an diesem traumhaft schönen Nachmittag bei Kim zuhause, an dem ihr vorsichtig lächelnde Küsse und zarte Berührungen austauscht und aneinander das Keulen übt, so behutsam wie Du die Namenskärtchen für die Sitzordnung Deiner Konfirmationsfeier neu arrangierst. Denn die musst Du ja ändern, Martin, es ist gleich nach dem Beileid eines der ersten Dinge, die Du zu hören bekommst. Und dann fügt der Freund Deines Vaters, nein: der gute Freund Deines Vaters – denn wer sonst würde einem taufrisch Verwitweten Alkohol und Sexheftchen mitbringen? Und dann also fügt der gute Freund Deines Vaters noch einen dieser lakonischen Sätze hinzu, deren Gewohnheit es ist, bei der Tischordnung der Gefühle das Lachen und das Weinen immer ganz eng nebeneinander zu setzen: „Vorbereitung zahlt sich nicht immer aus.“ Was habe ich geweint und gelacht, Martin!

Foto: Salzgeber

Und nie werde ich den ersten Anblick Deines Speed-Walking-Trainings vergessen. Fast wie junge Vögel seht Ihr aus, deren Flügel gestutzt wurden und die es deswegen nicht schaffen, in die Luft abzuheben, denn eine der Speed-Walking-Regeln gibt vor, dass einer der Füße immer Bodenkontakt haben muss. Energisch schwingt Ihr die angewinkelten Arme vor und zurück, und um Eure erstaunlichen Geschwindigkeiten zu erreichen, vollführt Ihr die fürs Speed Walking so charakteristische Beckenrotation, die dem Sport schon so oft hämisches Gelächter einbrachte. Unbestreitbar komisch seht ihr aus, das stimmt schon, aber zugleich wirkt das Schwingen Eurer Hüften wie ein faszinierender, ausgelassener Tanz. Es ist ein Bild, das stellvertretend für den ganzen Jugendfilm von Niels Arden Oplev steht, der schon mit „Der Traum“ (2006) bewies, wie ehrlich und differenziert er für ein junges Publikum zu erzählen weiß und dafür bei der Berlinale erst stehende Ovationen und dann den Gläsernen Bären einheimste: In einem Bild sind hier zugleich die Würde und Stärke, die Peinlichkeit und Verletzlichkeit vereint, die die so glänzend besetzten Figuren immer ausstrahlen.

„Love is not a victory march“, Martin, aber dessen ungeachtet wirst Du beim großen Race Walk in Sønder Omme mit Deinem konfirmierten, gebrochenen Herzen als Sieger hervorgehen. Man müsste so leben können, wie Du läufst, Martin. Mit der gleichen Zielstrebigkeit und dem Schwung der Hüfte und dem Lächeln auf den Lippen, auch wenn die Liebe schmerzt und das Leben noch mehr. Wenn man das könnte, Martin, ja, das wäre was.




Speed Walking
von Niels Arden Oplev
DK 2014, 108 Minuten, FSK 12,
dänische OF mit deutschen UT,
Salzgeber

Hier auf DVD.

vimeo on demand

VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)


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