Der Ornithologe

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Der neue, großartige Film von João Pedro Rodrigues („O Fantasma, 2000; „To Die Like a Man“, 2009) handelt von einem Ornithologen, der sich nach einem Bootsunglück alleine durch die Wälder Nordportugals kämpfen muss, vorbei an mysteriösen Hindernissen und erotischen Begegnungen. Rodrigues‘ sehr persönliche, höchst queere Interpretation der Legende des Heiligen Antonius ist wie ein Traum von Tod, Auferstehung und Märtyrertum: ein Delirium, in dem sich alle spirituellen und körperlichen Grenzen lustvoll auflösen. Bei den Filmfestspielen in Locarno wurde „Der Ornithologe“ zu Recht als Meisterwerk gefeiert und mit dem Silbernen Leoparden für die Beste Regie ausgezeichnet. Für uns wagt sich Sascha Westphal in Rodrigues‘ schwirrende Dschungelwelt der Rätsel und Verwandlungen, in der man erst alles verlieren muss, um sich selbst zu finden.

Ins Klare

von Sascha Westphal

„Du wirst meiner Liebe nicht entgehen…“
(Ödön von Horváth: „Geschichten aus dem Wiener Wald“)

„Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott.
Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“
(Friedrich Hölderlin: „Patmos“)

Verwandlungen, Transformationen, gelegentlich auch Transmigrationen sind das große, alles verbindende Leitmotiv im Kino des João Pedro Rodrigues. Niemand bleibt allzeit, wer er einmal war. Alle sind fortwährend auf dem Weg in ein anderes Leben, einen anderen Körper.

So geht es auch Tonia, der Hauptfigur in Rodrigues bis kürzlich letztem Spielfilm, „To Die Like a Man“ (2009). Die Sehnsucht, endlich die zu werden, die sie eigentlich schon immer war, ist in ihr, die einst António hieß, übermächtig. Aber etwas ist noch stärker als dieses Verlangen, sitzt noch viel tiefer in ihr: eine lähmende Furcht. Schließlich verbietet Antónios Glauben, dieser strikte Katholizismus mit all seinen nicht verhandelbaren Geboten, es ihr, endgültig zu Tonia zu werden. Was wäre, wenn Gott sie nicht anerkennt, wenn er sie womöglich sogar brutal zurückstößt? Also trifft sie eine radikale Entscheidung. Eine erneute Metamorphose soll sie erlösen, wenn nicht diesseits, dann doch wenigstens auf der anderen Seite. Schmerzen und Enttäuschung als Preis für die Ewigkeit. Und so geschieht schließlich doch noch ein Wunder. Selbst in einer Welt, die sich längst von allen Göttern abgewandt hat, bleibt Raum für das Göttliche.

Acht Jahre, eine Reihe von Kurzfilmen und der Essayfilm „A Última Vez Que Vi Macau“ (2012), den Rodrigues gemeinsam mit seinem Lebensgefährten João Rui Guerra da Mata geschrieben und gedreht hat, liegen zwischen „To Die Like a Man“ und „Der Ornithologe“. Das ist selbst schon eine kleine Ewigkeit. In jedem Fall ist es genügend Zeit für neue Wandlungen. Eine ist dabei so offensichtlich, dass sie kaum der Erwähnung wert scheint: Erstmals hat Rodrigues den Raum des Urbanen ganz hinter sich gelassen. Die nächtliche Schnepfenjagd in „To Die Like a Man“ war einst nur eine magische Exkursion, eine dieser nicht wirklich fassbaren und damit so faszinierenden Vignetten, die typisch für Rodrigues’ Kino sind. Erst jetzt im Rückblick erscheint sie wie eine Vorahnung auf Rordrigues‘ neuen Film. Der Gang in die Wälder als Akt der Befreiung.

Auch in „A Última Vez Que Vi Macau“ gibt es diese Bewegung weg von der Stadt, raus aus der Enge der von neonbunt leuchtenden Wolkenkratzer gesäumten Straßenschluchten, allerdings als Wettlauf gegen die Zeit und den Untergang der Stadt, ja der ganzen Welt. Die Natur birgt dunkle Geheimnisse: In den Wäldern und Höhlen jenseits der Metropolen konnten die alten, die vergessenen oder zumindest marginalisierten Götter überdauern. Die nahezu verlassene Siedlung, auf die die beiden Filmemacher dort stoßen, wirkt wie eine Folie für einige Kulissen von „Der Ornithologe“.

Foto: Edition Salzgeber

Spuren dieser Art durchziehen Rodrigues’ gesamtes Schaffen. Letztlich hängt alles auf die eine oder andere Weise zusammen. Man kanns sich sein Werk als großes Netzwerk vorstellen, als ein lebendes Gebilde, das immer weiter wächst, sich verzweigt und beharrlich ausbreitet. „Der Ornithologe“ ist aber nicht nur ein Teil dieses offenen, sich in alle erdenklichen Richtungen entwickelnden Geflechts. Rodrigues’ queere Nacherzählung der Legende vom Heiligen Antonius – der Ende des 12. Jahrhunderts als Fernando Martins de Bulhões in Lissabon geboren wurde, als franziskanischer Missionar nach Marokko zog, bei seiner Rückfahrt nach Portugal an der Küste Siziliens strandete und in der Folge zum größten Prediger Italiens wurde, ehe er 1231 nahe Padua starb – gleicht selbst einem wuchernden Organismus. Mit jeder Einstellung erobert sie sich neues Territorium, mit jeder Szene breitet sich diese bizarre Geschichte einer wundersamen und zugleich wundervollen Metamorphose nach und nach über die gesamte antike und christliche Kulturgeschichte aus. Das Katholische wächst ins Heidnische, Realistisches vermischt sich mit Phantastischen, und selbst die Körper stellen keine Grenze mehr da. Einmal legt Rodrigues Bilder von fließendem Wasser über Aufnahmen von Menschen und Tieren. Was fest ist, wird flüssig, und was flüssig ist, kann jederzeit gerinnen.

Foto: Edition Salzgeber

Zu Beginn hat Fernando noch festen Boden unter den Füßen. Sein Geländewagen steht nahe des Platzes, an dem er an einer Flussbiegung sein Lager aufgeschlagen hat. Von hier aus geht die Reise im Kajak weiter, flussabwärts, auf der Suche nach einer seltenen Art schwarzer Störche. Doch die wird der Ornithologe nicht finden. Während sein Blick nach oben gen Himmel geht, an dem anmutig ein Adler seine Kreise zieht und wiederum ihn studiert, gerät er mit dem Kajak in Stromschnellen. Er verliert sein Boot und vielleicht sogar sein Leben.

Als der Blick das nächste Mal auf Fernando fällt, treibt er reglos auf dem Rücken im seichten Wasser am Flussufer. Lin und Fei, zwei junge chinesische Pilgerinnen, die hoffnungslos vom Jakobsweg abgekommen sind, finden Fernando und fischen ihn aus dem Wasser. Man könnte auch sagen: Er ist ihnen, ohne es zu ahnen, ins Netz gegangen. Schließlich sind alle derart glühende Katholik*innen in der Nachfolge Jesu auch Menschenfischer*innen. Tod, wo ist dein Stachel? In João Pedro Rodrigues’ Fernando-Legende ist er abgebrochen oder zumindest stumpf geworden. Die Rettung des Ornithologen durch die Chinesinnen markiert nur den Auftakt eines ganzen Reigens von Wiederauferstehungen. Nur ist dieser Fisch im Netz der Pilgerinnen, den sie an sich binden wollen und das zur Not auch im wörtlichen Sinne, ein Ungläubiger. Die jungen Frauen erkennen ausgerechnet in Fernando aber den Heiligen Antonius. Wer stirbt, kehrt zurück und wird ein anderer. Aber davon will der Gerettete erst einmal nichts wissen.

Foto: Edition Salzgeber

Während Tonia in „To Die Like a Man“ die Ablehnung Gottes fürchtete, weist der schwule Ornithologe Gott bewusst von sich. Später wird er einem taubstummen Schäfer namens Jesus begegnen und mit ihm am Ufer des Flusses schlafen. Auch das ist – wie so viele Szenen in Rodrigues’ Erzählung von Fernandos „Weg nach Padua“ – ein höchst doppeldeutiger Moment. Natürlich hat dieses ‚Schäferstündchen‘ am Fluss etwas Blasphemisches. Aber zugleich ist es auch ein Beweis der Liebe Gottes zu allen Menschen, aber vor allem zu Fernando. Und wie damals kommt es, wie es kommen muss: Jesus stirbt durch einen Stich in die Seite.

Die Wege Gottes sind unergründlich und doch vorhersehbar. Alles wiederholt sich – und wird dann doch ganz anders. Die Mutation als reinste Form der Auferstehung. Später kommt Jesus zurück, wiedererweckt durch einen Kuss von Fernando. Allerdings heißt er nun Tomé. Aber auch Fernando, der nicht lange zuvor einfach wieder aufgestanden ist, nachdem ihn eine Latein sprechende Amazone wie einen Hirsch niedergeschossen hat, ist endlich ein anderer: Er ist Antonio. Die Pilgerinnen hatten Recht: Dem Netz Gottes entgeht niemand. Aber auch nicht dessen Liebe. Das ist erschreckend und tröstlich zugleich. Rodrigues’ karnevalesker Film ist ein Abschied vom Fleisch und zugleich dessen Lobgesang.

Foto: Edition Salzgeber

Wie der mittelalterliche Heilige, den es von Portugal nach Italien, von Lissabon nach Padua geführt hat, spricht auch sein Nachfolger und Wiedergänger, der zuvor vor allem auf die Vögel schaute, am Ende mit den Fischen: „Ihr Fische, meine Brüder. Was hat euch hierher verschlagen? Mit euren Flossen könnt ihr euch frei von einem Ort zum anderen bewegen, wohin es euch beliebt. Wie seid ihr also in dieses trübe Wasser gelangt? Wieso sucht ihr nicht nach reinen und klaren Gewässern, damit ihr erkennt, welchen Weg ihr einschlagt und welche Kost ihr euch einverleibt?“

Wieder und wieder fällt Fernandos Blick aufs Wasser und trübt sich damit. Mit jeder Station auf dem Weg des Ornithologen, dessen Ziel unausweichlich ist, wird alles nur noch milchiger und matter. Die Menschen sind wie die Fische. Ihren Weg erkennen sie nicht und gehen ihn trotzdem. Darin liegen der Zauber und die Schönheit von Rodrigues’ Kino. Erst einmal müssen die Widersprüche beschworen werden, alles wächst unaufhörlich ineinander, wird ganz und gar undurchdringlich, bis das Chaos schließlich mit einem Schlag einer überwältigenden Klarheit weicht. Der Gang der Erzählung verwandelt Fernando in Antonio, und das Kino, dessen Mittel ohne Zweifel göttlich sind, verwandelt – ein Wunder der Montage – Fernandos Darsteller Paul Hamy in João Pedro Rodrigues. Der queere Heilige findet in der Liebe seines Schöpfers zu sich.




Der Ornithologe
von João Pedro Rodrigues
PO/FR/BR 2016, 118 Min., FSK 16,
portugiesische OF mit deutsche UT
Edition Salzgeber

Hier auf DVD.

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VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)

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