Wyndham Lewis: Die Affen Gottes
Buch
„Das Beste ist, wenn man das Schlimmste über die Leute weiß“. Getreu dieser Maxime ist der Roman „Die Affen Gottes“, der 1930 erschien und jetzt erstmals auf Deutsch vorliegt, eine ebenso komische wie brachiale Abrechnung mit jenem Milieu, das sein Autor, der Maler, Avantgardist und Gründer der Vortizisten-Gruppe Wyndham Lewis, bestens kannte: der Londoner Kunstwelt der 1910er und -20er Jahre. Von Lewis in greller Überzeichnung vorgeführt, bringt das Personal dieser monströsen, 776-Seiten starken Farce ein veritables Welttheater zur Aufführung, das in einem mehrere hundert Seiten langen Karneval grotesker Masken gipfelt. Michael Sollorz ist begeistert, wie klug und zynisch, boshaft und zuweilen albern Lewis sein Seziermesser ansetzt.
Alles war tot und angenehm
von Michael Sollorz
Leute, was für ein Buch! Einschüchternd nicht bloß sein Umfang und die sprühende Gelehrtheit des Verfassers, sondern vor allem jene grimmige Wucht der Verachtung, die es 1930 seinen zeitgenössischen Leser*innen entgegenschleuderte! Aber der Reihe nach.
Alles fängt damit an, dass der greisen Fredigonde Follet, einer englischen Lady aus höchsten Kreisen, nach dem Aufstehen von ihrer Zofe mit größter Sorgfalt die Frisur gebaut wird, beschrieben mit einer Ausführlichkeit, dass die Zeit stillzustehen scheint. Kaum ist die grantige Vettel tageslichttauglich hergerichtet, fährt mit seinem Bugatti Neffe Richard vor, der „einsneunzig lange, sechsunddreißig Jahre alte Feuerwerkskörper aus den elitären Internats- und Militärschulen von Winchester und Sandhurst – mit dem Etikett ‚jungenhaft ausgelassen‘“. Jener Neffe hofft insgeheim, die Tante recht bald schon zu beerben, und so unterlässt er es tunlichst, ihr seinen aktuellen Lustknaben vorzustellen; der wartet im herrschaftlichen Salon. „Überall in diesem musealen Haus hatte die große, freimütige britische Psyche Spuren ihrer derben Muskelkraft hinterlassen. Sprach nicht bereits diese sinnlose räumliche Weite Bände?“ Allerdings lassen Prunk & Protz der alten Ära das clevere East-End-Kerlchen kalt. Die handfeste Unterschicht-Herkunft hat seine „Seele mit marxistischem Ingrimm“ erfüllt. „Diese Kultur war mausetot, doch sie berührte ihn unangenehm mit ihrem massigen Kadaver – hundert Jahre würde es dauern, bis alles verrottet war.“
Und gleich noch ein Anwärter auf Tantchens Erbe gibt sich mit dem Neffen die Klinke in die Hand, diesmal immerhin eine Figur von Format, Horace Zagreus, ein blendend aussehender 60er, geheimnisumwoben und geistreich bis zur Unverständlichkeit. Auch dieser Herr hat ein appetitliches Frischfleisch im Schlepp, den gerade mal 19-jährigen Iren Daniel Boleyn, Parodie einer verträumten Sissy und damit die einzige Unschuld im Bestiarium, das Wyndham Lewis auf über 700 Seiten entfaltet.
Begonnen hatte Wyndham Lewis seine Künstlerkarriere als Maler und Herausgeber einer avantgardistischen Kunstzeitschrift zu Anfang des 20. Jahrhunderts, ein rebellisches Multitalent, kein Foto von ihm ohne Kippe. Seine dem Kubismus und Futurismus verwandten Arbeiten hängen heute in den ersten Kunstmuseen. Der Erste Weltkrieg veränderte alles. Mit Mitte Dreißig kehrte Lewis tief verstört aus dem Schlachten zurück. An frühere Erfolge konnte er nicht anknüpfen, wurde von einstigen Gönnern fallen gelassen, verlor auch noch sein bescheidenes Atelier. So verlegte er sich aufs Schreiben, enttäuscht und zornig. „Wahre Satire muss böse sein“, lässt er seinen Horace Zagreus sagen. „Es ist gut, wenn sie von heftiger Wut befeuert wird.“
Wie ein dunkler Zeremonienmeister durchschreitet dieser Zagreus das Buch, hinter seinem intellektuellen Aufputz im Grunde jedoch nur ein säuerlicher Clown. In vorgeblich pädagogischer Absicht schickt er den folgsamen Jüngling Dan nach Paris, um „Die Affen Gottes“ zu studieren. Wen er damit meint, erklärt er anhand einer anderen europäischen Metropole. „Paris, wo ungleich mehr Menschen ein vertrautes (und natürlich verächtliches) Verhältnis zur Kunst pflegen als irgendwo sonst, ist in Wahrheit ein großer Club für die Vermögenden. Die Gutsituierten glauben, dass ihnen nur in der Gesellschaft von Künstlern und deren Ateliers und Cafés ein Leben nach ihrem Gusto möglich ist. – Man müsste keinen weiteren Gedanken an diese ‚bohemienhafte‘ Bevölkerung verschwenden, wenn sie sich im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten lediglich amüsieren würde, ohne auf das Kunstschaffen Einfluss zu nehmen. Doch die Künstler, diese intellektuellen Gladiatoren, werden zu Kegeln in einem fortwährenden Kegelspiel ihrer Häme und müßiggängerischen Arroganz.“ Lewis weiß, wovon er spricht. Das traurige alte Lied: Wer die Kapelle bezahlt, bestimmt die Musik. „Diese betuchten Scharlatane, die jene von ihnen zugleich bewunderten und gehassten Figuren erst imitieren und dann verhöhnen und verleumden“, so belehrt Zagreus seinen Schüler, „diese Klasse nun bilden die eigentlichen Affen Gottes.“
Der Roman ist eine drastische Abrechnung mit jenem Milieu, dem Wyndham Lewis vor kurzer Zeit selber zum Opfer gefallen war: der Londoner Kunstwelt der 1910er und -20er Jahre, ihren Salons und Mäzenen, Verlagen und Ateliers. Sein Blick ist ohne Erbarmen. Ob bloß eine dumme englische Adels-Pute oder europäische Koryphäen wie Sigmund Freud – alle stolpern sie in die große Lächerlichkeit. Lewis setzt sein Seziermesser an, klug und zynisch, boshaft und zuweilen albern. Klassendünkel und Geltungsdrang, Dummheit, Heuchelei und Größenwahn kennzeichnen die Personage, manche Figur portraitiert einen namhaften Zeitgenossen, und das Ganze sprüht in einem Funkenregen aus Zitaten und Anspielungen von Charles Dickens bis zu Shakespeare, von Musik und Malerei – der reine Wahnsinn.
Etwas Derartiges ins Deutsche zu übertragen, ist eine Mammutaufgabe. Chapeau! Jochen Beyse und Rita Seuß treffen oft genug die Tonlagen, die es braucht, um die Süffisanz und den Sarkasmus des Textes, seine erfrischende Fiesheit in vollen Zügen genießen zu können. Im Anhang bekennen die beiden, dass ihre über siebenhundert Anmerkungen nicht mehr als ein Versuch sein können, „wenigstens einige der zahllosen Zitate, Anspielungen und Figuren des Romans zu identifizieren.“
Bis ihm die Füße bluten, klappert nun also der junge Ire zum Zwecke der Affenkunde einschlägige Adressen ab. Horace Zagreus‘ Empfehlung öffnet alle Türen, so auch die eines traumhaft geräumigen Ateliers, worin eingangs erwähnter Bugatti-Schnösel als dilettierender Kunstmaler Hof hält. „Hier stand ein Bote mit einem Brief in der Hand, dort umlagerten drei Angehörige der besitzenden Klasse ein Gemälde, einer von ihnen sah aus wie ein Stallbursche, klein und kahlköpfig und in Knickerbockern, seine Frau neben ihm, beschwingt sich wiegend, paffte eine Zigarette – und dann war da die kleinwüchsige polnische Lesbe Bloggie, die den größten Sessel auf dem Modellpodest einnahm – von dort oben herrschte sie über zwei schweigsam rauchende junge Täubchen auf einem Diwan neben dem Gasofen, die Bloggie beobachteten und ihre dicken fleischgelben Beine wie vier reife Kochbananen baumeln ließen, die Füße in blumengemusterten, vergoldeten Schuhen.“ Zu allem Überfluss verzetteln sich diese bornierten, gelangweilten Menschen in einem albernen Streit über die Qualität des gerade entstehenden Gemäldes. „Dan lief ein Schauer über den Rücken. Hier und sonst nirgends konnte man dem authentischen Affentum in actu begegnen“, und in Gedanken formuliert er schon seinen Tagebuch-Rapport für Zagreus.
Wenn überhaupt, ist am ehesten dieser Daniel sympathisch, ein klassischer Simpel, der hineingerät ins bizarre Welttheater. Doch wenigstens geht er nicht leer aus. Als ihn sein angebeteter Meister auf der finalen Party nötigt, seine „riesenhaften jungen Gliedmaßen“ in ein Kleid zu quetschen, streift den sanften Jüngling eine Ahnung seiner wahren Bestimmung.
Einige von Lewis‘ grellen Zuspitzungen klingen aus heutiger Perspektive beleidigend, antisemitisch, rassistisch, homophob, frauenfeindlich und vieles mehr. Brächte ein Gegenwarts-Autor Vergleichbares zu Papier, fände er sicherlich keinen seriösen Verlag. Wenn auch vermutlich aus anderen Gründen, hatte schon Lewis das gleiche Problem. Seine „Affen“ gab er 1930 selbst heraus, 750 handsignierte Exemplare, über zwei Kilo schwer. Das Buch kostete drei Guineen, heute etwas mehr als 200 Euro, und war damit höchstens erschwinglich für jene, denen es auf die Füße trat. Der Nestbeschmutzer dürfte sich damit nicht nur Freunde gemacht haben. Nicht umsonst heißt es im Roman: „Die Originale der berühmten Gesellschaftsgrößen in Prousts Büchern sollen höchst verstimmt gewesen sein und Proust als einen Schuft oder etwas ähnliches bezeichnet haben, weil er sie so ungeniert ausgebeutet hat.“
Eine „Nummer Sicher“ gibt es nicht in der Kunst, sowenig wie im Leben. Auch für die Irrwege steht der Name Wyndham Lewis. Etwa hielt er nach einer Deutschland-Reise Adolf Hitler zunächst für einen Mann des Friedens, weil auch der als junger Kerl die Schrecken des Ersten Weltkriegs an vorderster Front erlebt hatte. Später revidierte sich Lewis und trat vehement für die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge ein. Doch sein Ruf war ruiniert.
Vieles von dem, was Lewis quälte, ist uns erhalten geblieben. Kaufstark flaniert ein internationaler Jet-Set über die angesagten Kunstmessen. Das Gespenst der Gentrifizierung verödet die Innenstädte westlicher Metropolen, Raum für Ateliers schwindet, von bezahlbaren Wohnungen gleich zu schweigen; ein harter Takt wird geschlagen beim Tanz ums Goldene Kalb. Neben ihrer ökonomischen Macht erkannte Lewis in der privilegierten Pseudo-Boheme noch eine weitere Gefahr. „Sie richten allein deshalb mehr Schaden an, weil die öffentliche Meinung sie mit Kunst und Intelligenz gleichsetzt. Unter ihrem Einfluss wird stets das Zweitklassige propagiert.“ Woran erinnert uns das? Suhlt sich womöglich im hiesigen Kultur- und Medienbetrieb ein ähnlicher „Bildungspöbel, der sich die Welt kleinwichtelt, um sich darin als Durchblickinstanz und Kreativ-Adel fühlen zu können“, wie es Dietmar Dath in seiner Rezension in der FAZ so entzückend formuliert?
Schließlich dehnt Wyndham Lewis die Mittel der Satire auf wunderbare Weise. Ein beklemmender Subtext sickert ein, zum Ende hin unabweisbar das Gefühl einer Zeitenwende. „Das ist die sakrosankte Epoche schlechthin“, schmettert ein strammer Bursche im Schwarzhemd. „Der Tod des Victorianismus, die Geburt der Dekadenz! Ah, diese bahnbrechende Frivolität der Frivolen [Neunzehnhundert-]Neunziger, als die Welt für die Homosexualität gerüstet wurde!“ Die Vorahnung radikaler sozialer Umbrüche weht durch die kalten Straßen Londons. Hakenkreuze tauchen auf. Die greise Lady Ferigonde versinkt in einem wirren Tagtraum von einer postrevolutionären bolschewistischen Zukunft. Sicher scheint gerade noch eins: Nichts wird bleiben, wie es war. Ein Generalstreik lähmt die Stadt. „Über die Wohnbezirke der Reichen hatte sich eine tiefe, atemberaubende Ruhe gesenkt – alles war tot und angenehm.“
Die Affen Gottes
von Wyndham Lewis
aus dem Englischen von Jochen Beyse und Rita Seuß
Gebunden, 776 Seiten, 40,00 €
Diaphanes