Westerland
Trailer • DVD/VoD
In „Westerland“ treffen sich zwei Jungs und gehen eine Beziehung ein. Einer ist Borderliner, der andere hat Angst vor dem Leben. Das Staunen über die Sylter Winterlandschaften verlernen sie schnell. Aufeinander aufpassen wird zum Teil des Problems. Tim Staffels Debütfilm nach seinem eigenen Roman erzählt eine Freundschaft und eine Landschaft – und beides hat man so noch nicht gesehen, wie unser Autor André Wendler beeindruckt feststellt. Der Film steht als Stream zum Ausleihen und Kaufen im Salzgeber Club zur Verfügung.
Landschaftsarchitektur
von André Wendler
Die Zahl des Filmes ist die Zwei. Vieles passiert doppelt, Zweierkonstellationen stehen sich gegenüber, man begegnet sich zweimal. Zweimal auch stehen Cem und Jésus irgendwo bei Westerland und schauen einem Zug hinterher, der auf klar vorgegebener Strecke schnurgerade durchs Bild fährt. Es ist ihr Sehnsuchtsbild. Beide sind wohl mit einem solchen Zug nach Sylt gekommen, aber von geraden Wegen kann bei keinem die Rede sein. Die Zugbilder gehen aber nicht in dieser recht einfachen, nach außen verlagerten Psychologie auf. Sie lassen sich zwar als Zeichen lesen für das, was den beiden Jungs geschieht und geschehen ist, haben aber etwas an sich, das man nur schwer in Worte fassen kann. Immer wieder wirft der Film solche Bilder auf die Leinwand und uns zusammen mit Cem und Jésus mitten in sie hinein.
So wie ganz am Anfang, wenn Jésus auf dem zugefrorenen Meer herumläuft. Die bizarre Landschaft aus übereinander geschobenen Eisschollen und -platten sieht unwirklich aus. Es könnte eine Kulisse oder eine Computeranimation sein. Er streunt hin und her, geht hierhin und dorthin. Die paradoxe Wanderung auf dem unbewegten Meer lässt sich wieder metaphorisch auf die außergewöhnliche und festgefahrene Situation beziehen, in der er sich befindet. Das Bild selbst aber hat eine Kraft, die mich als Zuschauer_in etwas atemlos werden lässt.
Diese zweite Ebene von „Westerland“ hat nicht so sehr mit der tatsächlichen Landschaft am tatsächlichen Drehort der Insel Sylt zu tun und sie folgt nicht so sehr aus der fiktionalen Figurenpsychologie der beiden Hauptfiguren, sondern daraus, dass wir hier ein Bild, ein bewegtes Bild, ein Kino-Bild vor Augen haben. Und in diesem Bild kommen nicht nur Sylt, Cem und Jésus vor, sondern notwendigerweise auch wir Zuschauer_innen, mit unserem Sehen, unseren Erinnerungen, unseren Erfahrungen. Wenn Jésus und Cem zu Beginn des Filmes immer wieder kreuz und quer über die Insel spazieren, dann sind wir gemeinsam mit ihnen auf dem Weg, die große unerklärliche Frage zu ergründen, was das ist, das sich zwischen ihnen, Westerland, uns und seinen Bildern abspielt. Immer wieder kommen wir mit den beiden auf Aussichtspunkte in den Dünen, von denen aus die Nordsee oder die Insellandschaft weit ausgebreitet vor uns liegen.
An diesen Punkten bleibt uns nicht viel mehr übrig, als das alles anzustarren und anzusehen. Der gefrorene Sandstrand hat die Farbe von Jésus’ Haaren. Das helle Grau-Beige mit den weißen Schneefetzen ist glatt, rein und offen. Auf ihm lässt sich träumen, von Fernstudium und Schauspielschule. Es ist aber eine Landschaft, die nur vorübergehend im Winter festgefroren ist und Stabilität bietet und die alsbald wieder in Bewegung geraten wird. Einmal schwenkt die Kamera langsam von links nach rechts. Auf dem Wasser voller Eisschollen fährt ein Schiff in die selbe Richtung. Zwischen Wasser und Strand ist eine klare Linie gezogen. Dort sitzen die beiden nebeneinander. Durch die Bewegung der Kamera wird die Bewegung des Schiffes aufgehoben, Cem, Jésus und die gesamte Landschaft scheinen sich an seiner Stelle zu bewegen. Vor solchen Landschaftsbildern aus „Westerland“ wird man begriffsstutzig.
Christian Metz, einer der wichtigsten französischen Filmtheoretiker, hat in diesem Sinn das zentrale Paradox des Films, von dem auch „Westerland“ zu handeln scheint, so beschrieben: „Ein Film ist schwer zu erklären, weil er leicht zu verstehen ist.“ Wir sehen, es leuchtet uns ein, aber wir können schlecht sagen, was es ist. Fast immer, wenn sich in „Westerland“ jemand dazu aufrafft, das alles in einer Frage explizit zu machen, wird diese nur mit Schweigen, Gegenfragen oder halbleeren Blicken beantwortet: „Schaust Du immer Filme ohne Ton an? – Ey, was sind das denn für komische Farben?“ So lange Cem und Jésus sich die Landschaft wandernd erschließen können, so lange Cem die Vorstellung hat, er könne einmal als Landschaftsarchitekt das alles begreifen und gestalten, lässt sich der Film aushalten, vielleicht sogar genießen.
Irgendwann ist aber Schluss damit. Sie flüchten vor der Landschaft in eine enge Wohnung, ziehen die Vorhänge zu und pendeln nur noch zwischen Badewanne und Bett. Mit dem Rückzug in Cems Wohnung verknotet sich nicht nur die Beziehung der beiden, sondern auch der Film. Was als eindeutiger Boy-meets-Boy-Film begonnen hat, wird nun zu … etwas bedrückend anderem. Wenn einer von beiden diese unerwarteten Komplexionen nicht mehr aushalten kann, ist der letzte Fluchtort der Balkon, von dem aus sich wenigstens noch ein kleiner Teil der Landschaft sehen lässt, in der Bilder, Filmmusik, Figuren und Geschichten so klar miteinander agieren konnten. Hier drin aber gibt es nur Filme mit komischen Farben, abgedrehtem Ton, zu laute Musik aus Kopfhörern oder seltsame Regieanweisungen auf Badezimmerwänden. Die Großartigkeit der winterlichten Insellandschaft wird ersetzt durch eine etwas abgestandene gelb-blaue Spießerhölle mit praktisch-kleiner Einbauküche und beigefarbenen, gut zu reinigen Fliesen im Badezimmer.
Die Fülle der Totalen und Panorama-Aufnahmen von draußen wird hier zu einem unüberschaubaren Labyrinth aus Close-ups und Detailaufnahmen. Die Fragen sind genauso bohrend und unerträglich wie draußen, aber die Bilder können keinen Trost mehr dafür geben, dass sie nicht lösbar sind. Stattdessen versuchen sich Cem und Jésus in einer pathetischen und fast ironisch biblischen Geste mit Regeln auszustatten. Du sollst nicht kotzen. Du sollst nicht kiffen. Du sollst nicht lügen. Du sollst nicht sterben. Was allerdings als Befreiungsschlag gedacht war, wird am Ende zu nicht mehr als einer Unsauberkeit, die mühevoll von den Fliesen abgewaschen werden muss. Dass der zweite Teil in der Wohnung für Cem und Jésus und für uns keine Perspektiven mehr zu bieten hat, liegt letztlich vor allem an der Abwesenheit perspektivierender Bilder.
Einmal noch raffen sich beide auf und verlassen gemeinsam die Wohnung. Jésus soll in der winterlichen Nordsee schwimmen. Dazu bekommt er einen Neoprenanzug, es wird eine Absperrung am Strand errichtet und Cem hält ihn an einem Seil. Als ob die Vereinigung mit der Landschaft irgendetwas bewirken könnte. Am Ende kann Cem Jésus nur irgendwie aus dem Wasser fischen. Nichts ist gelöst und die nächste Einstellung zeigt beide dann auch in einem aussichtslosen und stummen Kampf miteinander und gegeneinander.
„Westerland“ verzichtet dabei fast vollständig auf die diversen Zeichen realistischer Filme für Homosexualität. Abgesehen davon, dass wir immer wieder eingeladen werden, die jungen männlichen Körper beider Protagonisten anzuschauen, sind wir von den besonders aufdringlich romantischen schwulen Küssen, dem Händchenhalten im Close-up, den argwöhnisch dreinblickenden Prollschlägern und dergleichen filmischer Klischeebildung verschont. Am Ende ist es fast egal, ob die beiden eigentlich schwul sind und man gleich von Liebe sprechen muss, oder ob sich hier ‚nur‘ eine intensive Freundschaft entwickelt hat. Homosexualität ist hier weder die Bedingung allen Geschehens noch ein ausgezeichnetes Problem oder überhaupt ein Problem. Sie ist da oder nicht und letztlich liegt die Entscheidung über diese Frage wohl auch sehr bei uns Zuschauer_innen. „Westerland“ gehört jedenfalls zu einer Reihe von Filmen aus der jüngsten Zeit, in der Schwulsein nicht das Problem ist, sondern wo Schwule auch einmal andere Probleme haben dürfen als ihre sexuelle Identität. In einer so bedrückenden und komplexen Problemlage, wie sie „Westerland“ entwirft, ist die sexuelle Identität weder eine zusätzliche Bürde noch irgend eine Hilfe.
Es ist eine meiner schlechten Angewohnheiten, mich bei jedem Film fragen zu müssen, was ich von ihm eigentlich gelernt habe. „Westerland“ hat mir ganz klar dabei geholfen, genauer zu verstehen, welchen Ort sexuelle Identität im Rahmen all der familiären, kulturellen, historischen und ökonomischen Bestimmungen hat oder haben kann, denen wir sonst noch ausgesetzt sind. Ob Cem und Jésus ihren Weg durch dieses Geflecht gefunden haben werden, wissen wahrscheinlich weder sie selbst, noch der Film, noch wir am Ende.
Westerland
von Tim Staffel
DE 2014, 90 Minuten, FSK 16,
deutsche OF,
Salzgeber
Hier auf DVD.