Titane

TrailerDVD / BluRay

In Cannes wurde Julia Ducournaus feministisches Fantasy-Drama „Titane“ letztes Jahr mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. Der furiose filmische Trip über eine Serienkillerin, die Sex mit Autos hat, und einen Cop, der gegen seine emotionalen Versehrungen mit Anabolika anspritzt, hebt die queeren Elemente des von David Cronenberg geprägten Körperkinos auf eine neue Stufe. Philipp Stadelmaier über einen Film, der lustvoll Genre-Grenzen überschreitet – und den es jetzt als DVD und BluRay gibt.

Foto: Koch Films

Maschinen, Körper, Motoröl

von Philipp Stadelmaier

Die Kamera fährt an den Windungen eines Motors entlang, an Kolben und Schläuchen, Kabeln und Drähten, Ruß und Öl: eine Maschine, die vor uns liegt wie eine Entfaltung nackter Haut, ein Körper, dessen Konturen gestreichelt werden wie eine köstliche Ummantelung. Vom Vorspann an verströmt Julie Ducournaus Film „Titane“, der 2021 in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, die schiere Lust daran, erotisierte und begehrte Körper sich auf Maschinen ausdehnen zu sehen. Es ist eine Lust, die in den Sehnerven der Zuschauer verdrahtet wird wie die Edelstahlplatte im Schädel der Protagonistin während des chirurgischen Eingriffs zu Beginn des Films.

Als Kind hat Alexia einen schweren Unfall: Beim Autofahren imitiert sie Motorengeräusche und tritt ihrem Vater von hinten solange in den Fahrersessel, bis dieser die Kontrolle über seinen Wagen verliert. Als sie später mit der Titanplatte im Kopf und der Narbe am Schädel das Krankenhaus verlässt, löst sich das Mädchen von der Hand ihrer Mutter und stürmt zum Auto, sie umarmt und liebkost es. Der wesentliche Motor der Geschichte ist damit eine Entfremdung, die sich gegen das „Eigene“ richtet, um sich dem in die Arme zu werfen, was so weit wie möglich von ihm entfernt liegt. Die Eltern werden durch ein Auto ersetzt, die Psychologie durch Metall, die Liebe zu Menschen durch die Liebe zu Gegenständen.

Vom Krankenhausparkplatz springt die Handlung dann umstandslos in die Zukunft. Aus Alexia ist eine junge Frau geworden, die sich mit Stecknadeln in den Haaren den Weg durch eine Autoshow bahnt, in einer virtuosen Plansequenz zwischen grellen Karosserien, glänzendem Stahl und funkelndem Chrom hindurch, vorbei an Motorhauben, auf denen sich junge, leicht bekleidete Frauen unter den Blicken fotomachender Männer räkeln. Alexia ist der Star der Show. Danach, auf dem Parkplatz, will ein Fan sie vergewaltigen, aber sie tötet ihn, indem sie ihm ihre Haarnadel ins Ohr rammt. Da er sie im Todeskampf vollgesabbert hat, nimmt sie erneut eine Dusche in der Garderobe, als es an der Türe pocht: Es ist das Auto, auf dem sie zuvor getanzt hat. Sie steigt ein und hat Sex mit ihm. Das heißt: das Ding poltert durch die Halle, während sie mit gespreizten Beinen auf der Rückbank sitzt, die Arme von den Gurten auseinandergezogen.

Mit Alexia erfindet Ducournau eine Gegen-Sexualität, eine Gegen-Genealogie, eine Gegen-Geschichte, die sich Konzepten der traditionellen Zeugung, der hetero-normativen und der menschlichen Sexualität überhaupt widersetzt. Nach dem „Geschlechtsakt“ mit dem Auto, von dem sie auch etliche blaue Flecken davonträgt, ist Alexia schwanger, Maschinenöl fließt ihr aus Brüsten und Vagina, im Bauch wächst etwas (Menschliches? Maschinelles?) heran. Alexia liebt die Maschinen und tötet die Menschen. Der Typ, der sie vergewaltigen will, ist der erste. Es folgt eine Kollegin, die ebenfalls Tänzerin ist und mit der Alexia ein bisschen rummacht, nachdem sie sich beim Duschen in ihrem Brust-Piercing verfangen hat, doch natürlich ist es eher das Metall, das Alexa interessiert, weniger der Rest des Körpers. Nach dem ersten Kuss muss Alexa kotzen, dennoch begleitet sie die Tänzerin in ihre Wohngemeinschaft. Was folgt, ist ein Gemetzel à la Tarantino, komisch und erfindungsreich, unterlegt mit einem italienischen Schlager. Mitbewohner Nummer eins wird mit einem Hockerbein oral gepfählt. Mitbewohnerin Nummer zwei flieht in ihr Zimmer, um später auf der Treppe erlegt zu werden, während ein schlaftrunkener Mitbewohner Nummer drei auftaucht und Alexia für einen Moment resigniert: Wie viele von euch gibt’s noch? Könnt ihr euch bitte mal selbst aus dem Verkehr ziehen?

Foto: Koch Films

Alexia legt Feuer im Haus ihrer Eltern, die in den Flammen umkommen, um dann abzuhauen und die Identität zu wechseln. Sie rasiert sich die Haare, bricht sich die Nase – eine irre Szene, in der sie ihren Schädel wiederholt gegen die Ecke eines Waschbeckens schmettert, um den Knochen zu zertrümmern – und bindet sich Brüste und Bauch ab. Aus Alexia wird Adrien, ein vermisster Junge. Dessen tottrauriger Vater, ein Feuerwehrmann, akzeptiert den vermeintlich Zurückgekehrten als seinen Sohn und nimmt ihn mit auf seine Wache – eine reine Männerwelt, die von der Erscheinung des junge Mannes zunehmend irritiert und transformiert wird.

Aus der ursprünglichen Entfremdung von jeglichem „natürlichen“ menschlichen Körper, jedem „natürlichen“ Geschlecht und jeder „natürlichen“ Identität entwickelt „Titane“ eine unglaubliche erzählerische Kraft. Bei Ducournau gibt es keine von den Körpern entfremdete Narration, der sie sich unterwerfen, sondern die Körper befinden sich selbst von Anfang an in einem Zustand fundamentaler Entfremdung (von den Eltern, der Genealogie, den Menschen, der Tradition) und bilden somit selbst antinaturalistische Narrative aus Fleisch und Blut: (um)formbare und in ihrer Umformung erzählende Materie. Die „Handlung“ besteht in den Metamorphosen der Körper sowie in der Fluchtlinie ihres permanenten Identitätswechsels – wie in David Lynchs „Lost Highway“ (1997), wenn der Film in der Mitte noch einmal neu beginnt.

Die Motoren, die Autos, die fickende Limousine – all das korrespondiert gerade am Anfang auch mit Leos Carax‘ „Holy Motors“ (2012), diesem anderen exzeptionellen französischen Film, in dem sich ein Schauspieler durch Paris chauffieren ließ, um verschiedene Rollen zu spielen. Damals war das Auto der Ausgangspunkt einer Repoetisierung einer Welt, aus der die „großen Maschinen“ (die alten Kameras, das alte Kino) längst verschwunden waren. In „Titane“ bildet die Autofixierung aber nur einen Übergangspunkt zum Leben auf der Feuerwache, die Liebe zu den Autos weicht der Liebe zu Bränden, und was die Welt betrifft, so geht es in der Gegenwart nicht mehr um ihre Verzauberung, sondern um ihre Vernichtung.

Foto: Koch Films

Vor allem aber sind die Metamorphosen der Körper und der Erzählung in „Titane“ in erster Linie Metamorphosen des Geschlechts. Der Film erinnert darin an Bertrand Mandicos traumgleichen, von William S. Burroughs inspirierten „Wild Boys“ (2017), dessen ungezogene Protagonisten sich nach und nach unter dem Einfluss einer Südseeinsel in Frauen verwandelten. Im Gegensatz zu Mandicos floraler Vision von genderfluiden Körpern als verwelkenden und neu erblühenden Pflanzen begreift Ducournau den Körper von Alexia/Adrien jedoch als zugerichteten weiblichen* Maschinenkörper – mit Titan im Schädel, dem Kind eines Autos in der Gebärmutter und Motoröl in den Brüsten.

Im letzten Jahr stellten auch Audrey Diwans Venedig-Gewinner „Das Ereignis“ und Ninja Thybergs „Pleasure“ die Entfremdung ihrer weiblichen Protagonistinnen von ihren Körpern – qua Anti-Abtreibungsgesetzen und Pornografie – ins Zentrum. Die Singularität von „Titane“ im feministischen Gegenwartskino besteht jedoch darin, dass er – xenofeministisch – diese Entfremdung zelebriert, sie ästhetisch und emanzipatorisch produktiv werden lässt. Es gibt gelungene Filme, die weniger gemacht werden „wollen“, sondern gemacht werden, weil sie das, was sie zeigen, anklagen und denunzieren. Und es gibt Filme wie „Titane“, die ihre Existenz und Legitimation nichts weiter verdanken als der Lust derjenigen Person, die sie gewollt und gemacht hat. Jenseits aller narrativer Konventionen orientiert sich das freie Voranpreschen der Erzählung hier ausschließlich am Enthusiasmus, dass Körper und Dinge sich verändern, abbrechen, neu beginnen, sich mehr und mehr von ihren früheren Kontexten entfremden, in neuen Formen zu neuem Leben zu finden. Bis in seinen letzten gebrochenen Knorpel, seinen letzten blauen Fleck, seinen letzten Tropfen leckendes Motoröl ist „Titane“ ein Film, der gewollt wurde: ein (Maschinen-)Kind der Liebe, verwegen, gerissen und visionär.




Titane
von Julie Ducournau
FR/BE 2021, 103 Minuten, FSK 16,
französische OF mit deutschen UT und DF,
Koch Films

Ab 3. Februar auf DVD & BluRay erhältlich.

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