The Hours (2002)
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Drei Frauen in drei verschiedenen Epochen, verbunden über den Roman „Mrs. Dalloway“, hadern mit ihren Lebensentwürfen und kämpfen um ihren Lebenswillen: Stephen Daldrys Literaturverfilmung „The Hours“ aus dem Jahr 2002 gilt als Gipfel des edlen Arthouse-Mainstream-Kinos – mit drei Hauptdarstellerinnen, die zu den besten Schauspielerinnen aller Zeiten zählen; nach einer Bestsellervorlage mit dem Ruf der Unverfilmbarkeit; überhäuft mit unzähligen Preisen und Auszeichnungen. Tatsächlich ist der Film ein echtes „Kinowunder“, schreibt Andreas Köhnemann. Und vor allem: „ein Faszinosum mit bemerkenswerter queerer Sensibilität“.

Bild: Constantin
Berauschende Unwirklichkeit
Eine Hollywood-Produktion mit Star-Besetzung. Große Namen selbst in den Nebenrollen. Zahlreiche Nominierungen und Auszeichnungen auf Festivals und Preisverleihungen. „The Hours“ ist zum einen gehobenes Mainstream-Kino – anspruchsvolle Unterhaltung für ein breiteres Arthouse-Publikum. Doch zum anderen ist dieser Film von Stephen Daldry ein einzigartiges Faszinosum: die Adaption eines als unverfilmbar geltenden Romans, der sich wiederum ganz wesentlich auf einen anderen, betont experimentellen Roman aus dem Jahr 1925 bezieht. Mit einer Geschichte, die kaum von äußeren Handlungen lebt, sondern sich auf die inneren Welten der Figuren konzentriert, um Gefühle der Entfremdung und des Bedauerns zu vermitteln. Und beinahe nebenbei ist „The Hours“ ein Film mit bemerkenswerter queerer Sensibilität, der von unterdrücktem Verlangen, von Ausbruchsbemühungen, Desillusion, aber auch von allmählichem Fortschritt erzählt.
Der 1998 veröffentlichte Roman „Die Stunden“ von Michael Cunningham verknüpft die Schicksale dreier Frauen auf drei Zeitebenen miteinander. In kurzen, einander abwechselnden Abschnitten, die jeweils mit dem Namen einer der Protagonistinnen betitelt sind, schildert der Autor die Gedanken seiner Heldinnen, die alle auf ihre Weise mit dem Roman „Mrs. Dalloway“ und damit miteinander verbunden sind. Im Kern begleiten wir die Figuren für je einen Tag: So hält sich die britische Schriftstellerin Virginia Woolf im Jahr 1923 mit ihrem Ehemann Leonard in einem kleinen Ort in der Nähe von London auf. Nach zwei Suizidversuchen wird sie streng von Ärzten überwacht, sie fühlt sich wie eine Gefangene. Als der Besuch ihrer Schwester Vanessa mit deren drei Kindern ansteht, beginnt Virginia mit der Arbeit an ihrem neuen Buch und findet hierfür den ersten Satz: „Mrs. Dalloway sagte, sie wolle die Blumen selbst kaufen.“
Den vollendeten Roman „Mrs. Dalloway“ liest die Hausfrau Laura Brown, die im Jahr 1951 mit ihrem Ehemann Dan und dem gemeinsamen kleinen Sohn Richie in einem Vorort von Los Angeles wohnt und gerade das zweite Kind erwartet. Sie „versucht sich zu sammeln, indem sie sich Zugang zu einer Parallelwelt verschafft“, heißt es bei Cunningham. Ihr Vormittag besteht darin, eine Geburtstagstorte für Dan zu backen. Nachdem sie ihren Sohn bei einer Nachbarin abgibt, sucht sie ein Hotelzimmer auf, um sich dort das Leben zu nehmen. Sie ändert ihren Plan allerdings wieder und kehrt nach Hause zurück, vorerst.
Im Jahr 2001 wiederum trifft sich die New Yorker Lektorin Clarissa Vaughan mit ihrem langjährigen Freund Richard Brown, einem an Aids erkrankten Schriftsteller. Er nennt Clarissa „Mrs. Dalloway“, da ihr Wesen dem der fiktiven Heldin gleiche. Sie lebt seit zehn Jahren in einer Beziehung mit ihrer Freundin Sally Lester und hat eine Tochter, die aufs College geht. An diesem Tag bereitet sie eine Party zu Ehren von Richard vor, der einen wichtigen Literaturpreis gewonnen hat. Einst waren Clarissa und Richard für einen Sommer lang ein Paar; kurz darauf kam er mit Louis Waters zusammen, der nun (als Ex-Freund) ebenfalls zur Feier erscheint.

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Der Drehbuchautor David Hare hat die einzelnen Passagen um die drei Frauen noch enger miteinander verzahnt als in der literarischen Vorlage. Auf inszenatorischer Ebene nutzt Daldry gemeinsam mit seinem Editor Peter Boyle nicht nur die Parallelmontage, sondern häufig auch Match Cuts, die diverse Formen, Bewegungen und Dialogzeilen von einer Szene in der nächsten aufgreifen und damit den Eindruck fließender Übergänge erzeugen. Figuren, die räumlich und zeitlich weit voneinander entfernt sind, können sich dank der Montage und der Kameraarbeit von Seamus McGarvey scheinbar anblicken. Situationen spiegeln sich und lassen dabei feststehende Strukturen erkennen, zuweilen jedoch auch Entwicklungen im Laufe der Jahrzehnte. Die Musik des Komponisten Philip Glass hält die drei Erzählstränge auf einem emotionalen Level zusammen und sorgt für eine dichte Atmosphäre.
Alle drei Protagonistinnen hadern mit ihrem Leben. „Wieso ist alles verkehrt?“, heißt es an einer Stelle ernüchtert. „Ich hatte gedacht, sie würde gelingen“, bemerkt Laura enttäuscht, als sie die fertige Geburtstagstorte sieht – und meint damit genauso ihre gesamte Vorort-Existenz als Gattin und Mutter. Laura ringt mit den Erwartungen, die sie an sich selbst stellt und die sie in ihrem Umfeld spürt. „Was, fragt sie sich, ist bloß mit mir los? Dort, in der Küche, ist ihr Mann; dort ist ihr kleiner Sohn. Der Mann und der Junge verlangen gar nicht viel von ihr, nur ihre Anwesenheit und ihre Liebe natürlich.“ Auf das Seelenleben der Figuren gerichtete Passagen wie diese, die einen Großteil des Romans von Cunningham ausmachen, übersetzt der Film in Blicke und Gesten – und kann sich dabei mit Nicole Kidman (Virginia), Julianne Moore (Laura) und Meryl Streep (Clarissa) auf drei Schauspielerinnen verlassen, die kaum Worte brauchen, um komplexe psychische Prozesse auszudrücken.

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Eingerahmt sind die drei Geschichten von Virginias Selbstmord im Jahr 1941. Wenn wir im Strang aus dem Jahr 1923 sehen, wie sich die Schriftstellerin bemüht, an ihrem Lebenswillen festzuhalten, wissen wir schon, dass sie den harten Kampf gegen ihre Depressionen verlieren wird. Der Film romantisiert die Selbsttötung nicht; die tiefe Tragik wird deutlich. Zugleich setzt er aber auch nicht auf die naiv-kitschige Formel, dass eine Entscheidung für das (Über-)Leben automatisch zu einem Happy End führen wird, das macht das Schicksal von Laura deutlich. Wie wir später erfahren, wird sie ihre Familie kurz nach der Geburt ihres zweiten Kindes verlassen. Ihr Versuch einer Selbstverwirklichung geht mit lebenslangen Schuldgefühlen einher. Wir erleben sie im Jahr 2001 als einsam wirkende Frau wieder, die weiß, dass ihr Sohn – Richard, früher Richie genannt – ihr nie vergeben hat. Sie trifft auf Clarissa, die durch Lauras Worte begreift, dass sie nicht dem Vergangenen nachhängen darf, sondern wertschätzen sollte, was sie hat. Auch dieser Erkenntnisgewinn muss im Skript nicht ausbuchstabiert werden, sondern teilt sich während Julianne Moores Monolog vor allem durch Reaction Shots auf Meryl Streeps Gesicht mit. Ein vielschichtiger innerlicher Vorgang, erzählt durch die Augen einer Meisterin ihres Fachs.
Schon die namhafte Besetzung (darunter etwa noch Ed Harris, Claire Danes, Toni Collette und Miranda Richardson) sowie die edle Optik, nicht zuletzt durch das bis ins Detail durchdachte Kostümdesign von Ann Roth, machen „The Hours“ für cinephile Zuschauer:innen ganz allgemein attraktiv. Zu einem modernen Queer-Cinema-Klassiker wird der Film wiederum nicht nur dadurch, dass er sich mit Virginia Woolf befasst – der Autorin des subversiven queeren Schlüsselromans „Orlando – eine Biographie“ (1928), in dem die Titelfigur im Verlauf der Handlung ihr Geschlecht wechselt. Sondern auch durch die mannigfaltige Art, wie er queeres Begehren in unterschiedlichen Ären betrachtet.
Mit zögerlichen Gesten im Umgang mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn, immer im raschen Wechsel zwischen Antriebslosigkeit und übersteigerter Euphorie, bringt Moore Lauras Gefühl zum Ausdruck, die Rolle einer heteronormativen (Haus-)Frau und Mutter performen zu müssen, obwohl diese nicht zu ihr passt. Als „stünde sie hinter den Kulissen, müßte gleich auf die Bühne und in einem Stück auftreten, für das sie nicht entsprechend gekleidet ist, das sie nicht genügend geprobt hat“, heißt es an einer Stelle im Roman. Als Laura aus einem spontanen und emotionalen Impuls heraus ihre Nachbarin Kitty küsst, offenbart sich für einen kurzen Augenblick ihre Sehnsucht nach einem anderen Leben, in dem sie nichts verbergen, sich nicht verstellen muss. Ein Moment, der sich im Strang um Virginia in den 1920er Jahren spiegelt, als diese ihrer Schwester zum Abschied überraschend einen mit Leidenschaft aufgeladenen Zungenkuss gibt.

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Clarissa ist in ihrem Leben weniger eingeschränkt als Virginia und Laura, aber nicht frei von inneren Widerständen und Hemmungen, die sie unglücklich machen. Damit ist sie, ebenso wie ihr Freund Richard, eine typische Cunningham-Figur. Das Verhältnis zwischen den beiden ähnelt in mancher Hinsicht dem des Duos Clare und Jonathan im Roman „Ein Zuhause am Ende der Welt“, den der Autor 1990 veröffentlicht hat. Beide Figurenpaare wünschen sich geistige und körperliche Freiheit, wagen Experimente und stoßen dabei an ihre Grenzen. In „Die Stunden“ schreibt Cunningham über Clarissas Beziehung zu Richard: „In jenem Sommer, als sie achtzehn war, schien alles möglich, einfach alles. Sie meinte, ihren so ernsten, überlegenen besten Freund drunten am Teich küssen zu können, sie meinten, in einer seltsamen Mischung aus Lust und Unschuld miteinander schlafen zu können, ohne sich darum zu kümmern, was es, wenn überhaupt etwas, bedeutete.“
Wenn Clarissa im Film gegenüber Richards Ex-Freund Louis oder gegenüber ihrer Tochter Julia von Richard spricht, ist in Streeps gedankenversunkenem Tonfall, im Schimmer eines Lächelns die von Cunningham beschriebene „berauschende Unwirklichkeit des Ganzen“ zu spüren, die Clarissa und Richard damals verband. Die Szenen, in denen die beiden in Richards Apartment miteinander interagieren, sind geprägt von einem Mix aus unverbrüchlicher Nähe und einer Distanz, die nur zwischen Menschen besteht, die einander alles bedeuten und doch stets daran scheitern, eine gesunde gemeinsame Beziehung aufzubauen. Erst am Ende des Tages, an dem wir Clarissa begleiten, scheint sie dazu in der Lage zu sein, loszulassen und sich wirklich auf ihre Partnerin Sally einzulassen.
„The Hours“ ist vieles. Ein feinfühliges historisches Biopic über eine queerfeministische Ikone. Eine klischeefreie Hommage an Technicolor-Melodramen zu Zeiten des Hollywood-Studiosystems, von Regisseuren wie William Wyler („Die besten Jahre unseres Lebens“, 1946) oder Douglas Sirk („Was der Himmel erlaubt“, 1955). Und eine raue urbane Charakter- und Milieustudie im US-Indie-Stil der frühen 2000er Jahre. All das ist absolut zwingend, stimmig und kunstvoll ineinander verwoben. Ein Film sui generis, ein echtes Kinowunder, in dem alle Gewerke miteinander Perfektion erreichen.
The Hours
von Stephen Daldry
US/UK 2002, 114 Minuten, FSK 12,
englische OF mit deutschen UT; deutsche SF
Auf DVD und VoD