The Five Devils

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Die achtjährige Vicky hat eine geheimnisvolle Gabe: Sie kann mit allerlei Zutaten jeden beliebigen Duft reproduzieren. Als eines Tages ihre lange verschwundene Tante auftaucht, will das Mädchen auch ihren Duft nachbauen – und stürzt dabei in eine Zeitreise, in der sie einem düsteren Geheimnis auf die Spur kommt. Der zweite Film der französischen Regisseurin Léa Mysius ist eine wunderbare wilde und stilsichere Mischung aus Mystery-Thriller, Familiendrama und queerer Liebesgeschichte. Cosima Lutz über einen Film, der vom Verstehenwollen, vom Begehren und einem großem Feuer erzählt, das alles verändert.

Foto: Mubi

Ein Geruch wie getorfter Whisky

von Cosima Lutz

Die Liebe ist es, die ins Schwarze trifft. Das Beben, das sie dabei verursacht, zieht in Wellen seine Kreise, es dehnt sich aus in alle Richtungen und hebt, was sich in der Sicherheit geregelter Zugehörigkeiten wähnte, sanft aus der Bahn. Léa Mysius’ zweite Regiearbeit „The Five Devils“ entfaltet sich wie eine solche Liebe, nur in umgekehrter Richtung: Der Film zeigt zuerst die unheimlichen Wellen und nähert sich dann in atemberaubender Langsamkeit dem Einschlag.

Schon in ihrem magisch-realistischen Debüt „Ava“ (2017) über eine Dreizehnjährige, die allmählich erblindet und vor ihrer endgültigen Sehunfähigkeit einen intensiven Sommer am Meer verbringt, ließ die französische Filmemacherin gleich zu Beginn etwas Schwarzes wie die Epiphanie einer bald eintreffenden Liebe aufscheinen: Im gleißenden Licht eines Badestrandes trabt da ein schwarzer Hund durchs bunte Gewimmel, wie ein grafisches Zeichen aus Tinte. Unheimlich wirkt er, ein Ziel scheint er zu verfolgen. Er frisst aber einfach nur die Pommes, die ein dösendes Mädchen auf seinem Bauch abgestellt hat. Als es erwacht und dem Tier fasziniert folgt, trifft es jenen jungen Mann, in den es sich verlieben wird.

Die Farbregie von Mysius’ mit Spannung erwartetem zweiten Film „The Five Devils“ setzt einen Kontrapunkt zum lichtdurchfluteten Debüt. In seinem Hang zum Horror-Genre legt er dabei aber noch deutlicher die Spur eines dunklen Geheimnisses aus. Mitten in den französischen Alpen, in einem Bergdorf, das von fünf Gipfeln namens „Les Cinq Diables“, die fünf Teufel, umschlossen ist, was natürlich an David Lynchs „Twin Peaks“ erinnert, wirkt alles eng und finster. Zeitreisen scheinen eine ernstzunehmende Option, um es hier auszuhalten. In einer Straße voller gleichförmiger Einfamilienhäuser, getaucht in kalte Grau-, Braun- und Blautöne, lebt die junge Schwimmlehrerin Joanne mit ihrer achtjährigen Tochter Vicky. Die Kleine mit ihrer üppigen Afro-Haarpracht wird in ihrer Klasse als „Klobürste“ gemobbt und wehrt sich nicht. Ebensowenig offenbart sie sich ihrer Mutter, an der sie buchstäblich hängt, wenn sie sich im Schlaf in deren Haar festkrallt.

Sequenz für Sequenz wirft der Film zunächst lauter Fragen auf: Hält das Kind das Mobbing womöglich für berechtigt? Sagte nicht schon Ava, die Heldin aus Mysius’ Debüt, von sich selbst, sie sei „dunkel und unsichtbar“, außerdem „böse“? Welches Unglück hat alle Freude aus dem Wesen von Vickys Mutter gelöscht? Warum zoomt Paul Guilhaumes Kamera (es wird sehr viel gezoomt in diesem Film) im örtlichen Schwimmbad, in dem Joanne Wassergymnastikkurse hält, so demonstrativ auf ihr Hochzeitsbild, auf dem sie wie festgefroren lächeln, sie und ihr senegalesischer Bräutigam? Ist er tot?

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Es ist alles ganz anders und wird immer seltsamer. Ihr Mann Jimmy lebt durchaus. Vorsichtig löst er, als er abends von seiner Arbeit als Feuerwehrmann zurückkommt, die Finger seiner Tochter Vicky aus Joannes Haar und trägt das schlafende Kind zu Bett. Was also ist das Problem? Ein ruhiges Familienleben spielt sich ab, doch die tristen, ausweichenden Blicke und der von naturhaften Klack-, Brumm- und Heultönen unterwanderte Score weisen darauf hin, dass sich hier alle Figuren einander mehr oder weniger unheimlich sind.

Da ist zum einen die Sprachlosigkeit zwischen den Eltern, die Vicky registriert: Wenn Vater und Mutter etwas bereden, schließen sie vor dem Kind die Tür. Da ist zum anderen Vickys seltsame Begabung: Das Mädchen nimmt noch die entlegensten Düfte wahr, etwa den Atem eines bestimmten Nagetiers auf einem Tannenzapfen. Gerüche, die ihr wichtig sind, braut sie aus allerlei Zutaten nach und archiviert sie in Gläsern. „Maman 3“ steht auf einem, es gibt aber auch „Maman 1“, ihre Mutter gibt es olfaktorisch also in mehreren Varianten, und Vicky will sie verstehen. Als Joanne die Fähigkeit ihrer Tochter entdeckt, wirkt sie erschrocken. Sie erzählt ihrem alten Vater davon, der immer mal wieder durch rassistische und homophobe Kommentare auffällt, wie sie in dem Dorf offenbar üblich sind. Patrick Bouchitey spielt diesen Vater, der wohl oder übel mit der angeheirateten schwarzen Verwandtschaft interagieren muss und seine Enkelin offenkundig mag, als ambivalente Figur: Er genießt Joannes Vertrauen und verpackt seinen Hass gegen PoCs und Homosexualität in fröhlich spöttische Fürsorglichkeit. Ihrem ruhigen, korrekten und scheinbar für offene Kommunikation einstehenden Mann Jimmy gegenüber hält Joanne Vickys Begabung hingegen geheim. Sie fürchtet, sagt sie, er würde die Tochter zum Psychologen schicken.

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Jede Verheimlichung legt eine Spur zur nächsten. Da ist Joannes Kollegin Nadine, vor der sich die kleine Vicky fürchtet: Nadines halbes Gesicht wirkt von Brandnarben wie zerschmolzen. Gibt es einen Zusammenhang zum Feuer, das zu Beginn des Films zu sehen war? Und dann kommt auch noch, nach einem Jahrzehnt der Funkstille, Jimmys jüngere Schwester Julia auf Besuch. Als ihr Taxi vorfährt – erst zu weit, weil jedes Haus gleich aussieht –, stellt sich die Frage, wer hier wem unheimlicher ist: Aus Julias Sicht stehen Joanne, Jimmy und Vicky starr wie Holzpuppen in der Einfahrt, nur Jimmy winkt mechanisch und lächelt gequält. Umgekehrt löst Julia ein leises Grauen aus, als sie aus dem Wagen steigt: Ihr Gesicht ist schief, ein Augenlid hängt herab. Ist sie ein Geist? Ist sie böse? „Sie riecht nach getorftem Whisky“, stellt Vicky missbilligend fest.

Gerüchte machen im Dorf die Runde, und Vicky macht sich mit finsterem Eifer an die Rekonstruktion von Julias Geruch. Mysius versteht es, mit den Mitteln des Familiendramas, des Mystery-Genres und schließlich sogar des Liebesmelodrams die Fragen am Flackern zu halten: Mit wem stimmt hier etwas nicht? Mit Jimmys Schwester? Mit Joanne oder Vicky? Oder mit dem ganzen Dorf?

Im Begehren, zu verstehen, liegt per se immer auch eine Grenzverletzung. Und so wird die von Verheimlichungen umgebene Vicky mit ihrer Riechfähigkeit zum Medium, durch das im Film nach und nach die Wahrheit ans Licht kommt. Im Kulturbeutel ihrer Tante findet Vicky ein schwarzes Flakon. Aus der darin befindlichen Flüssigkeit, einem Stück aus Julias Pulli, toter Krähe und anderen hexenhaften Zutaten braut sie in einer Art Séance das Aroma „Julia“. Als sie erstmals daran schnuppert, fällt sie in einen tiefen Schlaf und findet sich in der Zeit vor ihrer Geburt wieder.

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Während alle Zeitreisen mit einem unlösbaren Logikproblem behaftet sind, bleibt hier dennoch alles in nachvollziehbare Abläufe gefasst. In den Erinnerungen ihrer damals noch lebenslustigen Teenager-Mutter kann niemand Vicky sehen, so, wie es in Träumen manchmal ist. Julia aber erscheint sie, die erschrickt sich dabei jedes Mal fast zu Tode und wird von ihrem Umfeld schon als „Psycho“ verdächtigt. Vicky erkennt auf diesen Ausflügen, dass ihre Mutter und Julia vor zehn Jahren ein Paar waren, und dass ihre Mutter ihrer Freundin helfen wollte, „das kleine Mädchen loszuwerden“. Was aber noch nicht Joannes feindselige Ablehnung ihrer Schwägerin in der Gegenwart erklärt.

Es ist der Umgang mit einem toten, mit Schwärze assoziierten Tier, der die beiden einander wieder näher bringt: Beim Zubereiten eines Tintenfischs fürs Abendessen wird der in ein Tuch gewickelt und auf die Anrichte gedroschen, bis er zu Boden fällt, Zahn und Tintenblase entfernen sie nicht. „Was machen wir jetzt?“ fragt Julia. „Wir sagen nichts und kochen ihn“, sagt Joanne. Fast rechnet man in dieser Gewalt- und Kicher-Szene schon damit, dass sich gleich alles dunkel färbt, aber dann passiert einfach etwas anderes: eine Sonnenfinsternis.

Zeitreisen sind im Film eine Möglichkeit, vom Eigentlichen zu erzählen, Karaoke-Szenen eine andere. Und so greift Mysius mit einem sturzbetrunkenen Dorfkneipen-Auftritt Joannes mit der äußerlich gefassten Julia zu Bonnie Tylers „Total Eclipse of the Heart“ mutig in die Liebesgeständnis-Trickkiste. Aber auf so herzergreifende Weise, dass sie damit ins Schwarze trifft. Erst ihre Tabuisierung hatte die Liebe zwischen zwei Frauen in etwas Finsteres verwandelt und das Schwarze mit dem Unguten verknüpft, das als Unheimliches, Unerlöstes wiederkehrt. Aber keine Sonnenfinsternis dauert ewig, und das Dunkle überstrahlt am Ende alles.




The Five Devils
von Léa Mysius
FR 2022, 96 Minuten, FSK 12,
französische OF mit deutschen UT

Jetzt im Kino.