Tandem – In welcher Sprache träumst du?
Trailer • Kino
Die 17–jährige Französin Fanny reist zum ersten Mal nach Deutschland. Bei ihrer Brieffreundin Lena in Leipzig will sie die Sprache der Nachbar:innen lernen. Fanny ist schüchtern und noch auf der Suche nach sich selbst, Lena hingegen weiß schon ziemlich genau, wo sie hin will, und engagiert sich als Ökoaktivistin. Nach einem holprigen Start werden die beiden Teenager schnell enge Freundinnen. Fanny will Lena unbedingt gefallen – und hat auch kein Problem damit, mit ihrer eigenen Biografie kreativ umzugehen. Mit einem raffinierten Drehbuch, zwei fabelhaften Newcomerinnen und magischen Kinobildern begibt sich „Tandem – In welcher Sprache träumst du?“ nicht nur auf die Suche nach einer Sprache der Wahrheit, sondern auch nach einer Sprache der Liebe. Für Barbara Schweizerhof ist Claire Burgers romantischer Freundinnenfilm zugleich ein großartiges Generationenporträt.

Foto: Julien Poupard / Les Films de Pierre / Port au Prince Pictures
Lovers for Future
Filme, die vom queeren Coming-of-Age erzählen, tragen oft schwer an ihrem doppelten Auftrag: Einerseits dem kulturpolitischen, für mehr Repräsentation von jungen LGBTQ+-Menschen auf der Leinwand zu sorgen, und andererseits dem pädagogischen, für eben diese Jugendlichen Vorbilder der Ermutigung zu liefern. Die Neigung zur Überdramatisierung von Coming-out-Momenten und launig-süßlichen Klischees, was die Figurenzeichnung anbetrifft, sind oft die Folge. Claire Burgers „Tandem“ aber schildert das Kennenlernen und Verlieben der Französin Fanny (Lilith Grasmug) und der Deutschen Lena (Josefa Heinsius) mit so viel Sinn für Realismus und Gegenwart, dass jeder Gedanke an Klischee oder Genrekonvention sofort vergeht. Was umso erstaunlicher ist, weil die 17-jährigen Schülerinnen Lena und Fanny mit ihren Sympathien für „Fridays for Future“-Aktivismus zu einer Generation gehören, die viele Ältere heutzutage regelrecht „triggert“.
„Tandem“ – damit ist zunächst der Schüler:innen-Austausch gemeint, der die Straßburgerin Fanny mit der Leipzigerin Lena zuerst zusammenbringt. Von Anfang an läuft dabei nichts so reibungslos, wie es die Initiatoren wohl geplant haben. Das beginnt schon damit, dass Fanny bei ihrer Ankunft am Leipziger Hauptbahnhof erstmal sichtlich verloren herumstreift, bevor sie Gastmutter Susanne (Nina Hoss) doch noch findet. Fanny spricht kaum Deutsch und wirkt verunsichert und verschlossen. Susanne versucht mit fließendem Französisch und viel Freundlichkeit auszugleichen. Aber so sehr sie sich auch bemüht, kann sie vor ihrem jungen Gast nicht verbergen, dass es um das Familienglück in ihrem Haus nicht gut bestellt ist. Sie bringt Fanny im Zimmer der „Zwillinge“ unter – „Sie sind die Söhne meines Partners Tobias.“ –, deren Abwesenheit sie nicht weiter erklärt. Ihre Austauschpartnerin Lena, mit der Fanny zuvor eine offenbar wenig intensive Brieffreundschaft unterhielt, lässt sich zur Begrüßung erst gar nicht blicken und reagiert am nächsten Morgen beim ersten gemeinsamen Frühstück abweisend und uninteressiert. „Sie soll siebzehn sein? Sie sieht aus wie zwölf“, sagt sie zu ihrer Mutter im Wissen, dass Fanny kaum Deutsch versteht. Dass Susanne ihre Tochter für ihr Verhalten rügt, kann die Französin allerdings dem Ton des Gesprächs entnehmen.
Wer eine ähnliche Situation schon einmal mitgemacht hat, als Unbekannte:r bei einer Familie unterzukommen, wird zu schätzen wissen, mit wie viel fein beobachteten Details Claire Burger die ambivalente Stimmung einer solchen Begegnung einfängt. Da ist der Blick ins intime Familienleben, der sich der Besuchenden offenbart, auch wenn Susanne sich bemüht, Dinge wie die noch nicht überwundene Trennung von ihrem Partner zu kaschieren. Da ist Fannys verdruckstes Verhalten, mit dem sie sich darum sorgt, nicht aufzufallen mit ihren Bedürfnissen. Und da ist jemand wie Lena, die mit dem Ehrlichkeits-Furor der rechtschaffenen Teenagerin keine Lust hat auf falsche Freundlichkeit. Ein peinlicher Moment reiht sich so an den anderen.
Seine Spannung bezieht der Film aus der zunächst antagonistischen Positionierung der beiden Hauptfiguren. Fanny merkt, dass sie kein wirklich willkommener Gast ist. Als die Mädchen unter sich sind, konfrontiert sie Lena mit der vermeintlichen Wahrheit: Sie, Lena, habe gar nicht gewollt, dass Fanny nach Leipzig komme. Fanny reagiert betroffen und stammelt etwas davon, dass sie keine Ahnung gehabt hätte und sowieso alles auf Initiative ihrer eigenen Eltern zurückginge. Fast schon sind sie übereingekommen, den Austausch vorzeitig abzubrechen, als Fanny mit zittriger Stimme davon erzählt, dass sie in ihrer Schulklasse in Straßburg gebullied wurde. Lena, die bis dahin mit der Taffness der sich moralisch überlegen Fühlenden auf Direktheit pochte, spitzt dabei die Ohren: das Thema Bullying weckt bei ihr sowohl Empathie als auch ihre Aktivismus-Instinkte. So radeln die beiden Mädchen doch gemeinsam am nächsten Tag zur Schule, wo Lena Fanny mit den Worten vorstellt: „Fanny ist jetzt einen Monat bei mir. Seid nett zu ihr, ok?“

Foto: Julien Poupard / Les Films de Pierre / Port au Prince Pictures
Claire Burger setzt ihre Figuren mitten ins Hier und Heute. Im Unterricht nehmen sie die „friedliche Revolution von 1989“ durch, in der Leipzig mit Nikolaikriche und Montagsdemonstrationen eine wichtige Rolle spielte. Dass die historischen Ereignisse der Wiedervereinigung als Unterrichts-Gegenstand einfließen, unterstreicht noch einmal, dass der Film aus der Perspektive der jugendlichen Protagonistinnen erzählt ist. Das Interesse an dem, was Proteste bewirken können, bildet eine Verbindung zwischen den unterschiedlichen Mädchen genauso wie das zögerliche Einblick-Gewähren in ihre jeweiligen Empfindlichkeiten. In einer Party-Szene „teilen“ sie sich auf so großzügige Weise die Zärtlichkeiten eines Jungen, dass mehr als unterschwellig ihr noch unausgesprochenes, gegenseitiges erotisches Begehren deutlich wird.
„Tandem“ ist zwar ein Coming-of-Age-, aber nicht gleichzeitig ein Coming-out-Film. Burger akzentuiert nicht die Tatsache, dass ihre Protagonistinnen ihre lesbische Identität entdecken – die wird hier als angenehm selbstverständlich behandelt – , sondern dass die Mädchen mit ihren schwierigen Charakteren sich gegenseitig „entdecken“. So lernt Fanny die Spannungen der komplexen Patchwork-Familie von Lena kennen, samt AfD-wählendem Großvater, der dem „alten Osten“ nachtrauert und einem fast zu freundlichen Ex-Stief-Papa, aber die miterlebten Konflikte bringen sie Lena näher, ebenso die dramatischen Geschichten, die Fanny wiederum aus ihrem Leben erzählt. Eine Freundin sei unfreiwillig schwanger geworden und suche dringend Hilfe. Später gesteht sie Lena die Existenz einer Halbschwester, die ihr Vater vor seiner Familie geheimhalte. Die Suche nach dieser „Justine“, die eine radikalen Klima-Aktivistin sein soll und damit für Lena besonders spannend wird, bildet dann den dramatischen Fokus des zweiten Teils, in dem Lena nach Straßburg kommt.

Foto: Julien Poupard / Les Films de Pierre / Port au Prince Pictures
Dort wird sie von Gastmutter Antonina (Chiara Mastroianni) mit viel Freundlichkeit und zurückhaltender Skepsis empfangen. Bald stellt sich heraus: Auch wenn Fannys Mutter Antonina und ihr Vater Anthar (Jalal Altawil) noch zusammen sind, ist auch diese Familie nicht ohne Spannungen. Nur dass sie hier eher zwischen den Eltern und der Tochter verlaufen.
Als Zuschauer:in mag man da die Alltagsdramen, die Fanny ein ums andere Mal erzählt, schon als das Aufmerksamkeits-Buhlen einer „Fantaseuse“, einer notorischen Geschichten-Erfinderin durchschaut haben. Aber Claire Burger gelingt es mit viel dramaturgischem Fingerspitzengefühl, die „Charakterfehler“ ihre beiden Figuren offenzulegen ohne sie einer Verurteilung zuzuführen. Selbst wenn man nicht sicher weiß, welche der Leidensgeschichten von Fanny nun wahr sind – dass das Bullying in der Schule real ist, bekommt sie am eigenen Leib zu spüren –, macht der Film zugleich die Gründe für ihr Verhalten sichtbar. Umgekehrt gilt auch für Lena: Ihre Bereitschaft zu politischem Aktivismus und zur moralischen Überreaktion entpuppen sich als Naivität, die ausgebeutet werden kann – aber doch letztlich ein guter Instinkt bleibt.

Foto: Julien Poupard / Les Films de Pierre / Port au Prince Pictures
Das Zauberhafte an Burgers Film besteht darin, dass gerade das Offenbaren ihrer Schwächen schließlich dazu führt, dass Lena und Fanny sich ihre Liebe gestehen können. Statt mit Überhöhung und Verblendung beginnt ihre Liebe so gewissermaßen mit Solidarität füreinander. Woraus der Eindruck resultiert, dass sie als Paar eine echte Chance haben.
Die Schlussbilder zeigen die Mädchen bei einem gemeinsamen Protest, bei dem sie ähnlich wie bei einer Klimakleber-Aktion den Räumungsaktionen der Polizei widersetzen. Burgers Film ist eben nicht nur ein verständnisvolles Porträt eines queeren Coming-of-Age, sondern zugleich eine großartige Darstellung der „Fridays for Future“-Generation mit ihren moralischen Ansprüchen, ihren Schwächen und ihrem großen Verlangen nach einer besseren Welt.
Tandem – In welcher Sprache träumst du?
von Claire Burger
FR/DE/BE 2024, 105 Minuten, FSK 12,
französisch-deutsch-englische OF
teilweise mit deutschen UT,
Port au Prince
Ab 24. Oktober im Kino