Sturmland

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Der Film „Sturmland“ von Ádám Császi traut sich, einen Traum zu formulieren, der vor erotischer Sehnsucht nur so platzt: wie sich drei Jungs aus nichts und im Nirgendwo ein Haus bauen, Bienen züchten und aus allem aussteigen wollen, was an Zwang vom sozialen Umfeld gewaltsam ins Spiel gebracht wird. Alles an „Sturmland“, der ab Donnerstag als Stream zum Ausleihen und Kaufen im Salzgeber Club zur Verfügung steht, ist so dramatisch, wie sein Titel andeutet – und kann als Meilenstein des ungarischen Kinos bezeichnet werden, schreibt unser Autor Malte Göbel.

Foto: Salzgeber

Verwehte Träume

von Malte Göbel

Szabi (András Sütö), ein junger Ungar mit Dreitagebart, traurigen Augen und fescher Föhnfrisur, ist der Star seines Fußball-Teams. Der knorrige Trainer nimmt ihn extra hart ran und raunzt ihm dann ins Ohr: „Du hast so viel drauf wie alle anderen Spieler hier zusammen!“ Szabi ist sich da nicht so sicher. Und der Druck ist zu viel: Ausgerechnet im wichtigsten Spiel des Jahres holzt Szabi seinem Gegenspieler die Beine weg, kassiert eine rote Karte und wird zum Buhmann seines Teams. Dann überwirft er sich mit seinem besten Freund, dem schmächtigen Bernard (Sebastian Urzendowsky) – und nimmt Reißaus: heim nach Ungarn, ins halb verfallene Haus seiner Großeltern.

Als „Sturmland“ im Februar 2014 bei der Berlinale seine Premiere hatte, wirkte der Film aus deutscher Sicht wie ein Kommentar zum Coming-Out von Ex-Profifußballer Thomas Hitzlsperger. Doch tatsächlich war der Eindruck falsch, es geht in dem Film nicht so sehr um Fußball. Fußball ist hier vor allem gesellschaftliche Drohkulisse, verkörpert die Erwartungen der Außenwelt, denen Szabi nicht gerecht wird – oder nicht gerecht werden will. Da ist der Macho-Trainer, da ist Szabis Vater, ein Ex-Profi, dessen sehnlichster Wunsch es ist, dass der Sohn in seine Fußstapfen tritt und als Fußballer in Deutschland Erfolg hat. Und da ist das Team der Halbstarken in Ungarn, das Szabi mitten in der Partie zusammenschlägt, weil er schwul ist.

„Sturmland“ ist also kein Fußball-Coming-Out-Drama. Es ist ein Sehnsuchtsdrama über ein Coming-Out unter widrigsten Bedingungen in der ungarischen Provinz: Szabi repariert das Haus seiner Großeltern mit der Hilfe eines Jugendlichen aus dem Dorf, Áron (Ádám Varga), und bald funkt es zwischen beiden gewaltig. Leider ist das Dorf total homophob, die eigene Mutter verpetzt den Sohn an dessen Kollegen in der Berufsschule. Zu allem Überfluss taucht auch noch Bernard in Ungarn auf und gesteht Szabi seine Liebe. So ist „Sturmland“ auch Eifersuchtsdrama und Dreiecksgeschichte.

All das inszeniert der Film in beeindruckenden Bildern. Man merkt, dass Regisseur Ádám Császi auch Maler ist. Er macht aus einem öden Krankenhausgang ein schillerndes Märchenbild, aus der großelterlichen Bruchbude ein verwunschenes Anwesen. Fast alle Kamera-Einstellungen sind so gut komponiert, dass man sie sich als Poster an die Wand hängen möchte.

Hinzu kommen die Aktaufnahmen junger Männerkörper, die Császi als homoerotische Häppchen anrichtet: jugendliche Fußballer unter der Dusche, Szabi und Bernard ohne T-Shirt beim Kiffen auf dem Großstadtdach, Szabi und Áron ohne T-Shirt auf dem Dachfirst beim Hausrenovieren, Szabi nackt bei der Katzenwäsche am Bottich, Szabi und Áron beim Baden, Bernard bei der Katzenwäsche, Szabi, Áron und Bernard beim Baden. Ästhetisch ambitioniert drapiert Ádám Császi die jungen Männer in das bruchreife Haus, neben das Mofa, neben den Waschzuber, auf ausgelaugten Ackerboden. Hört sich nach Softporno-Erotik an? Das ist gar nicht mal so falsch, auch wenn man so etwas in einem ungarischen Film zur Zeit nicht erwartet. Den Eindruck unterstützen die hölzernen Dialoge, wobei es davon glücklicherweise gar nicht so viele gibt: Regisseur Császi lässt seine Jungs viel schweigen und durch Blicke sprechen. Ádám Császi in einem Interview mit der Website cineuropa.org: „Ich musste mich auf das konzentrieren, was die Charaktere verbergen und was sie nicht ausdrücken können, viel mehr als auf das, was sie sagen und zeigen.“ Ist besser so.

In den schönsten Momenten wird so das Haus in der ungarischen Provinz zu einem Rückzugsort. Hier hämmern Szabi und Áron malerisch auf dem Dachfirst, hier züchten sie Bienen und ernten Honig – es ist eine mal männerbündlerische, oft entrückte Utopie. Hier ist kein Platz für das Getöse von Außerhalb, für die aggressiven Dorfjugendlichen, den brüllenden Fußballtrainer, den wütenden Vater Szabis, die jammernde Mutter Árons.

Foto: Salzgeber

Es gibt aber auch die Momente, in denen man als westlicher Zuschauer, der schon jede Menge Coming-Out-Filme gesehen hat, unwohl auf dem Stuhl herumrutscht: wenn die Dialoge misslingen, die Handlung allzu platt ist. Szabi prügelt sich ausgerechnet nackt unter der Dusche mit seinem Kumpel Bernard. In Ungarn dann versucht Áron Szabis Mofa zu klauen, der schlägt ihn k.o. und verfrachtet ihn anschließend in sein Bett, um ihn zu pflegen. Später, beim Haus-Renovieren, bricht über Szabi das Dach zusammen, und Áron bemuttert ihn zärtlich. Das ist sweet, aber klebrig-sweet. Und als Bernard aus Deutschland anreist und sich mit Áron eifersüchtig anzickt, braucht es nur eine Berührung, und auf einmal knutschen die beiden. Für eine Nacht wird aus der schwierigen Dreier-Konstellation ein Dreier-Idyll.

Noch mehr Klischee in Árons Familie: Er kümmert sich rührend um seine alte Mutter, beichtet ihr auch, dass da etwas zwischen ihm und Szabi ist – und diese plaudert es im Dorf aus, sagt dann ihrem Sohn: „Was ihr tut, ist widerwärtig! Ich kann gut für mich selbst sorgen“ – und er flieht zu Szabi. Na klar, so kann man eine Geschichte erzählen, aber irgendwie hat man das schon zu oft gesehen: Schwule als Opfer, Homosexualität als Drama. Alle haben etwas gegen die schönen, sensiblen jungen Männer, deren kurzes Glück doch zum Scheitern verurteilt ist.

Das Vorhersehbare an der Geschichte ist eher verzeihlich, wenn man den Hintergrund von „Sturmland“ bedenkt: In Ungarn regiert seit 2010 die national-konservative Fidesz-Partei, die das gesellschaftliche Klima entscheidend christlich-national, anti-liberal, antisemitisch und homophob prägt. Homosexualität kommt im öffentlichen Diskurs nur selten zur Sprache, das soll der Film ändern. „Ich will, dass die Leute über das Thema Homosexualität reden“, sagt Regisseur Ádám Császi. „Das größte Problem ist, dass LGBTQ-Themen nur sehr selten in unserer Gesellschaft diskutiert werden – als wäre das ein verbotenes Thema.“

Foto: Salzgeber

Was man vor einem deutschen Homo-Hintergrund augenrollend als Klischee wahrnimmt, soll die ungarische Hetero-Gesellschaft dazu einladen, das Schicksal der Figuren mitzufühlen, Empathie erwecken. „Ich will, dass das Publikum meine Charaktere kennen lernt, mit ihnen fühlt und sie dann so akzeptiert, wie sie sind“, sagt Czászi. „Das LGBTQ-Kino muss Öffentlichkeit schaffen und einen Dialog anregen. Das geht nur durch starke, sehr persönliche Erzählungen.“

Laut Wikipedia gibt es nur vier ungarische Filme, die sich überhaupt mit Homosexualität befassen. Zwar fehlt dabei der Film „Férfiakt“ (2006), aber „Sturmland“ kommt trotzdem eine Pionier-Rolle im ungarischen Kino zu. Wie schwer es ist, das Thema Homosexualität angemessen darzustellen, zeigt der ungarische Blockbuster „Coming Out“ (Winter 2013/14). Trotz des Titels handelt der Film nicht vom Coming-Out einer Lesbe oder eines Schwulen, sondern davon, wie man aus der (bösen) Homosexualität wieder herauskommt: Der offen schwul lebende Radiomoderator Erik will seinen Partner Balázs heiraten. Nach einem Motorradunfall merkt er aber, dass er in Wahrheit auf Frauen steht – und verliebt sich in seine Ärztin Linda.

Obwohl mit „Coming In“ ein ähnliches Thema in einem deutschen Film erzählt wird, sehen Kritiker den ungarischen „Coming Out“ als direkten Ausdruck der Doktrin der Fidesz-Regierung: Familie fördern, Geschlechterrollen zementieren, Homosexualität als veränderbar und damit behandelbar darstellen. Die Historikerin Eva Balogh kritisiert in ihrem Blog Hungarian Spectrum: „Dieser Film reflektiert die erfundene Welt von Orbáns Ungarn. Sie fälschen Geschichte, sie fälschen Wissenschaft: Alles ist gut, solange die Propagandamaschine der Regierung, unter Mithilfe der Kirchen, die Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigt.“ Die Publizistin verließ nach dem Scheitern der ungarischen Revolution 1956 ihre Heimat und zählt seitdem zu den stärksten Kritikern der Politik ihrer Heimat – auch und gerade nach dem Ende des Kalten Krieges. Sie rühmt „Sturmland“ in diesem Zusammenhang, weil er die Realität in Ungarn zeige, „die schreckliche Logik zwischen eigener unterdrückter Homosexualität und tödlichem Hass auf Homosexuelle“ (zitiert sie aus einer Rezension der Berliner Zeitung). Vor diesem Hintergrund erscheint „Sturmland“ als Meilenstein des ungarischen Kinos, dem viel Aufmerksamkeit zu wünschen ist.




Sturmland
von Ádám Császi
HU/DE 2014, 105 Minuten, FSK 16,

deutsch-ungarisch-englische OF, teilw. mit deutschen UT,
Salzgeber

Hier auf DVD.

vimeo on demand

VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)


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