Rudolf Hanslian: Stephan

Buch

Noch immer gibt es neue literarische Facetten aus der Zeit des Nationalsozialismus zu entdecken. Durch einen Zufallsfund wurde ein Manuskript bekannt, in dem sich der deutsche Kampfgas- und Luftschutzexperte Rudolf Hanslian als griechisch empfindender Jünglingsliebhaber „outet“. Dabei gelingt es ihm, Debatten über die Zukunft des Nationalsozialismus, pädagogischen Eros und erschütternde Fakten über die stattfindende Schwulenverfolgung in einem Roman zusammenzubringen – das Amalgam von Wunschtraum und Wirklichkeit, eingerahmt von einer Bergtour durch die Alpen. Starker Tobak, findet auch unser Autor Elmar Kraushaar.

„Die Summe reicher Erfahrungen“

von Elmar Kraushaar

Was für ein Fund! Der Berliner Student Johann Jakob Daume entdeckt auf dem Dachboden des Pfarrhauses in Königshorst einige Erbstücke seines Großvaters Martin Minke, dereinst Pfarrer im brandenburgischen Havelland. Ein in Packpapier eingeschlagenes Paket kann Daume vor der Entsorgung in die Altpapiertonne retten. Der Inhalt: neben Tagebuchaufzeichnungen das Romanmanuskript eines gewissen Rudolf Hanslian, Onkel des Pfarrers.

Nähere Recherchen ergeben, dass Hanslian das Manuskript vor mehr als 70 Jahren niederschrieb, die Zeitumstände verhinderten aber die Publikation. Geplant war, den Roman als ein Stück Aufklärungsliteratur zum Thema Homosexualität herauszubringen. Die Geschichte, aufgezeichnet im Jahr 1940, scheint fast authentisch die Liebesgeschichte zwischen dem 58-jährigen Chemiker Rudolf Hanslian und Stephan, einem 21-jährigen Studenten aus Luxemburg zu erzählen. Beide begegnen sich im Juni 1940 im Münchner Hofbräuhaus, Hanslian ist von Berlin kommend auf der Durchreise an seinen Urlaubsort Krimml im Salzburger Land, und Stephan von Halén studiert in München Chemie. Nach kurzem Gespräch sind die beiden einander zugetan und werden Freunde, ganz nach „griechischem Vorbilde“, wie es Doktor Rainer – so Hanslians Alter Ego im Roman – formuliert.

Sommer 1940, Deutschland befindet sich im Zweiten Weltkrieg, im Juni marschieren Wehrmachtsverbände in Paris ein, Teile von Frankreich werden besetzt. Der Englische Garten in München ist voller Bombeneinschläge. Von all dem ist in den Aufzeichnungen des Autors kaum etwas zu lesen, der Krieg findet eigentlich nicht statt. Zwar fällt ihm auf, dass nur wenige junge Männer auf den Straßen Münchens unterwegs sind und dass es einige Einschränkungen gibt im Angebot der Cafés und Wirtshäuser. Aber Hanslian hat nur Augen für seinen neuen Geliebten, „eine anmutig jugendliche, gut angezogene Erscheinung (…) von einer geradezu klassischen Schönheit“.

Der Rückgriff auf die Klassik, die griechisch-römische Antike, wird zum bestimmenden Element der ganzen Liebesgeschichte. Doktor Rainer hat in Stephan seinen kongenialen Partner gefunden, er kennt sich in den Geschichten der griechischen Götter und Philosophen genauso gut aus wie er selbst. „Der Lebenskamerad“, wie Doktor Rainer an anderer Stelle schreibt, wird „seine Ergänzung“. In Zeiten größter Bedrohung für eine Liebe unter Männern scheint die Flucht in die Schönheit und Harmonie der Antike die einzige Möglichkeit eine Idylle zu leben, zwischen alpinen Spaziergängen und ersten Zärtlichkeiten, zwischen sexuellem Erleben und platonischem Gedankenaustausch.

Dass homosexuelle Männer gerade in diesen Jahren verfolgt, verhaftet und ermordet werden, kommt zunächst nicht vor in diesem Roman, bis Doktor Rainer dann doch seinem Geliebten erzählen muss:  von seiner Verhaftung im Jahr 1937 im Rahmen von Erpressungsermittlungen im Zusammenhang mit dem Paragraphen 175. In der Untersuchungshaft lernt Hanslian junge Schwule kennen und Männer seines Alters, alle verfolgt in Sachen 175, auf „etwa 70 % Homosexuelle“ schätzt er die Zahl der Mitgefangenen in seiner Abteilung. Hier erfährt er in Lebens- und Schicksalsberichten von den unmenschlichen Bedingungen, unter denen seinesgleichen seit Jahren schon inhaftiert und eingeschlossen wurden, von der Folter, die sie erleiden mussten in Polizeihaft wie in Konzentrationslagern. Nach Monaten der Untersuchungshaft wird Hanslian „wegen Vergehens gegen den Paragrafen 175“ zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Nach verbüßter Haft nimmt er endgültig Abschied vom System des Nationalsozialismus, dem er in den Jahren zuvor, trotz ständiger Zweifel, immer wieder versucht hat, loyal zu dienen: „Als die Tür hinter mir ins Schloss fiel, erkannte ich blitzartig, dass damit auch jede Verbindung zwischen mir und diesem Staat endgültig gelöst war.“ Mit dem Ende dieser Erzählung über seine Haftzeit bestätigt er die tiefsitzenden Bedenken seines geliebten Stephan, der sich immer wieder als Gegner Hitlers und der Nationalsozialisten äußert.

Mit diesem Kapitel über die Verfolgung homosexueller Männer vervollständigt sich tatsächlich des Autors Anspruch, die Nachwelt über das Phänomen Homosexualität umfassend aufzuklären: von den Wonnen der mann-männlichen Liebe über den Verweis auf den Nutzen homosexueller Beziehungen für die Gesellschaft und die Frage nach der Entstehung der Homosexualität bis hin zu den Schilderungen ihrer größten Gefährdung und Verfolgung. Um diese hehre Absicht zu erkennen muss man sich durch ungewohntes sprachliches Gestrüpp bemühen: lange, verschlungene Sätze, selbstverliebte Formulierungen und eine Überfrachtung mit Zitaten aus verschiedenen Epochen der Musik-, Geistes- und Literaturgeschichte. Vor allem diese Zitate sollen offenbar den einen Zweck erfüllen, den Bildungsstand des Autors und seine herausgehobene gesellschaftliche Stellung nachdrücklich zu belegen, so als gelte es, ein mögliches Gefühl der Inferiorität weitschweifig auszugleichen.

Unbedingt zu dem Roman gehört das sehr kundige Nachwort von Detlef Grumbach. Hier erfahren wir genaueres über die Karriere des Chemikers, Giftgas- und Luftschutzexperten Hanslian, über sein Wirken nach dem 1. Weltkrieg und während des Naziregimes, bis hin zu seinen publizistischen Tätigkeiten nach dem 2. Weltkrieg, als Herausgeber der „Apotheker Zeitung“, der „Chemiker-Zeitung“ und der „Zeitung Ziviler Luftschutz“. Ein Jahr vor seinem Tod im Jahr 1954 wird ihm „in Anerkennung der um die Bundesrepublik erworbenen besonderen Verdienste“ das Verdienstkreuz verliehen.

Besondere Berücksichtigung erfährt im Nachwort auch die Frage nach der Authentizität dieser idealen Liebesgeschichte zwischen Doktor Rainer und dem Studenten Stephan. Hat sich diese Beziehung wirklich so abgespielt, wie der Text suggeriert? Ist der Roman tatsächlich die exakte Chronik dieser Verbindung? Was aus dem Autor geworden ist nach diesem Sommer mit Stephan, lässt sich rekonstruieren – aber wie geht die Geschichte des Titelhelden weiter? Aufschluss darüber findet sich möglicherweise in den Tagebuchaufzeichnungen aus dem Nachlass: „So deckt sich die Erzählung des Doktors restlos mit wirklichem Geschehen, während die Rahmenhandlung die Summe reicher Erfahrungen bringt, und so haben mir auch für die innere und äußere Gestaltung des Haupthelden Stephan viele Jünglinge Modell gestanden.“




Stephan

von Rudolf Hanslian
Kartoniert, 318 Seiten, 24 €,
Männerschwarm Verlag

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