Rudi Nuss: Die Realität kommt

Buch

Welche Zukunft, welche Identität, welches Dasein wollen wir leben? Im Debütroman des Berliner Lesebühnen-Chamäleons Rudi Nuss gibt es auf diese Fragen tausend und keine Antwort. Die Geschichte um Erzähl-Ich Conny ist weniger eine stringente Erzählung als ein unerschöpfliches Feuerwerk aus skurrilen Ideen, verschrobenen Charakteren und verblüffenden Wendungen. Dass dabei Geschlechtermodelle über den Haufen geworfen werden, ist noch der vorhersehbarste Kunstgriff im mal surrealen, mal hyperrealen Ideenkosmos des queeren Geistes Rudi Nuss, dessen Herkunft auf seiner Website mit folgenden Worten umrissen wird: „Seine Familie hat den größten Teil ihres Lebens an einem der größten und schönsten Atomkraftwerke Russlands gelebt.“ Anja Kümmel strahlt jedenfalls mit.

Dieses glitchy Flimmern

von Anja Kümmel

Wer ein Faible hat für die morbide Schönheit des Zerfalls, wird an Rudi Nuss‘ Debütroman „Die Realität kommt“ seine helle Freude haben: Da gibt es das fiktive Küstenstädtchen Enden mit seinem verseuchten Meer, dessen Gischt Handys, Bildschirme und Neonröhren gebiert; am Strand verrottet ein an einem Kühlschrank erstickter Blauwal, „und manchmal versank nachts ein Reh bei der Nahrungssuche im Schrott, schrie einen kurzen Rehschrei und wurde von einer rostigen Gardinenstange aufgespießt“. Inmitten dieser postapokalyptischen Umgebung, angesiedelt irgendwann in einer nicht allzu fernen Zukunft, lebt das genderfluide Erzähl-Ich Conny zusammen mit dem schwulen Paar Nikita und Wolfgang in einem ausrangierten Container. Die meiste Zeit sind sie high von einem Destillat, das Nikita aus geschmolzenen Computerplatinen gewinnt, und schauen auf einem alten Fernseher (fiktive) 90er-Sitcoms, obskure Horrorfilme oder eine Serie „über einen sprechenden Hund, der mit seinen Tränen Krebs heilen kann“.

Kein Wunder angesichts dieser eher unwirtlichen „ersten Realität“, wie Nuss die uns bekannte Wirklichkeit nennt, dass Conny viel Zeit in einer virtuellen Realität namens Avalon verbringt. Einst war Avalon die VR schlechthin, ein veritables Metaverse, in dem man alles sein und alles kaufen konnte. Doch nun, da die Programmierer daraus verschwunden sind, ist auch Avalon zu einer Art „Wild West“ des Cyberspace mutiert. Was dem Berliner Autor, Jahrgang 1994, umso mehr Gelegenheiten bietet, uns an allerlei schräge Schauplätze zu entführen, die man unbedingt sofort in einen Science-Fiction-Film oder ein Computerspiel eingebaut sehen möchte: Da wäre etwa ein Hotel, das sich mittels „Orkus-Prozessoren“ unendlich in die Tiefe und Höhe ausdehnt, um unendlich vielen Gästen Platz zu bieten, dann allerdings wegen der immensen Stromkosten die Beleuchtung abschalten musste und nun wie eine perfekte Horrorfilm-Kulisse anmutet. Oder ein gigantisches Einkaufszentrum, das von einer sich verselbstständigten Künstlichen Intelligenz namens LORE permanent umformatiert und erweitert wird, sodass die Protagonist:innen tagelang durch ein Labyrinth der immer gleichen Schuhgeschäfte und Coffeeshops streifen. Abgesehen von einer Vielzahl düster-cineastischer Settings bietet Avalon zugleich also auch den ein oder anderen Blick in die Abgründe eines außer Kontrolle geratenen (Cyber-)Kapitalismus.

Rudi Nuss – Foto: diaphanes.net

Wobei – für weniger computerspielaffine Leser:innen zunächst vielleicht verwirrend – die „erste Realität“ und die virtuelle Umgebung oftmals nahtlos ineinanderfließen. Was zum Beispiel dazu führt, dass Conny, bei einem romantischen Strandspaziergang mit einem neuen Date, am Himmel plötzlich uralte Nacktfotos von sich entdeckt. Die Überlappung der Wirklichkeitsebenen sorgt aber auch für spektakuläre Lichteffekte, die den Abend dann doch noch retten: „eine atmosphärische Daten-Aurora – Datensätze aus Avalon, die durch Reibung an der Realität zu leuchten begannen“.

Zwar gibt es eine Mission, welche die Figuren zu erfüllen haben, doch wirkt sie eher wie eine Parodie bekannter Videospiel-Tropen, und weniger wie ein ernstzunehmendes Plot-Element: Conny und die Freund:innen sind auf der Suche nach der verschollen geglaubten Kopie einer sowjetischen Utopie-VR namens Arkadi, auch „der Upload“ genannt, um damit die Welt vor den Übergriffen einer Sekte namens „die neue Immersion“ zu retten. Da fallen dann schon mal Sätze wie: „Die Koordinaten aus dem Schwarztee, das sind die Plateau-Koordinaten, dort finden wir den Upload“. Äh … ja.

Entgegen dem ersten Anschein ist das Szenario, das Nuss entwirft, nämlich keineswegs nur dystopisch: In den Ruinen des Anthropozäns – oder des Kapitalozäns, wie die feministische Theoretikerin Donna Haraway (auf die sich Nuss implizit immer wieder bezieht) sagen würde – haben die verbleibenden Wesen kleine utopische Inseln erschaffen. „Wesen“, ganz bewusst, denn nicht nur die Geschlechtsidentität der Figuren ist oftmals uneindeutig, auch die Grenzen zwischen den Spezies sind so fließend wie die zwischen „erster“ und „zweiter“ Realität. Mit Verve stürzt sich Nuss in all die kleinen und großen Möglichkeitsräume, die der Zusammenbruch hegemonialer, heteronormativer Regelsysteme und Wahrnehmungsstrukturen eröffnet, was den Text zu einem ausgesprochen queeren, und trotz aller dystopischer Elemente auch ziemlich hoffnungsvollen macht.

So lässt sich die Gemeinschaft von Conny, Wolfgang und Nikita, um die herum sich nach und nach weitere Figuren gruppieren, als gelungenes Porträt einer queeren Wahlfamilie jenseits biologischer Zugehörigkeiten lesen. Und auch die sonst eher negativ besetzte Vorstellung einer „symbiotischen Beziehung“ bekommt – in Anlehnung an Haraway – einen neuen Twist, wenn es über Wolfgang heißt: „Er ist die Alge, Nikita der Pilz in der Flechte ihrer Beziehung“. Überhaupt postuliert Nuss eine Welt, in der Pflanzen, Tiere und Menschen in einem gleichberechtigten, achtsamen Miteinander leben. So richtig hippiemäßig wird es dann aber doch nicht – dank diverser Kuscheltierfetische, Gestaltwander:innen und schräger Mensch-Tier-Symbiosen, die ebenfalls eine zentrale Rolle spielen. Dass Nikita sich beim Sex mit Wolfgang gerne in ein Plüschtier verwandelt, mag noch relativ normal anmuten. Abgedrehter wird es, als wir erfahren, dass in Wolfgangs Blutkreislauf eine winzige Quallenart lebt, die für gelegentliche Schwächeanfälle sorgt und ihn die meiste Zeit an die Couch fesselt. In Avalon dagegen verwandelt er sich in ein Rudel metallisch glänzender Kojoten und kann unbeschwert durch die virtuellen Wälder jagen. Ein genialer Einfall, der nicht nur en passant das menschliche Bewusstsein von seinem hohen Ross stößt, sondern es zusätzlich aus der vermeintlich geschlossenen Identität eines Einzelkörpers heraushebt und auf mehrere Entitäten verteilt.

Seinem Schwarm Marlo wiederum begegnet Conny zunächst an einer Hotelbar in Avalon – und zwar in Gestalt eines ausgestorbenen Laufvogels. Als sie zusammen am Strand von Enden entlangflanieren, ist Marlo dann ein abenteuerlustiger Tomboy in Menschengestalt, und noch später, als sich der Roman im zweiten Teil einmal komplett um die eigene Achse dreht, ein zerzauster Leutnant an Bord eines Geisterschiffs. Und Conny selbst? Wir könnten die Figur als transfeminin, möglicherweise nicht-binär lesen – die einzige Selbstbeschreibung, die sie an einer Stelle liefert, lautet lapidar: „a girl with a dick“ –, aber vielleicht ist eine Definition auch einfach nicht so wichtig. Denn wenn es eines nicht gibt in „Die Realität kommt“, dann eine feste, geschweige denn „wahre“ (Geschlechts-)Identität.

An einer Stelle etwa taucht eine beinahe exakte Kopie des Schrottplatzes auf, den Conny & Co. in Avalon bewohnen – mutmaßlich programmiert von der aus dem Ruder gelaufenen KI, und von der „ersten Realität“ einzig durch winzige Abweichungen zu unterscheiden: „einige Stellen bestanden bloß aus einem glitchy Flimmern, genau da, wo die LORE die Leerstellen unserer Erinnerung nicht auffüllen konnte“. Was ist nun das Original? Was die Reproduktion? Sehr bald schon wissen wir es nicht mehr, aber es ist auch egal. Die Realität kommt, bei Rudi Nuss, einfach immer „in Drag“.

Wenn man sich einlässt auf diesen wilden Ritt durch die Welten, macht die Lektüre einen Höllenspaß – und bietet nicht zuletzt reichlich Stoff zum Weiterdenken: über die Konstruktion unserer eigenen Geschichte, das menschliche Gedächtnis, die Grenzen unserer Wahrnehmung, und darüber, welches Leben wir leben wollen, wenn wir an eine Zukunft glauben.




Die Realität kommt
von Rudi Nuss
Hardcover, 248 Seiten, € 22,50
Diaphanes Zürich

↑ nach oben