OJ & ER: #ichwillihnberühren

Buch

Die Sozialen Medien haben die Suche nach Sex und Liebe bekanntermaßen radikal verändert. In dem Buch „#ichwillihnberühren“ des anonymen Autorenduos OJ und ER lässt sich nun ein besonders skuriller Fall nachlesen, in dem das Netz mobiler Appnutzer selbst noch auf der Bettkante gegenwärtig ist und ins Liebesgeschehen miteingreift. Axel Schock geht dem Dokument einer ungewöhnlichen und zu Herzen gehenden Romanze auf die Spur.

Tausendmal ist nichts passiert

von Axel Schock

Darauf muss man erst einmal kommen. Ok, es gibt Momente, da ist man einfach ratlos und überfordert, und man weiß nicht, wen man auf die Schnelle um Rat fragen könnte. OJ ist gerade in einer solchen Situation. Sein Kumpel ist zu Besuch, hat noch mal schnell nach dem Sport geduscht und fläzt sich jetzt auf dem Bett – und bei OJ spielen die Hormone verrückt. Denn der unverhoffte Gast ist OJs heimlicher Schwarm. Also, was nun? Anflirten, anrobben oder gleich zufassen? OJ holt sich lieber Rat. Als Twentysomething von heute natürlich in den sozialen Medien. In diesem Falle ganz anonym bei Jodel (einer mobilen Social-Media-App, bei der Nutzer anonymisiert Beiträge veröffentlichen können, die in einem Radius von zehn Kilometern für andere Nutzer sichtbar sind; Anm. der Red.):

„Ich (m) hab mich in einen Kumpel verliebt und jetzt liegt er in Boxershorts neben mir im Bett. #folter #ichwillihnberühren #kannmichnichtmehrzurückhalten“

Was für ein absurdes Bild. Liegt da in seiner Studentenbude neben seinem Crush, tut, als würde er ganz entspannt chillen und tippt dabei immer wieder auf seinem Handy herum. Denn die Jodel-Gemeinde ist nicht untätig, sondern höchst kreativ, was die Vorschläge für den ersten Schritt angeht. Doch OJ kommt bei seinem Plan einfach nicht voran.

Es gibt wohl kaum ein schwules Buch, bei dem dieser erste Schritt so konsequent hinausgezögert wird. #ichwillihnberühren ist gewissermaßen die romantische Version eines Koitus interruptus, wobei es genaugenommen gar nicht um Sex geht, sondern eben um Schritt eins, wie der Buchtitel bereits deutlich macht.

Zwölf Tage geht das so: schmachten, sehnen, wiedersehen, fläzen, netflixen – und die Jodel-Community wird durch OJ auf dem neuesten Stand gehalten. Mittlerweile übernachtet der Angebetete sogar bei ihm. Aber OJ traut sich nicht, ist unsicher, wägt unaufhörlich ab „zwischen möglichem Gewinn und Risiko“.

Illustration: Ach je Verlag, Andrey Kuzimshutterstock

„Wer einfach so bei einem anderen im Bett übernachtet, wer so locker damit umgeht, der kann kein sexuelles Interesse haben.“ Das könnte man aber ja mal abklopfen. „Etwas muss passieren“, stellt OJ selbst fest, aber wie es anfangen? „Kopf abschalten wäre hilfereich.“ Doch genau das gelingt ihm nicht. Akribisch plant, durchdenkt, verwirft er seine Taktik, wie es – natürlich nur ganz zufällig – zu unscheinbaren Berührungen kommen könnte. Wohlgemerkt, die beiden Jungs liegen bereits nebeneinander auf dem Bett und haben das Laptop auf den Beinen stehen. Dennoch ist das Projekt „Annäherung und Berührung“ planerische Millimeterarbeit, und wird dabei anatomisch so akribisch geschildert, dass es einem beim Lesen förmlich die Beine verknotet. Und nicht nur die Jodel-Gemeinde verliert zwischenzeitlich die Geduld, auch die Freundin von OJs Angebetetem. Wir erfahren das, weil nunmehr auch ER kapitelweise den Eiertanz aus seiner Sicht erzählt:

„ER: Genau genommen hab ich eigentlich meine Hand auf seine gelegt
Also genau genommen wäre eigentlich dann er wieder dran gewesen.
Sie: Boa, sorry, aber wann genau hast du eigentlich deine Eier verloren? ☺ Was für ein dummes Gequatsche mit wer als nächstes mit welchem Schritt dran ist. Das ist ja nicht mehr auszuhalten. Du willst ihn, also nimm ihn endlich amk!“

Auch als Leser möchte man OJ und ER mittlerweile einfach nur schubsen und zu ihrem Glück zwingen. Oder, um einen der eingestreuten Jodel-Kommentare zu zitieren:

„Es wurde Händchen gehalten, gefüßelt, über Haare gestrichen, auf Schultern geschlafen, im Schoß gelegen, Blicke ausgetauscht, halbnackt gemeinsam im Bett gelegen … Was soll denn noch passieren? @251″

Spoiler Alert und Offenlegung. Nach etwa 40 bis 50 Seiten fand ich den Plot dann doch etwas ausgereizt. Auch wenn sich die Lektüre durch Chatdialoge und die wechselnden Erzählperspektiven recht kurzweilig gestaltet, blieben die Figuren für mich merkwürdig blass. OK, wir haben es mit Studenten in Frankfurt/Main zu tun. Aber was studiert OJ eigentlich? Aus welchem sozialen Umfeld entstammt er? Was macht er denn Rest des Tages, wenn er nicht am Smartphone hängt oder sich den Kopf darüber zerbricht, ob ER (der bis zuletzt namenlos bleibt) vielleicht das Gleiche empfindet? Und ist ein Coming-out für Studenten im Jahr 2017 (da spielt die Geschichte nämlich) tatsächlich noch so kompliziert? In einer Unistadt wie Frankfurt? „Wäre es nicht schön, wenn einfach jeder das sagen könnte, was er denkt? Vor allem, ohne Angst haben zu müssen, dabei für eklig gehalten oder beschimpft zu werden?“, sinniert OJ an einer Stelle. Aber hey, ER ist angeblich schon zwei Jahre einer seiner besten Kumpel (ist das eigentlich weniger als Freund?). Immerhin: „Ich kann mir tief im Inneren zwar nicht vorstellen, dass er so reagieren würde, aber man weiß leider nie. Wenn es um Homosexualität geht, sagen die wenigsten offen, was sie wirklich denken.“

Mir erschien das alles zunehmend unglaubwürdig. Und dann las ich erstmals etwas über dieses Buch. Ahnungslos, wie ich war, hatte ich #ichwillihnberühren für einen Roman, also für Fiktion gehalten. Ich hatte es besser wissen können. Denn schon Ende 2017 verkündete Bento in einem Beitrag: „Diese Liebesgeschichte auf Jodel wird dein Herz erwärmen – versprochen“.

Ein Roman ist #ichwillihnberühren gewissermaßen schon, genaugenommen aber die Dokumentation einer ziemlich umständlichen und schließlich rührend-romantischen und zuletzt märchenhaft-schönen Annäherung.

OJs Hilferuf bei Jodel ist echt und auch heute noch nachlesbar – zusammen mit mittlerweile zehntausenden Kommentaren. Sie alle zu lesen dauert fast so lang wie Lektüre dieses Buches.  Der virtuelle Wirbel hat die beiden Jungs dann wohl dazu ermuntert, gemeinsam ihre Geschichte niederzuschreiben.

Das Wissen um die Authentizität hat mich, zugegebenermaßen, nachsichtiger werden lassen, etwa, was die retardierenden Momente und die wenig um literarischen Mehrwert bemühte Erzählweise angeht. Umso mehr konnte ich mich nun von dieser so unschuldig-naiven Verliebtheit packen lassen. Zwölf Kapitel und ebenso viele Tage dauert es übrigens, bis die beiden ein Paar sind. Wenn man selbst in der rechten Stimmung ist und auch gerne mal bei Hollywood-Streifen das Taschentuch zückt, dann fühlt man sich auf diesen letzten Seiten nochmal wie bei der eigenen ersten Liebe. Und dürfte mindestens ebenso gerührt sein, wie die Heerscharen von Jodel-Usern, die das Finale vor zwei Jahren gewissermaßen live am Smartphone miterlebt haben.




#ichwillihnberühren
von OJ & ER
Broschur, 172 Seiten, 9,99 €,
Ach je Verlag

75% der Verlags-Nettoerlöse sowie das Honorar der beiden (weiterhin anonymen) Autoren gehen an das Aktionsbündnis gegen Homophobie.

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