Miku Sophie Kühmel: Kintsugi

Buch

Es ist noch immer eine Ausnahme, dass heterosexuelle Autoren und Autorinnen sich ihre Hauptfiguren in der queeren Vielfalt suchen. „Kintsugi“ von Miku Sophie Kühmel ist eine solche Ausnahme und verdient deshalb Beachtung, zumal der Roman von der Jury des Deutschen Buchpreises in Betracht gezogen wurde. Tilman Krause über die hochgelobte Liebes- und Familiengeschichte der 1992 geborenen Schriftstellerin.

Zwanzig Jahre in Scherben

von Tilman Krause

Viel Lob bekam Miku Sophie Kühmel für ihr Romandebüt „Kintsugi“, das es im vergangenen Herbst sogar auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises schaffte. „Gesellschaftspolitisch up to date“ schreibe die Endzwanzigerin über die Wahlfamilie um ein homosexuelles Paar, verlautbarte eine nicht ganz unbekannte, wiewohl ältere Literaturkritikerin. Ein jüngerer Kollege attestierte Miku Sophie Kühmel, die bei Daniel Kehlmann und Roger Willemsen studierte, ein „psychologisch raffiniertes Kammerspiel“ abgeliefert zu haben. Und ein weiterer, gleichfalls noch junger Literaturkritiker rechnete dem Buch hoch an, dass es trotz einer gewissen Überladenheit mit Symbolik doch von Figuren erzähle, die typisch für die „urbane Mittelschicht“ von heute seien.

Was die Symbolik angeht, so ist sie der Autorin offenbar in der Tat sehr wichtig, hat sie doch das Dingsymbol des Romans, eine japanische Teeschale, die nach einer uralten Methode des „Kintsugi“ durch Flicken und Reparieren immer noch schöner und kostbarer wird, sogar zum Titel erhoben. Es steht für die mehrmals gekittete Liebesbeziehung der beiden sehr ungleichen Männer Max und Reik, die hier im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Und die, so insinuiert die Autorin, gerade dadurch zum „schwulen Vorzeigepaar“ werden konnten, weil sie es immer wieder vermochten, ihre Krisen und Konflikte zu meistern.

Aber irgendwann ist der Kitt dann offenbar doch ausgegangen oder die filigrane Teeschale war nicht mehr im Stande, diesen Kitt zu adaptieren, jedenfalls zerbricht das gute Stück endgültig im Laufe des Wochenendes, an dem „Kintsugi“ spielt, und am Ende geben die beiden 40-jährigen Protagonisten ihre Trennung bekannt. Die Scherben der zwanzig Jahre währenden Beziehung müssen Tonio und Pega zusammenkehren. Tonio ist Reiks Ex-Lover, der sich den Frauen zugewandt hat und mit einer von ihnen die Tochter Pega zeugte, die gewissermaßen mit drei Vätern aufwuchs – daher die „Wahlfamilie“.

Miku Sophie Kühmel – Foto: Andreas Labes

Das Lebens- und Familienkatastrophen symbolisierende Entzweigehen eines kostbaren Gegenstands ist in der Literatur ein altbekanntes Motiv und spätestens seit Tennessee Williams noch heute viel gespieltem Stück „Die Glasmenagerie“ (1944) so allgegenwärtig, dass man es nicht gerade als besonders originell bezeichnen würde. Auch das Thema von Kühmels Roman ist es nicht: Eine nach zwanzig Jahren aufgebrauchte Liebe führt zum Auseinandergehen, und bei genauerem Hinsehen lauerten hinter der schönen, hehren Fassade schon seit geraumer Zeit Risse im Mauerwerk, die auf Einsturzgefahr hindeuteten – das darf man wohl getrost als etwas banale Geschichte bezeichnen.

Noch banaler ist freilich die Schlussfolgerung, die Miku Sophie Kühmel ihren Lesern gewissermaßen in den Mund legt und die da lautet: Unter Schwulen geht es auch nicht anders zu als unter Heteros. Ihre Beziehungen sind ganz ähnlichen Verschleißerscheinungen ausgesetzt. Und egal wie befreiend die Trennung für das Paar sein mag: Trauer müssen die zurückbleibenden Familienmitglieder tragen, auch wenn es sich nicht um die klassische Vater-Mutter-Kind-Familie handelt, sondern eben um ein Patchworkgebilde.

Vielleicht hat die Autorin insgeheim geahnt, dass ihr Kammerspiel, das sie übrigens sehr trendgemäß im Speckgürtel von Berlin, an einem der ortsüblichen Havelseen ansiedelt, nicht übermäßig neuartig ist, jedenfalls gibt sie sich alle Mühe, es dafür wenigstens in den äußeren Gegebenheiten auf zeitgemäß zu trimmen. Ihre drei Männerfiguren stammen allesamt aus prekären und noch dazu zerrütteten Familien. Sie hatten alleinerziehende Mütter, wurden zu Außenseitern und fühlen sich irgendwie als Opfer. Reik, der erfolgreiche Künstler, leidet außerdem an starken Selbstzweifeln; im Grunde seines Herzens hält er den Ruhm, den er seit geraumer Zeit genießt, für unverdient. Max, ein Archäologe, ist mit seinem Aussehen unzufrieden, und Tonio hadert irgendwie mit seiner Bisexualität. Innerlich nach wie vor an Reik gebunden, hat er die Erinnerung an die Mutter seiner Tochter so ausgelöscht – nicht das kleinste Foto ist von ihr geblieben –, dass man schon von Frauenhass sprechen kann, der zur „damnatio memoriae“ führt. Diese wiederum sorgt dafür, dass seine zwanzigjährige Tochter Pega in ziemlich inzestuöser Weise auf ihn fixiert ist (auch ihr Verhältnis zu ihrem zweiten „Vater“ Max ist übrigens stark erotisch besetzt).

Dieses Setting benutzt Miku Sophie Kühmel, um in weitausholenden Rückblenden drei Biografien von heute aufzurollen, die nun wirklich alle Klischees bedienen, die über das Berliner Leben der letztvergangenen Jahrzehnte in Umlauf sind: Zu den alternativen Lebensformen gesellen sich die Feiergewohnheiten der Partyszene, das Bling-Bling der Kunstszene, sexuelle Identitäten fernab der Heteronormativität, schließlich die Karrierefixiertheit der zwanzigjährigen Pega (sie weiß schon im ersten Semester, worüber sie eines Tages ihre Doktorarbeit schreiben will), die im Kontrast zum sorglosen In-den-Tag-hinein-Leben steht, das die Jugend ihrer drei „Väter“ kennzeichnete. Das kommt einem alles reichlich bekannt vor.

Und doch kann man Miku Sophie Kühmel ihre Begabung nicht absprechen. Sie liegt vor allem im Formalen. Ihre psychologische Versuchsanordnung ist sorgfältig gebaut. Die einzelnen Biografien mit ihren nachgeholten Expositionen sind sinnreich aufeinander bezogen. Die drei aristotelischen Einheiten der Handlung, des Ortes und der Zeit hat sie souverän gewahrt und gestaltet. Wenn trotzdem das ganze Buch wirkt wie am Reißbrett entworfen und aus dem Setzkasten der Zeitgeistthemen zusammengefügt, so liegt das daran, dass ihre Geschichte keine Dringlichkeit besitzt. Vielleicht weil es nicht die ihre ist? An Mut, sich in fremde Lebenswelten einzufühlen, mangelt es ihr jedenfalls nicht: Wie sie zum Beispiel Männersex gleich auf den ersten Seiten beschreibt, ist verblüffend gekonnt. Wenn sie eines Tages ihre eigenen Themen findet, muss sie auch keine Pappkameraden mehr vorführen. Darauf darf man gespannt sein.




Kintsugi
von Miku Sophie Kühmel
Gebunden, 304 Seiten, 21 €,
S. FISCHER

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