Mary MacLane: Ich erwarte die Ankunft des Teufels

Buch

Als Mary MacLane 1902 ihr erstes, im Tagebuchstil verfasstes Buch veröffentlichte, wurde ihr Name zum Inbegriff der rebellischen jungen Frau. Die 19-jährige Ich-Erzählerin wünscht sich Napoleon oder am besten gleich den Teufel als Liebhaber und sehnt eine Revolution herbei. Sie hasst ihr Umfeld im provinziellen Montana, ebenso wie ihre Haushaltspflichten. Trotz ihrer Einsamkeit ist sie voller Kraft. Über 100 Jahre später erscheint „Ich erwarte die Ankunft des Teufels“ zum ersten Mal in deutscher Übersetzung – und fasziniert noch immer, wie unser Autor Joachim Bartholomae aufzeigt.

Ein gesundes junges Tier

von Joachim Bartholomae

Die Abendnachrichten im Jahr 2020 machen keine Freude. Ob Klimawandel, Corona-Krise oder protofaschistische Bewegungen von Brasilien bis Ungarn, da wird einem speiübel. Es ist also vielleicht kein Zufall, wenn der Reclam Verlag gerade jetzt ein Buch entdeckt und erstmals in die deutsche Sprache übersetzen lässt, das durch und durch vom Abscheu geprägt ist, vom Abscheu auf das Leben überall da draußen. Mary MacLanes Pamphlet „Ich erwarte die Ankunft des Teufels“ ist dennoch ein fröhliches, ein lebendiges, ein revolutionäres Buch. Geschrieben wurde es Ende des 19. Jahrhunderts.

„Ich bin ausgesprochen originell, von Geburt an und in meiner Entwicklung.“, schreibt MacLane über sich selbst. „Ich habe eine ganz ungewöhnliche Lebensintensität in mir. Ich kann fühlen. Ich habe eine wunderbare Fähigkeit zu Elend und zu Glück. (…) Mich kümmert weder Gut noch Böse – mein Gewissen ist gleich null.“ Soviel zu den geistigen Werten, aber das ist nicht alles: „Sie dürfen das Bild vorne in diesem Buch betrachten und bewundern. Es ist das Bild eines Genies – eines Genies mit einem guten, starken, jungen Frauenkörper, – und im Inneren des abgebildeten Körpers befindet sich eine Leber, eine MacLane-Leber, von bewundernswürdiger Perfektion. (…) Es ist unaussprechlich herrlich, ein gesundes junges Tier zu sein und auf dieser verzauberten Erde am Leben zu sein.“

Mary MacLane – Foto: Reclam

Alles an diesem Buch ist verblüffend und beglückend. Da schreibt eine 19-jährige Frau in Montana über das Elend einer Welt, der jeder Esprit, jeder Pep abgeht, doch zugleich zweifelt sie keine Sekunde daran, dass alles, was der Außenwelt mangelt, in ihrem eigenen Inneren vorhanden ist. Um zu beschreiben, wie wunderbar, wie einzigartig sie ist, bleibt sie stets auf dem Boden der Tatsachen, ohne sich im Stil der heutigen identitätspolitischen Ansätze in metaphysische Fragwürdigkeiten zu verstricken: Wenn sie als Frau eine Frau liebt und sich dabei als die stärkere, dominante erlebt, dann liegt das an „maskulinen Elementen“ in ihrer Persönlichkeit. Die Seele, die schon Freud von geschlechtlichen Unterstellungen freihalten wollte, ist für sie eine rein christliche Angelegenheit, die mit Mann oder Frau nichts zu tun hat.

Bei Frauen, die sich nach Verbesserung sehnen, denke ich sofort an Tschechows „Drei Schwestern“: Sie sitzen in einem langweiligen Nest wie Montana und sind gut russisch-eschatologisch von einer Wende zum Besseren überzeugt. Mary MacLane jedoch erwartet die Ankunft des Teufels. Sie ist ein Genie, deshalb weiß sie, dass die Tugendhaften ein nennenswerter Teil des Problems, und leider kein Teil der Lösung sind – auch darin ist sie vielen heutigen Emanzipationskonzepten überlegen. Es gibt keine andere Hoffnung, als drei Tage lang mit dem Teufel verheiratet zu sein. In einem Traum sitzt sie dem Teufel gegenüber, und er fragt sie: „Und du denkst, dass, abgesehen von der Meinung der weisen Welt, es eine passende Ehe wäre?“ – „Eine passende Ehe!, rief ich. Ich hasse eine passende Ehe! Nein, es wäre unpassend. Es wäre bohémien, unerhört, zum Niederknien! – Der Teufel lächelte.“

Wir haben es also mit den Bekenntnissen einer überzeugten Außenseiterin zu tun, eines Menschen, der nicht als dies oder das anerkannt werden will, weil er weiß, dass Anerkennung spießig und verlogen ist. Mary MacLane leidet an ihrer existenziellen Einsamkeit, in der nur der Teufel originell, witzig und männlich genug ist, um ihr Freude zu bereiten. Ja, man muss zugeben, sie argumentiert in den üblichen Geschlechterbegriffen: Ihre einzige „Freundin“, die Frau, die sie nicht liebt, die ihr jedoch erlaubt, sie zu lieben, stellt sie vor die Frage, wo die „Stärke“ wohnt, und Stärke ist identisch mit Männlichkeit, wie sie in einem eindrucksvollen Gedicht an Napoleon schreibt: Er mag so lächerlich sein, so krank und falsch, wie er will, aber er ist so stark!

Mary MacLanes Selbsterkundung hat einen starken, weil verblüffenden Einstieg, doch wenn man meint, sie habe nun alles gesagt, geht es erst richtig los: „Ich bin ein Genie nicht deshalb, weil mir alles in der Welt fremd ist, auch nicht, weil ich intensiv bin oder leide. Man kann all das sein und doch nicht über diese herrliche Kraft der Wahrnehmung verfügen. Mein Genie beruht auf nichts. Es wurde in mir geboren, wie die Keime des Bösen in mir geboren wurden. Und mein eigenes Genie wurde sonst niemandem gegeben.“

Und ihre Wahrnehmung ist es, die sie unvermittelt in die Gesellschaft einer sehr deutschen Frau versetzt, Karoline von Günderode. Ziemlich genau einhundert Jahre vor MacLane schreibt die deutsche Stiftsdame: „Da sah ich ein weites Meer vor mir , das von keinem Ufer umgeben war, kein Windstoß bewegte die Wellen, aber die unermessliche See bewegte sich doch in ihren Tiefen, wie von inneren Gärungen bewegt. Und mancherlei Gestalten stiegen herauf, aus dem Schoß des tiefen Meeres, und Nebel stiegen empor und wurden Wolken, und die Wolken senkten sich, und berührten in zuckenden Blitzen die gebärenden Wogen.“ (Apokalyptisches Fragment) Nun lesen wir MacLane: „Ein Bild zeigte ein erhabenes spirituelles Leben. Es gab dieses seltsame helle Licht. Und die Gegenstände im Bild waren allein wirklich in der Welt, die einzigen Dinge, die zählen. Das alte, weiche Grün der alten, alten rollenden Hügel war das Grün der Liebe, der Liebe der Erde und Liebe, die von jenseits der Erde kommt. Die Luft und das blaue Wasser und die Sonne waren so wunderschön echt und wahr, dass sie alle Menschenkraft überstiegen, wäre ihre Zärtlichkeit nicht so tiefreichend und leidenschaftlich.“ Welchen zeit- und kulturübergreifenden Zusammenhang gibt es zwischen jungen Frauen, die sich in ihrer Welt als Fremdkörper empfinden, und apokalyptischen Visionen, in denen das grenzenlose Meer und rollende Hügel die beherrschende Rolle spielen?

Als sexuell ambivalente Frau unterscheidet sich MacLanes Selbstreflexion deutlich von der ihrer männlichen homosexuellen Zeitgenossen. Im anonymen „Roman eines Konträrsexuellen“, der wenige Jahre vor MacLanes Autobiografie veröffentlicht wurde, schreibt ein italienischer Adeliger über sich selbst: „Ich glaube, ich habe ihnen noch nicht von meinen Händen gesprochen, die wirklich herrlich sind, vielleicht das Schönste, was ich besitze, meinen Teint und meine Haare ausgenommen. Ihre Form ist vollendet, obgleich ungewöhnlich: lang, schmal und scheinbar ohne Knoten und Muskeln. (…) Während ich Ihnen schreibe, bewundere ich meine Hände, sie sind wirklich sehr schön. Der Daumen ist entzückend, und mit ovalem Nagel. Die Hand selbst ist wie weicher Samt, auf dem man leichte, kaum merkliche, von Adern durchzogene Schattierungen bemerkt. …“ Solche mädchenhaften Gefühle zu äußern liegt MacLane fern. Ihr Tonfall ist ungleich ruppiger: „Ich liege einige Minuten am Boden und hänge müßig meinen Gedanken nach. Eine ganze Welt leichter, träger, schöner Sinnlichkeit wohnt in der Gestalt einer jungen Frau, die unter einer warmen, untergehenden Sonne auf dem Boden liegt. Ein Mann mag am Boden liegen – aber das ist es auch schon. Ein Mann würde einschlafen, wahrscheinlich, wie ein Hund oder ein Schwein. Er würde vielleicht sogar schnarchen, unter der sterbenden Sonne. Aber der Mann hat zum Fühlen auch keinen guten jungen weiblichen Körper, um die Kraft einer wärmenden, sinkenden Sonne in sich aufzunehmen an solch einem Oktobertag. – Verzeihen wir ihm also das Schlafen, und das Schnarchen.“

Der Reclam Verlag hat sich im Leben vieler Schüler und Schülerinnen als Verlag obligater Schullektüre einen zweifelhaften Ruf erworben. Mit der Wiederentdeckung dieser „Geschichte der Empfindlichkeit“ sei ihm alles vergeben. Und Lob und Preis der Übersetzerin Ann Cotton!




Ich erwarte die Ankunft des Teufels
von Mary MacLane
Aus dem Englischen von Ann Cotton
Gebunden mit Schutzumschlag, 206 Seiten, 20 €,
Reclam Verlag

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