Marie Luise Lehner: Im Blick

Buch

Zwei Mädchen werden gemeinsam erwachsen. Sie lernen, sich zu schminken, ziehen Stöckelschuhe an und vergleichen ihre Brüste. Sie entdecken Alkohol und Drogen, gehen mit fremden Männern nach Hause, feiern Partys und haben Sex. Die jungen Frauen wollen sich nicht einschränken lassen, unternehmen Reisen in ferne Länder und erfahren am eigenen Körper, dass Freiheit nicht für beide Geschlechter das Gleiche bedeutet. Anhand einer Freundschaft und einer Liebesbeziehung erzählt die österreichische Autorin Marie Luise Lehner, Jahrgang 1995, vom Schauen und vom Angeschautwerden, von Rollen, in die Frauen gedrängt werden, und von alltäglicher sexueller Gewalt. Selten wurde vom Aufwachsen eines queeren Millennials so offen, ehrlich und mit derart radikaler Verletzlichkeit erzählt, findet unsere Rezensentin Anja Kümmel.

Sie hat mein Herz und ich hab ihrs

von Anja Kümmel

„Ich möchte so erzählen, dass es leicht zu verstehen ist“, schreibt die Protagonistin in Marie Luise Lehners Roman „Im Blick“ – und man hat das Gefühl, an dieser Stelle verschmilzt sie mit dem Autor-Ich. Einfache, kurze Sätze im Präsens prägen auch Lehners Stil. Auf den ersten Blick scheinen sie die Realität lediglich abzubilden, tatsächlich jedoch sind sie ganz bewusst gewählt und präzise gesetzt. Das liest sich dann beispielsweise so: „Du machst deine blondierten Haare auf. Du hast einen wippenden Gang. Ich mag deine Hüften, denke ich. Du bemerkst nicht, wie elegant du bist.“

Auf knapp 200 Seiten reiht Lehner fein beobachtete Miniaturen aneinander, die das Aufwachsen zweier Mädchen und eine sich im Jetzt entspinnende Liebesgeschichte zu einem namenlosen Du erzählen. Dass dieses „Du“ lange Zeit geschlechtlich uneindeutig bleibt und dabei trotzdem sinnlich und greifbar wird, ist nur einer der Kunstgriffe der gerade mal 23-jährigen Autorin. Da sich die Hauptfigur in ihrer Adoleszenz als lesbisch outet, nimmt man zunächst automatisch an, bei dem „Du“ müsse es sich um eine Frau handeln, doch wird diese Vermutung gegen Ende durch einige subtile Andeutungen in Frage gestellt – die zugleich auch unsere vorgefassten Geschlechterbilder brechen.

Als frei und unabhängig, aber auch weich und verletzlich wird dieses „Du“ geschildert, mit dem die Ich-Erzählerin in eine zunächst recht holprige Liaison stolpert. Wie eine Tango-Choreographie entfaltet sich die Amour fou in mehreren Akten der Annäherung, Distanzierung und Wiederannäherung, bis so etwas wie ein „Wir“ entsteht, das sich allerdings wenig am Idealbild einer heteronormativen Zweierbeziehung orientiert.

Mindestens ebenso viel Raum nimmt die Beziehung der Ich-Erzählerin zu ihrer besten Freundin Anja ein, die sich parallel dazu in der Rückschau entfaltet. Als „freundschaftliche Liebe, für die es keine Erotik braucht und die viel wichtiger ist als die meisten Verbindungen, die es sonst gibt“ bezeichnet sie diese Beziehung, die sie genauso intensiv und selbstverständlich lebt wie die romantisch-sexuelle zum „Du“.

Marie Luise Lehner – Foto: www.detailsinn.at

Von 10 bis 21 verfolgt Lehner die Chronologie einer weiblichen Jugend, in der es unweigerlich auch um männliche Blicke auf Mädchen- und Frauenkörper, um Kontrollmechanismen und sexuelle Gewalt geht – ganz ohne das Schlagwort „MeToo“ zu bemühen. Mit 11 spielen die Freundinnen „Modenschau“ in den Stöckelschuhen ihrer Mütter. Mit 12 drehen sich sämtliche Gespräche um Jungs, wobei das gemeinschaftliche Schwärmen implizit auch dem Bonding unter Frauen dient. Mit 13 machen alle irgendeine Diät – auch Anja, die Ballett tanzt und sich dadurch besonders strikten Körpernormierungen ausgesetzt sieht. Wie sehr die Heranwachsenden hier bereits einüben und verinnerlichen, sich selbst und einander aus männlicher Perspektive zu beurteilen, spricht Lehner nicht explizit aus, doch schwingt die patriarchale Blickmacht stets mit.

Hinzu kommen verbale und physische Grenzüberschreitungen: Sei es eine fremde Hand auf dem Hintern der Ich-Erzählerin im Gedränge auf der Straße, der Querflötenlehrer, der seine Hände etwas zu oft und zu lange auf den Bauch seiner Schülerinnen legt, um die Atmung zu kontrollieren, oder die sexistischen Sprüche, die sie in ihrem Kellnerinnen-Job über sich ergehen lassen muss. Anstatt diese Erfahrungen zu thematisieren, hören Anja und die Ich-Erzählerin auf, weite Ausschnitte zu tragen, um nicht mehr angestarrt oder angegrapscht zu werden. Schließlich wird ihnen immer wieder suggeriert, dass sie es sind, die sich durch diverse Strategien vor Übergriffen zu schützen haben. Warum sonst dürfen die Jungs im Park Volleyball spielen, während die Mädchen einen Selbstverteidigungskurs absolvieren?

Als die Hauptfigur entdeckt, dass sie auf Frauen steht, muss sie erfahren, dass bi zu sein zwar gerade chic ist, es bei den meisten Mädchen jedoch über ein bisschen Knutschen nicht hinausgeht. Und das auch meist nur, um die Jungs heiß zu machen – die daraufhin um vier Kästen Bier wetten, die frisch geoutete Lesbe doch noch rumzukriegen.

Konsequent schreibt Lehner aus der Perspektive der Heranwachsenden. Gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge nimmt sie erst allmählich in den Blick – in dem Maß, wie ihre Hauptfigur ein Bewusstsein für sie entwickelt, queerfeministische Positionen kennenlernt und sich selbst politisiert. „Wie elastisch, wandelbar und fragwürdig Geschlechtszugehörigkeiten sind“, beginnt sie zu verstehen, als sie mit einem Transmann zusammen ist. Am liebsten würde sie die Kategorien „Mann“ und „Frau“ ad acta legen – doch geht das leider nicht, solange es strukturelle Unterschiede gibt.

Thematisch erinnert „Im Blick“ bisweilen an die feministischen Streitschriften von Margarete Stokowksi, doch wählt Lehner einen entschieden poetischen Weg, der von der (fiktionalisierten) persönlichen Erfahrung ausgeht, und nur gegen Ende Theorien wie „male gaze“ oder „slut shaming“ anreißt. Selten wurde vom Aufwachsen eines queeren Millennials so offen und ehrlich, mit derart radikaler Verletzlichkeit erzählt. Alle weiblich sozialisierten Menschen dürften sich in diesem Buch ein Stück weit wiederfinden.

Anstatt ihre Figuren in der Opferrolle festzuschreiben, zeichnet Lehner eine so authentische wie  berührende Bewegung hin zu weiblicher Selbstermächtigung und Solidarität. Nach und nach finden Anja und die Ich-Erzählerin eine Sprache für ihr Begehren, ihre Bedürfnisse und Grenzen. Früh antrainierte Schutzmechanismen streifen sie bewusst wieder ab, indem sie per Anhalter durch die Welt reisen. Gemeinsam fühlen sie sich stark und unbesiegbar, ganz wie die „female musketeers“ im Zweiraumwohnung-Song „Elaine und ich“. Auch im Du findet die Ich-Erzählerin einen Verbündeten: „Du und ich gehen nebeneinander wie eine sehr kleine Gang.“

Wer sich schon immer gefragt hat, wie der oft zitierte Slogan „Be careful with each other, so you can be dangerous together“ umgesetzt und gelebt werden kann, wird mit der Lektüre dieses kleinen, feinen Romans ein bisschen schlauer werden.




Im Blick
von Marie Luise Lehner
Hardcover mit Schutzumschlag, 192 Seiten, 19,90 €,
Kremayr & Scheriau

↑ nach oben