Martin Reichert: Die Kapsel – Aids in der Bundesrepublik

Buch

Das Wüten der Aids-Epidemie mit Tausenden von Toten ist, zumindest in den Industrienationen, Geschichte, aber die Epidemie hat das Leben und die Sexualität nicht nur der Schwulen verändert. Damit auch Jüngere die Auswirkungen der Krankheit auf unser aller Leben begreifen können, hat der taz-Redakteur Martin Reichert, Jahrgang 1973, in seinem Buch „Die Kapsel – Aids in der Bundesrepublik“ die Geschichte dieser Krankheit geschrieben. Anstatt anhand kalter Fakten ein vermeintlich objektives Bild zu zeichnen, bezieht sich Reichert auf die Lebensläufe einiger mehr oder weniger prominenter Zeitzeugen und lässt über sie die bundesdeutsche Aids-Geschichte lebendig werden. Christoph Klimke hat das Buch für uns gelesen.

Mindestens noch zwei Jahre

von Christoph Klimke

„Keiner seiner Freunde konnte ihn retten (…) Anscheinend wurde er immer schwächer. Er gierte nach ihrem Leben; und die wenigen Menschen, die an ihn dachten, würden sich sagen, dass er von ihren Affären, ihren Erfolgen, ihren Neuigkeiten und Ideen nie erfahren würde, dass er nicht mehr so lange leben würde.“

Martin Reichert beendet sein neues Buch „Die Kapsel – Aids in der Bundesrepublik“ mit diesem Zitat aus Alan Hollinghursts Roman „Die Schönheitslinie“. Genau diese Hoffnungslosigkeit auf der einen Seite und die Gier nach Leben auf der anderen bestimmten für lange Zeit das Gefühlsleben der HIV-Positiven. Als Reichert 1996 sein Coming-out hat, ist das schlimmste Jahrzehnt mit den vielen Aids-Toten gerade vorbei und die neue Kombinationstherapie bietet den Patienten eine neue Lebensperspektive.

In fünf Kapiteln (Die Inkubationszeit / Präventionspolitik / Der medizinische Fortschritt / Das neue Aids / Gegenwart) schreibt der Autor die Geschichte dieser Krankheit mit medizinisch wissenschaftlichen Fakten und viel Zeithistorie. Er schildert aber auch die Geschichten Verstorbener und heute Betroffener, wie auch die ihrer Freunde, Familien und Partner. Was der Spiegel 1982 als „Schreck von drüben“ (also USA) benennt, gilt schnell als „Schwulenseuche“. „Für die Homosexuellen hat der Herr immer eine Peitsche bereit“, meint zynisch der Berliner Bakteriologe Franz Fehrenbach. Das lustvolle Leben zwischen Schlafzimmer, Klappe, Darkroom und Schwulensauna scheint vorbei zu sein. Die Politik reagiert hilflos bis hysterisch. Saunen sollen geschlossen und das nächtliche Cruisen durch Kontrollen unterbunden werden.

Outen sich Ende der 70er Jahre in der Aktion des Stern „Wir sind schwul“ 500 Männer aus allen Bevölkerungsschichten und gründet ein Kollektiv die erste schwule Buchhandlung „Prinz Eisenherz“ in Berlin, emanzipiert sich also die Schwulenszene gegen Vorbehalte, Tabus und Vorurteile, so bedeutet diese neue Krankheit einen riesigen Schritt zurück. Zumal sie ansteckend ist. Viele verlieren ihren Lebenspartner, jeder kennt Verstorbene, und im Berliner Auguste Viktoria Krankenhaus versammelt sich eine vergreiste Jugend. Freundinnen und Freunde müssen Abschied nehmen und manche Familien brechen mit ihren Kindern. Viele Schwule leben in dem Gefühl, ich bin (noch) nicht infiziert, also habe ich auf jeden Fall mindestens noch zwei Jahre.

Wieland Speck (rechts) neben Manfred Salzgeber, der 1994 an den Folgen von Aids starb – Foto: Berlinale

Martin Reichert skizziert Lebenssituationen von Conny Littmann, dem Theatermann und späteren Präsidenten des FC St. Pauli, der in den 1970ern in der Homosexuellen Aktion Hamburg aktiv ist, die Anfeindungen gegen den Journalisten Jan Feddersen, der sich früh für die Homo-Ehe engagiert, und er trifft den Mitbegründer des Teddy-Awards Wieland Speck, der Mitte der 1980er Jahre den (Kult-)Film „Westler“ dreht und später Safer-Sex-Kurzfilme. Die Deutsche Aids-Hilfe macht Präventionspolitik, und während die CSU-Politiker Gauweiler und Seehofer homophob agieren, ist es vor allem die CDU-Gesundheitsministerin Rita Süssmuth, die gegen Ausgrenzung kämpft.

„Die Kapsel“ schildert genau diese Zeitreise von Anfang der 80er Jahre bis heute, durch Biografien, Schmerz, Verlust und Angst, Ächtung, Politisierung, medizinischem Fortschritt und einer für die jetzt jüngere Generation unvorstellbaren Verunsicherung. Lebensplanung wurde zum Fremdwort und „nicht wenige verloren auch ihre Sexualität, die gerade enttabuisiert worden war“. Neben dem Wissen um die Übertragungswege und inquisitorischen Schuldzuweisungen steht das Schuldgefühl vieler Infizierter. Aids ist immer da – wie auch die Lust, das Begehren, das Sich-Verlieben, die Liebe. Medienkampagnen wie „Gib Aids keine Chance“ und Gruppen wie Act Up betreten die öffentliche Bühne, und die Forschung entwickelt die erste erfolgreiche Kombinationstherapie. HIV verliert (zumindest in der „ersten“ Welt) den apokalyptischen Schrecken und damit auch die Brisanz in der Medien-Berichterstattung. Matthias Frings beschreibt, dass mehr als eine halbe Million Zuschauer abschalten, als seine Fernsehsendung „Liebe Sünde“ in dieser Zeit Aids und HIV erneut thematisiert.

Auch wenn im Zuge einer Art Normalisierung die Betroffenen sich nicht mehr verstecken, bleibt Aids bis heute eine „nicht normale“ Krankheit. Die Infizierten und ihre Angehörigen fühlen sich nach wie vor abgekapselt von einer Gesellschaft, in der immer noch viele denken: selbst schuld.

Martin Reichert trifft den Berliner Journalisten Axel Schock, der vom Verlust seines Freundes erzählt, wie dessen Familie ihn ausgrenzte, von der eigenen Überforderung und Hilflosigkeit, von diesem brutalen Schnitt durch ein junges Leben als schwuler Witwer. Heute dokumentiert Schock die kulturpolitische Geschichte von HIV/Aids und deren Erforschung und betreibt die Website aidsarchive.net, wo entsprechende Materialien lagern und zu finden sind. Er erweist sich dabei nicht allein als Archivar und Forscher, vielmehr ist er wie der Verfasser dieses so wichtigen Buches ein Archäologe, der in persönlichen und politischen Zeitgeschichten verschüttete Biografien und Facetten zu Tage bringt, die vergessen wurden. So können diejenigen, die diese Zeit nicht erlebt haben, nachvollziehen, was Aids in allen Dimensionen bedeutet (hat).

Natürlich ist die Auswahl der Gesprächspartner, der Blick auf die Biografien subjektiv, aber „Die Kapsel“ erhebt auch nicht den Anspruch einer rein wissenschaftlichen Abhandlung. In Zeiten von Gayromeo und Grindr hat die schwule Jugend längst andere Treffpunkte als die heute 60-Jährigen, und die guten Therapiemöglichkeiten wie auch die Vorsorge durch PrEP machen viele argloser. Doch die Erinnerung an den Fotografen Jürgen Baldiga, die Schriftsteller Napoleon Seyfarth, Detlev Meyer und Mario Wirz und ihre Werke bleiben. Die Abkapselung war und ist ein Zwang, eine Ächtung auch, zuweilen ein Selbstschutz. Die Geschichte von Aids ist nicht zu Ende. Und die Geschichten der Betroffenen, Gefährdeten sowie der Homophoben gehen weiter.

Martin Reichert beendet sein Buch mit dem Zitat aus Alan Hollinghursts Roman. Die Literatur ermöglicht Imagination, Reicherts Buch „Die Kapsel – Aids in der Bundesrepublik“ einen Einblick in Fakten und gelebte Biografien. Beides bereichert einander.

 




Die Kapsel
Aids in der Bundesrepublik

von Martin Reichert
Gebunden, 271 Seiten, 25 €,
Suhrkamp

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