Kevin Junk: Fromme Wölfe
Buch
Das Berghain ist schon lange ein internationaler Sehnsuchtsort. Je nach Perspektive ist der Berliner Club ein Tempel der Ekstase, eine Drogenhölle oder einfach nur das erweiterte Wohnzimmer queerer Wahlfamilien. In seinem Debütroman „Fromme Wölfe“ erzählt Kevin Junk von fünf Menschen, deren Wege sich innerhalb einer langen Partynacht im Berghain immer wieder kreuzen. Axel Schock geht der Frage nach, ob das Buch auch als soziales Sittenbild der Clubkultur funktioniert.
Druff, druffer, total druff
von Axel Schock
Das konnte Kevin Junk freilich nicht ahnen. Während er wahrscheinlich seinem Manuskript gerade den letzten Feinschliff gab, war aus diesem ganz in die Gegenwart leuchtenden „Berlin-Roman, der uns rasant durch das Nachtleben führt“ (Klappentext) ein historischer Roman geworden. All das, worüber Junk so detailliert und kenntnisreich schreibt, ist Geschichte.
Diese drogengeschwängerte, von Bässen und Beats gepeitschte Welt existiert nicht mehr. Ob und wann sie womöglich wiederaufersteht, weiß noch niemand. Und ob danach alles einfach so weiter geht oder umso härter gefeiert wird, als ob es kein Morgen gäbe und keine Pandemie – wer weiß das schon. In „Fromme Wölfe“ ist diese Welt, in der Begriffe wie „AHA-Regeln“ und „Aerosole“, „Superspreader“ und „Systemrelevanz“ noch nicht Einzug in unsere Alltagsgespräche gehalten haben, nun konserviert.
Das Debüt des 1989 geborenen Kevin Junk ist vordergründig ein Szeneroman. Seine fünf Protagonist:innen kennen sich zwar zu Beginn des Buches noch nicht alle untereinander, aber sie bewegen sich meist auf denselben Pfaden durch die Nacht, und die führen allesamt zu diesem einen Ort. Niemand nennt den offiziellen Namen, meist bleibt es beim vertraut-verkürzten „Hain“ oder einfach nur „der Club“.
Vorher geht’s noch schnell auf ein Bier ins „Möbel Olfe“ oder auf eine Vernissage mit Fotografien von Berliner Nachtgestalten und Party-Prominenz. Die trans* DJane Kala bringt ihrem Stammdealer beim Hausbesuch Gummibärchen mit, Tom versucht in der Hasenheide an Pillen für die Nacht zu kommen und lässt sich dabei auf billigste Weise übers Ohr hauen. Typischer Anfängerfehler. Immerhin bleibt ihm die „Boy“-Basecap des Dealers und wird ihn wie verwandelt durch die Nacht tragen.
Viktor ist Ende 20, hat aber einiges nachzuholen und versucht im „Berghain“ an Lars ranzukommen, in den er sich verguckt hat. Erik hat eine Affäre mit Simon, der hauptberuflich Drogen vertickt. Doch kann er diese Intimität für bare Münze nehmen? „Wir wissen erst, was bleibt, wenn der Rausch vorbei ist.“
Kapitel um Kapitel wechselt Kevin Junk zunächst die Perspektiven und rückt jeweils eine seiner Hauptfiguren ins Zentrum. Sobald sie den Club erreicht haben, sich die Wege überkreuzt und die Schicksale der Protagonist:innen miteinander verflochten haben, spiegelt sich dies auch in der Erzählweise wieder. Nun strukturieren die vollen Stunden den Fortlauf des Romans.
Diese Konstruktion ist zwar einleuchtend und durchaus überzeugend, sie geht allerdings auch mit einer grundsätzlichen Entscheidung Junks für einen auktorialen Erzähler einher. So wechseln in den Eingangskapiteln zwar die Perspektiven, doch nur wenig die erzählerischen Stimmen und Tonlagen. So sehr wir als Leser:innen stets hautnah mit dabei sind – beim Sex im Darkroom, beim Schwitzen und Knutschen auf der Tanzfläche oder wenn die letzten Reste der verfügbaren Drogen brüderlich und schwesterlich auf einer „chemischen Audienz“ in der Klokabine geteilt werden: Wir bleiben auf Distanz und beobachten den Rausch der Anderen.
Damit schert Junk – ob bewusst oder zufällig – aus der Tradition literarischer Erkundungen der (schwulen) Clubszene aus. Denn Airen („Strobo“) und Pippin Wigglesworth („Viertel nach Handgelenk“), die 2008 mit ihren unter Pseudonym publizierten Büchern für Aufsehen sorgten und gewissermaßen die Blaupause für viele andere legten, hatten ihre Sex- und Drogenerfahrungen in der Berliner bzw. Zürcher Clubszene zuvor auf Blogs veröffentlicht.
Ihre Protokolle exzessiver Trips sind Zeugnisse der verzweifelten Suche nach Sinn und Liebe in einem orientierungslosen Leben voller Selbstzweifel. Sie erzählen von der Euphorie der Drogen und Orgien – und vom Kater, dem (Selbst-)Ekel und der Reue danach. Beide entblößen sich dabei hemmungslos aufrichtig und authentisch, zynisch auch gegenüber sich selbst. Man mag sie um diese Erfahrungen beneiden, den Exzess, die Verausgabung und die Grenzüberschreitung. Man mag sie für Idioten halten, sie zur Raison rufen wollen. Eine unbeteiligte Lektüre auf Distanz hingegen ist kaum möglich, dafür nimmt man als Leser:in zu intensiv an deren Leben teil. Insbesondere Airen gelang es virtuos, seine scharfen Beobachtungen mit einem lockeren Plauderton zu kombinieren und damit an die Drogentexte von William S. Burroughs und Hunter S. Thompson anzuknüpfen. „Strobo“ wurde so zu einem bleibenden Dokument der Berliner Technokultur.
Auch „Fromme Wölfe“ hat seinen Ursprung auf einem Blog. Kevin Junk hatte zunächst Essays zur Club- und Subkultur sowie Auszüge aus dem Romanprojekt auf der eigenen Plattform „wolf auf tausend plateaus“ publiziert. 2013 gab es einen ersten Anlauf zur Veröffentlichung des Romans via Crowdfunding. Zwischen dieser und der nun im Querverlag erschienenen Fassung liegen einige Jahre und sicherlich auch die eine oder andere Überarbeitung. Und vielleicht auch die Entscheidung gegen den Seelenstriptease eines Airen oder Wigglesworth und für eine fiktionalere Auseinandersetzung mit den Lebensrealitäten in den Clubs.
Für die vielen kleinen, fast essayistischen Einsprengsels ist das von Vorteil. Wer will, kann sich aus „Fromme Wölfe“ einen Leitfaden des Substanzkonsums zusammenstellen. „Egal, was du willst, beinahe jeder Rauschzustand ist erreichbar. Glück: Wirf ‘ne Pille. Sex: Nimm ein bisschen GHB. Nahtoderfahrung: Nimm ‘ne fette Line Ketamin.“ Über Wirkung und Nebenwirkungen wird man kenntnisreich informiert. Und im Laufe der 285 Seiten kommt so manches zum Einsatz, das die Sinne explodieren und das Herz rasen lässt, den Geist befreit und das Großhirn außer Gefecht setzt: Mephedron, MDA, GHB, Kokain, Ketamin, Ritalin und LSD inklusive der Kombinationen. Man ist erst „undruff“, dann „druff“, schließlich „druffer“, „total druff“ und feiert die „Highness“.
Vor allem aber versucht Junk auch analytischer zu erfassen, was diese Community zusammenbringt und im Innersten zusammenhält. „Der kollektive Rausch schweißte sie zu einer Gemeinschaft zusammen, die gelobte, am siebten Tag nicht zu ruhen, sondern zu tanzen, als gäbe es kein Morgen, als gäbe es irgendwann keine Clubs mehr, als wäre irgendwann alles nur noch Freizeit, nicht mehr systemrelevant, nicht mehr Rausch, nicht mehr Ritual. Sie alle Kämpfer für eine Revolution, deren Ziel sie selbst nicht kannten.“
Für Kevin Junk ist „der Club“ mal „eine Erziehungsmaschine“, „ein diskursives Produkt, das niemand entworfen hat, das einfach passiert ist“, dann wieder „eine verdammte Illusion“: „Auf der einen Seite kann hier alles passieren: Du kannst dich krass verlieben, unglaublichen Sex haben, wunderbare Freunde finden, und gleichzeitig kannst du dich voll auf die Fresse legen.“ Wenn Kala von ihrer DJ-Kanzel herab die tanzende Gemeinde wie eine Priesterin durch die endlose Nacht geleitet, wirkt das bei Junk dann allerdings doch ein wenig zu pathetisch.
Zwar hatte auch Rainald Goetz in „Rave“ (1998) den kollektiven Technorausch zu einem Gottesdienst und die „never-ending Party“ zur Spiritualität der Postmoderne erhoben. Der „fettgütige Basswummbeat“ wird zum Sakro-Pop, das „Bumbumbum“ zum Ave Maria. Doch in seiner Erzählung „aus dem Inneren der Nacht“ sind die luziden klugen Gedanken über die Party-Gesellschaft (die sich inmitten banaler, das eigene Ego feiernder Passagen finden lassen) stets gepaart mit Selbstironie und Sarkasmus. Kevin Junk läge es in „Fromme Wölfe“ jedoch fern, sich über seine Figuren zu stellen, sondern er begegnet ihnen gleichsam wertfrei und mitfühlend. Welches nun aber die richtige Strategie ist, um die vielen Dimensionen einer Partynacht, zumal wenn sie durch Drogen potenziert sind, in Worte zu fassen, bleibt dahingestellt. Dessen ist sich letztlich auch Kevin Junk bewusst: „Entweder man war dabei oder nicht. Es gab keine Pornografie, kein Erzählen, keinen Film, keinen Roman, der diese Stimmung greifen konnte. Jede Erzählung musste scheitern.“
Fromme Wölfe
von Kevin Junk
Broschiert mit Prägung, 288 Seiten, 18,00 €
Querverlag