Julian Mars: Was wir schon immer sein wollten

Buch

Nach „Jetzt sind wir jung“ und „Lass uns von hier verschwinden“ erzählt Autor Julian Mars auch in „Was wir schon immer sein wollten“ von seinem Antihelden Felix, der mittlerweile 30 ist, und von dessen schwuler Suche nach Sex, Liebe und Identität ohne Selbstverleugnung. Unsere Autorin Can Mayaoglu ist in Felix’ Geschichte abgetaucht und findet, dass im dritten Teil der Romanreihe sowohl Autor als auch Hauptfigur bei sich selbst ankommen.

Das runde Ende

von Can Mayaoglu

Einer der schönsten Sätze in „Was wir schon immer sein wollten“ lautet „Ich hoffe, er weiß, was du wert bist“. Waren die ersten beiden Felix-Bücher rauschhaft, manchmal tänzerisch, doch immer in einem leicht überdrehten Erzählton verfasst, wirkt der dritte, wieder im Albino Verlag erschienene Roman des Wahlberliners Julian Mars durch solche Sätze gesetzter, nicht aber weniger mitreißend. Er steht ein wenig für sich. Und das tut ihm gut, er soll gern für sich stehen dürfen.

In den ersten beiden Bänden „Jetzt sind wir jung“ und „Lass uns von hier verschwinden“ haben wir die Hauptfigur der Trilogie, Felix, durch seine Pubertät, sein erstes Verliebtsein, den Umzug nach Berlin und das Auf und Ab des Erwachsenwerdens begleitet. Dabei tappte Mars weder in die Karikaturenfalle, noch verlor er sich in Klischees (wie etwa jüngst die missglückte ARD-Dramedy-Serie „All You Need“). Die Bücher ließen uns teilhaben am Leben eines jungen Menschen, der seinen Platz in einer Welt sucht, die nicht für seinesgleichen gemacht ist. Auch als queere Frau wurde man beim Lesen der beiden Bände direkt in die eigene Pubertät zurückkatapultiert. Die Scham und die Irritation, die Felix erlebt, wecken Erinnerungen. Das Sich-von-der-ominösen-Szene-abgrenzen-Wollen und gleichzeitig Auf-sie-angewiesen-Sein erfasst Mars ohne zu werten oder gar moralisch daherzukommen.

Julian Mars – Foto: fraeulein-fotgraf.de

Im dritten und letzten Band blickt Felix nun auf das eigene schwule Selbst und konstatiert: „Ich wollte mich nur nicht für immer und ewig für eine der beiden Welten entscheiden. Stattdessen hoffte ich immer noch, es irgendwann irgendwie zu schaffen, in beiden zu Hause zu sein. Ohne mein Leben lang zwischen den Stühlen zu sitzen.“ Da schreibt jemand, der um den Mangel an Vielfalt an schwul/lesbisch/queeren Figuren und Darstellungsformen in der Öffentlichkeit weiß. Der weiß, dass homo eben nicht gleich homo ist: „Man muss sich nicht nur mit der Mehrheitsgesellschaft rumschlagen, sondern auch mit den eigenen Leuten. Und jeder will was von einem.“

Dabei gelingt Mars etwas sehr Seltenes in der deutschen Gegenwartsliteratur: Seine Erzählungen sind kein gezwungenes, verkrampftes So-tun-als-ob, sie sind schlicht wunderbar unterhaltsam und fließend im Erzählton. Mars will nicht mehr sein als er ist: kein Ocean Vuong oder Édouard Louis, die der Welt mit ihrem Intellekt und ihrer Biografie entgegentreten (was sie – Stichwort Intersektionalität ganz hervorragend tun). Mars erzählt uns von einer weißen männlichen Welt (nicht eine Person of Color oder lesbische oder non-binäre Figur taucht auf), in der sehr viele Probleme nur leicht angedeutet werden (wieder Stichwort Intersektionalität). Punkt. Sicher würde man im wahren Leben jemandem wie Felix nahelegen, mal „Out of the Shadowsdes amerikanischen Psychologen Walt Odets zu lesen oder Alan Downs’ „The Velvet Rage“. Trotzdem: Ich bin eingetaucht und drei Bände lang mitgeschwommen. Es ist die feine Mischung aus berührt und zugleich amüsiert werden, die dazu führt, dass Felix einem einerseits nahekommt und man ihm gleichzeitig zwischendurch eine pfeffern möchte. So kann junges (deutsches?) schwules Erzählen auch gehen. Es braucht nicht immer die Kopfgeburten, es darf auch mal der Schenkelklopfer sein.

Wo Steinhöfels „Die Mitte der Welt“ aufhört, scheint der dritte und abschließende Teil der Felix-Trilogie anzudocken: Was kommt nach der Pubertät und vor dem Erwachsensein? Bei Steinhöfel macht sich Hauptfigur Phil nach Amerika auf, Felix schafft es immerhin nach Berlin. Dort kann er, da er aus wohlhabenden Verhältnissen stammt und Eltern hat, die es nicht einmal schaffen, sich um sich selbst zu kümmern, sein Leben so gestalten, wie es ihm gefällt. Er begegnet seiner großen Liebe Martin wieder, auch seine hinreißend neurotisch-depressive Mutter ist weiterhin an Bord (zwar nur am Rande, aber immer noch mit Tamara/Samantha Suxogood/Hugo/Niki Saint-Phallus als eine der stärksten Figuren der Romanreihe). Überhaupt hat Mars ein Figurenensemble geschaffen, das von skurril-heiter (Tamara/Samantha Suxogood/Hugo/Niki) bis zu distinguiert-verschroben (Gabriel) reicht. Es ist einer der wenigen Kritikpunkte, dass er manchmal übers Ziel hinausschießt. Emilie, Felix’ beste Freundin, „erbt“ zum Beispiel von ihrem Vater die Puffs, die dieser geführt hat. In der realen Welt gibt es Studien, die belegen, dass ca. 60 bis 75 Prozent der Frauen, die als Prostituierte arbeiten (müssen), einmal oder mehrmals vergewaltigt wurden. Die Frauen, die in Emilies Bordellen arbeiten, hingegen werden als zickende, verblödete Fickwillige dargestellt. Es ist schon fast mutig zu nennen in der heutigen Zeit so dermaßen an der Realität vieler Prostituierter vorbeizuschreiben. Zumal es vollkommen unnötig ist. Statt zur Unterhaltung beizutragen, wirkt es eher, als würde hier das heterosexuelle Cis-Mann-Narrativ der stets freiwilligen Sexarbeiterin übernommen. An diesem Punkt wäre es gut gewesen, eventuell auf den Effekt (der sich ohnehin nicht ganz erschließt) zu verzichten, denn das Buch hat ihn nicht nötig. Die Story würde wunderbar ohne diesen Erzählstrang funktionieren. Felix begegnet aber auch – und das ist etwas, wofür Julian Mars wirklich Applaus verdient – sich selbst. Und zwar auf ehrliche Weise. Nachdem sich Felix munter durch seine ersten Jahre als Schwuler gevögelt hat, kann er es auch in der scheinbar so ausgewogenen Beziehung mit Martin nicht lassen, dem inneren Drang nachzugehen, der eben nicht mehr, sondern schlicht was anderes will.

Mars verfällt nicht dem verführerischen Ideal des sich stets weiterentwickelnden Charakters, der zum fertigen Menschen wird, und alles gut und alles schön, und man selbst ist beim Lesen am Ende drüber eingeschlafen. Felix genügt es schlicht nicht, „nur“ Sex auf Augenhöhe zu haben. Mars versucht sich weder an einer „Erziehung“ seines Protagonisten, noch lässt er ihn enervierende innere Monologe über eine vermeintliche Unzulänglichkeit führen. Stattdessen lässt er ihn bei sich selbst ankommen. Das macht die wunderbare, glasklare Ehrlichkeit des dritten Bandes aus. Indem Felix sich befreit von Vorstellungen, wie denn nun sein Leben zu sein hat – von der überdrehten besten Freundin bis zur besserwisserischen, wenn auch fürsorglichen älteren Schwester scheinen in seinem Umfeld alle zu wissen, wie er sein Leben gestalten soll –, schafft er es, zu sich selbst zu stehen. Behandelte der erste Band das Spannungsfeld zwischen intimem und öffentlichem Homo-Sein, wirkte der zweite Band wie der Versuch, dieses Spannungsfeld zu strukturieren. Im dritten Teil ergibt sich aus dem Konflikt die Chance, etwas wirklich Eigenes zu entdecken und zu entwickeln. Und die Erkenntnis, dass die Spannung nicht zwingend spalten, dass sie nicht einmal überwunden werden muss, sondern dass sie menschlich ist und angenommen werden kann. Man braucht die beiden ersten Felix-Bände nicht zu kennen, um den dritten zu verstehen. Wer aber mal wieder so richtig formvollendet abtauchen möchte, dem seien alle drei Bücher von Julian Mars ans Herz gelegt, denn sie sind gute Unterhaltung, die kein Klamauk ist und doch voller Witz steckt. Was mehr kann man in Tagen wie diesen brauchen? Oder was sagst du dazu, Sladkij?




Was wir schon immer sein wollten
von Julian Mars
Klappenbroschur, 324 Seiten, € 18,00
Albino Verlag

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