Joseph Cassara: Das Haus der unfassbar Schönen

Buch

Solidarität, Schönheit und ganz viel Glamour. Das waren die Überlebenskonzepte in der Ballroom Culture im New York der frühen 1980er, samt ihrer in Häuser zusammengeschlossenen Ersatzfamilien aus jungen Drag Queens und Transpersonen, queeren Latinos und Afroamerikanern, die in kein hetero- oder homonormatives Spektrum passten und in der US-Gesellschaft in gleich mehrfacher Hinsicht soziale Außenseiter*innen waren. Bei den regelmäßig stattfindenden, rauschhaften „balls“ traten die einzelnen Häuser in „walks“ gegeneinander an – Bewertungsgegenstand: „realness“ – und konstruierten so zugleich eine gemeinsame subkulturelle Identität. Jennie Livingston hat der sagenumwobenen Szene, die Madonnas „Vogue“ und „RuPaul’s Drag Race“ inspirierte und von der seit vergangenem Jahr auch Ryan Murphys preisgekrönte Serie „Pose“ (aktuell auf Netflix zu sehen) erzählt, bereits 1990 mit ihrem Dokumentarfilm „Paris Is Burning“ ein Denkmal gesetzt. Der US-Schriftsteller Joseph Cassara, Jahrgang 1989, hat nun die Geschichten der Hauptfiguren aus Livingstons Film recherchiert und erzählt in seinem Debütroman von ihnen und ihrer Ersatzfamilie, dem legendären Haus Xtravaganza. Elmar Kraushaar hat „Das Haus der unfassbar Schönen“ für uns gelesen.

And the Rest is Drag

von Elmar Kraushaar

„Die weißen Queens“, sagt Tyler, der Geliebte von Hector, „haben ihre Bälle draußen auf Long Island. Und die schwarzen Queens haben ihre oben in Harlem.“ Und was ist mit den Puerto Ricanern? Hector will es wissen, schließlich ist er einer von denen. Auch sie gehören zu New York, auch sie brauchen ein eigenes Domizil, angelehnt an die glamourösen Häuser der französischen Couture. Wo man sich heimisch fühlt, geschützt, geborgen. Wo man sich kleidet wie man mag. Wo man sich ein eigenes Geschlecht gibt, einen eigenen Körper, unabhängig von dem, in den man einst hineingeboren wurde. Wo man Familie findet, weil die ursprüngliche untauglich ist, verhasst, nicht existent.

Das New York der frühen 1980er Jahre meint es nicht gut mit jungen Leuten wie Hector oder seiner besten Freundin Angel. Sie haben keine Arbeit, keine Ausbildung, sind ständig in Gefahr abzurutschen in die Kriminalität, in den Drogenmissbrauch. Und eine neue Krankheit kommt auf, die Immunschwächekrankheit Aids, an deren Folgen immer mehr Menschen sterben. Als Hector und Angel ihr Haus Xtravaganza, exklusiv für Puerto Ricaner, gründen, geben sie sich einen Sinn, einen Halt, eine Heimat. Hier gehören sie jetzt hin, sind unter ihresgleichen, veranstalten ihre Tanzabende, ihre Modenschauen, zeigen auf ihren imaginären Catwalks ihre eigenen Kreationen, die voller Fantasie stecken, überbordend in Farben und Materialien. Erfinden neue Frisuren dabei, und Make-ups, wie man sie noch nicht gesehen hat zuvor. In Bewegungen, die den Supermodels abgeguckt sind, um sie dann doch noch weit zu übertreffen. Treten in den Wettbewerb mit den Häusern der Weißen und der Schwarzen, ein Wettbewerb, der sie gegenseitig inspiriert und ständig neu anspornt.

Joseph Cassara – Foto: Amanda Kallis

Das Haus Xtravaganza hat es wirklich gegeben, auch Hector und Angel. Sie sind die Protagonisten in dem legendären Dokumentarfilm „Paris Is Burning“ von 1990. Der junge Autor Joseph Cassara, geboren 1989 in New Jersey als Sohn puerto-ricanisch-sizilianischer Eltern, hat sich in seinem Erstling genau jene vorgenommen, die man schon aus der Geschichte und dem Film kennt. Er ist ihnen zugewandt voller Empathie, zeichnet ihre individuellen Lebensgeschichten nach, um dann die Wege zu beschreiben, die sie zusammenführen als Wahlfamilie, als Kollektiv. Wie sie sich ineinander verlieben, Sex haben miteinander, sich verantwortlich fühlen der eine für die andere. Die Tunte für den Macho, die Drag Queen für die Transfrau, der Schwule für die Lesbe.

Cassara liebt seine Figuren und die Welt, in der sie leben, obwohl er selbst als „Spätgeborener“ nie Teil davon war. In einem Interview mit dem Online-Literaturmagazin „The Millions“ hat er einmal erklärt, warum er dieses Milieu im New York der 1980er und frühen 1990er Jahre so mag: „Da gab es diese perfekte Kombination aus Mut und Großartigkeit. Als könne man ihnen ins Gesicht spucken und sie bleiben trotzdem dabei: ‚Oh Baby, ich bin in New Fucking York.‘ Es ist genau diese Ästhetik, die ich liebe.“

Und noch etwas hat ihn angespornt, diese Geschichte des Hauses Xtravaganza wieder lebendig werden zu lassen: „Ich bin schwul und werde immer dann traurig, wenn mir bewusst wird, wie viel an queerer Geschichte verloren geht, weil sie nicht richtig dokumentiert oder absichtlich gelöscht wurde.“

Diese Versäumnisse will Cassara nachholen und wagt sich deshalb an die legendenumwobenen Geschichten der Ballroom-Szene in New York. Er bleibt nahe dran an den Helden von einst, gibt ihnen ihre Namen und groben Biographien, ohne jedoch sich ganz genau an deren wirkliche Lebensgeschichten heranzuwagen. Vielmehr nimmt er sich die Freiheit des Schriftstellers, um sie auch für den Leser erfühlbar zu machen, uns die Möglichkeit zu geben, mit ihnen zu trauern und zu leiden, und uns mit ihnen zu freuen. Wir begleiten Angel, den kleinen, dürren puerto-ricanischen Jungen dabei, wie er das erste Mal zu sie wird, im Fummel auf die Straße geht, keine Frau sein will, aber „das Frausein ausstrahlen“. Oder wie Hector die Nachricht erhält, dass sein Geliebter Tyler auf offener Straße erschlagen wurde und er, der Freund, nicht zur Beerdigung kommen kann, da Tylers bürgerliche Eltern nichts wissen wollen von dessen schwulem Leben. Oder die obdachlose Venus, die hinter den Mülltonnen versteckt von einem Mann träumt, der, gekleidet in einen Anzug von Dior, jeden Abend kurz vor dem Essen in ihrem weißen Traumhaus mit ihr schläft.

In der literarischen Vorlage sprechen die Personen die Nuyorican-Mischung aus Englisch und Spanisch, ein selbstverständliches Kauderwelsch aus zwei Sprachen, das mitunter hart und grob ist, genau wie die Umgebung, in der es sich bewähren muss. Für die Übersetzung ins Deutsche hat Stephan Kleiner den Kniff angewandt, immer wieder spanische Worte in die Dialoge einzustreuen, ohne sie zu übersetzen oder per Fußnote zu erklären. Das funktioniert, diese Sprache trägt dazu bei, sich in der besonderen Atmosphäre zurechtzufinden.

Die Geschichten um die Häuser der jungen Leute von New York haben längst Eingang gefunden in die Populärkultur. Nicht nur mit „Paris Is Burning“, aber auch mit Madonnas Chart-Erfolg „Vogue“ von 1990, angelehnt an das Voguing, den besonderen Tanzstil der queeren Jugendlichen. In jüngster Zeit hinzugekommen ist die Serie „Pose“, die 2018 in den USA anlief und seit Januar 2019 auf Netflix auch in Deutschland zu sehen ist. Die Macher der Serie beziehen sich eindeutig auf „Paris Is Burning“, die Serie selbst wird von der Kritik gefeiert, und die LGBTIQ-Community ist begeistert, weil sie, wie der „Hollywood Reporter“ schreibt, „von allen Serien weltweit die meisten Transgender-Figuren“ zeige.

Diese Aufgabe hat sich auch Joseph Cassara gestellt, voller Sensibilität aber auch mit viel Humor bringt er die zusammen, die uns ein Stück queerer Geschichte erfahrbar machen. Ganz ohne Peinlichkeit und ohne moralischen Zeigefinger. Aber mit einer Würde für all jene, denen in ihrem wirklichen Leben davon nicht viel widerfahren ist.




Das Haus der unfassbar Schönen

von Joseph Cassara
Aus dem Englischen von Stephan Kleiner
Gebunden, 448 Seiten, 24 €,
Kiepenheuer & Witsch

 

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