Jongens

Trailerrbb QUEER DVD / VoD

Heute Abend läuft das vielfach ausgezeichnete Jugenddrama „Jongens“ bei rbb QUEER. Ein 15-jähriger Junge mit dem schönen Namen Sieger möchte eigentlich nur beim Sprintstaffelwettbewerb am Ende der Ferien als erster durchs Ziel zu laufen, als ihm plötzlich die erste Liebe ein Bein stellt. Sie heißt Marc, also ist Sieger schwul. Doch so eindimensional sind die Helden in Mischa Kamps Liebesgeschichte nicht. André Wendler schreibt für uns darüber, was es mit dem Genre des Coming-Out-Films auf sich hat und warum „Jongens“ ein ganz besonders schöner Coming-Out-Film ist.

Foto: Edition Salzgeber

Ich bin nicht schwul.

von André Wendler

Mein eigenes Coming-out liegt über achtzehn Jahre zurück. Selbst wenn ich darüber eine ereignisreiche, traurige, lustige oder verstörende Geschichte erzählen könnte, würde ich das heute kaum noch tun. Der größte Teil meines bewussten und selbstbestimmten Lebens hat nach diesem Ereignis stattgefunden. Die Heimlichkeiten, die erste Notiz davon, dass mit mir etwas anders ist, der Moment, in dem ich begriff, dass das Wort „schwul“ mit mir zu tun hat, alles das wiegt aus der Entfernung der Jahre nicht mehr sehr schwer für mich. Ich habe deswegen ein etwas gespaltenes Verhältnis zu Coming-Out-Filmen. Manchmal erinnern sie mich an Dinge, die ich gern schon vergessen haben wollte. Manchmal lassen sie mich froh auf meine eigene Biografie zurücksehen. Manchmal langweilen sie mich schlicht, weil die von ihnen vorgetragenen Probleme einfach zu weit von mir entfernt sind.

Das ungefähr war die Ausgangslage, aus der ich mich „Jongens“ von Mischa Kamp genähert habe. Und dann das: Die beiden Jungs, zwischen denen es schon länger knistert, sind zusammen an einem See. Sie springen hinein, machen Quatsch, den Jungs beim Baden eben so machen, liegen auf einem Floß. Schnitt. Ein Baumstamm teilt das Bild senkrecht in der Mitte. Die Kamera blickt genau von oben. Rechts und links dunkelgrünes, fast schwarzes Wasser. Es taucht eine Hand auf, die nach dem Stamm greift. Ein Kopf, zwei schöne athletische Schultern, noch ein Arm. Auch auf der anderen Seite des Stamms kommen diese Fragmente eines Jungen aus dem Wasser. Beide halten sich am Stamm fest, schnaufen erschöpft vom Schwimmen, sehen einander an. Der linke Junge stützt sich ab und springt über den Stamm auf die andere Seite. Der rechte erwidert den Seitenwechsel und taucht unter dem Stamm hindurch. Beide lehnen mit den Armen auf dem Stamm. Ihre Hände berühren sich, die Arme liegen aufeinander. Es ist eine abstrakte Form, keine Gesichter, keine Mimik, keine verschämten Blicke, kein Lächeln. Nur zwei muskulöse Jungen-Trapeze, nackt, aneinandergeheftet im Wasser. Drei Atemzüge. Dann beugt sich der Junge links nach vorn und küsst den anderen. Als er sich zurücklehnt, erwidert dieser den Kuss sofort und taucht ab in das schwarze Wasser. Als er wieder auftaucht, hängt er sich mit dem Gesicht nach oben zur Kamera an den Baumstamm. Der andere kopiert seine Haltung. Fast schweben sie nun nebeneinander im Wasser. Ein flüchtiges Lächeln. Schnitt. Sieger, so heißt derjenige von beiden, der sonst mit einer Freundin herumläuft, und für den das hier wohl der erste Kuss von einem anderen Junge gewesen ist, packt sein Fahrrad zusammen. Er dreht sich zu Marc und sagt: „Ich bin nicht schwul.“ – „Natürlich nicht“, antwortet der.

Foto: Edition Salzgeber

Es ist nur einer der Wege, auf denen der Film die Jungs zusammenführt. Sie begegnen sich auch immer wieder beim Lauftraining im Sportverein, wo sie sich gemeinsam auf einen wichtigen Wettkampf im Staffellauf vorbereiten. Lang und intensiv üben sie ihre Geschwindigkeiten so aufeinander abzustimmen, dass sie den Staffelstab fließend übergeben können. Laufen, Springen, Rennen. Mit dem Fahrrad gemächlich durch den Wald zuckeln, mit dem Motorrad wie verrückt davon rasen, im Bus über die Autobahn gleiten, im Auto durch die Landschaft cruisen. Allein vorankommen oder einen anderen einholen. Davonlaufen und zurückkommen. Der Film widmet diesen Bewegungsabläufen mindestens soviel Aufmerksamkeit wie den Gefühlen und Wünschen seiner Protagonisten, so dass beide irgendwann zusammengehören. Der Staffellauf wird nur gelingen, wenn die Verhältnisse geklärt sind. Das schwierige Verhältnis von Siegers Bruder zu seiner Familie entspricht vollkommen seiner Fähigkeit, dieser mit seinem Motorrad davon fahren zu wollen, zu können oder zu dürfen. Am Anfang läuft Sieger allein auf dem Trainingsplatz, am Ende sitzt er mit Marc auf dem Motorrad.

Jede Bewegung verändert das Gesamtgefüge. Wenn Sieger noch einmal mit dem Fahrrad zurückfährt, kommt er Marc näher. Wenn er beim Training noch etwas schneller ist, himmelt ihn nicht nur Marc an, sondern auch Jessica. Die Physik der äußeren Bewegungen ist gleichzeitig eine Physik der Emotionen. Was die Charaktere bewegt, was uns bewegt, was die Bilder bewegt, ist immer zugleich ein einfaches rechts und links wie ein komplexes du und ich. Ob einer schwul ist, ist genau so wichtig, wie ob er einen Handstand kann. Die Zeit beim Lauftraining entspricht der Gefühlsintensität beim Händchenhalten. Alles häng hier miteinander zusammen. Wenn Sieger sagt: „Ich bin nicht schwul“, dann heißt das: Ich bin auch Läufer und Sohn und Fahrradfahrer und Schwimmer. Es ist genau dieser Punkt, der mich an dem Film interessiert und begeistert und über die Frage, wie und wann zwei Jungs zueinander finden, hinausgeht.

Foto: Edition Salzgeber

Es ist nämlich durchaus nicht einfach das gleiche, ob man als Junge einen Jungen liebt, ihn küsst, vielleicht sogar mit ihm Sex hat oder ob man schwul ist. Die Schnelligkeit, mit der Sieger Marcs Kuss erwidert, sagt zweifelsfrei: Ich will dich, ich mag dich, ich will das hier. Immer wieder zeigt er ihm, dass er ihm wichtig ist und dass er sich wohler in seinen Armen als an der Hand seiner „Freundin“ Jessica fühlt. Ihm ist aber auch klar, dass ihm in dieser Frage keine Naivität vergönnt ist. So wie im Film alle Bewegungen miteinander verknüpft sind, so ist für Sieger klar, dass an der Entscheidung für Marc mehr hängt als nur ein Kuss oder eine Umarmung. Der Film könnte vielleicht zu Interpretationen einladen nach dem Motto: Sieger ist zwar schwul aber sonst ein ganz normaler Junge. Für ihn funktioniert das so aber nicht. Am nächsten gelangt er an ein explizites Coming-Out, wenn ihn sein Vater fragt: „Geht es?“, und er antwortet: „Nein.“ Etwas sehr Allgemeines und Umfassendes ist aus dem Tritt gekommen. Sieger hat in seiner eigenen Familie, in der die Mutter gestorben ist, schon erlebt, was es heißt, wenn heterosexuelle Strukturen zerstört werden und plötzlich ein Vater mit zwei Söhnen auskommen muss. Aller Herzlichkeit zum Trotz lässt sich von dieser „Familie“ nur noch in Anführungszeichen sprechen. Siegers Bruder verweigert regelmäßige Erwerbsarbeit, treibt sich rum, stiehlt, widerspricht dem Vater. Die Ordnung der heterosexuellen Welt beginnt bei Boy meets Girl und endet beim Nationalstaat noch lange nicht. Wenn aber der Anfang schon in Frage steht und die zärtlichen Blicke und schüchternen Berührungen mit Jungs statt mit Mädchen getauscht werden, steht alles das in Frage. Nein, es geht nicht.

Foto: Edition Salzgeber

Die Hartnäckigkeit, mit der einige Schwule und Lesben dafür kämpfen müssen, normal werden zu dürfen, Vater–Vater–Kind und Homoehe als Ausdruck letzter Befreiung zu verstehen, zeigt nur, dass hier ein äußerst prekärer Frieden erkauft wird. Ein heterosexuelles Leben ohne Heterosexuelle ist die bitterste Parodie normierter Subjektivität. David M. Halperin hat in „How to be Gay“ ausführlich gezeigt, dass eine schwule Subjektivität im starken Sinn auf einem umfangreichen historischen Fundament schwuler Kultur gebaut ist. Musicals, Klappen, Melodramen, Saunen, Drag und Disco sind nur einige der Dinge, deren Handhabung Schwule beherrschen oder von denen sie wenigstens als Teile ihrer eigenen Geschichte wissen müssen. Noch die Ablehnung all dieser Techniken und die Flucht in die Vorstädte bezeugt ihre Wirksamkeit von ihrer Gegenseite her. Schwul sein heißt, eine Haltung zu diesen Dingen zu entwickeln und sie als Alternative oder Korrektur heterosexueller Kultur zu begreifen. Die Angriffe auf Halperin zeigen, dass solche Thesen in Tagen, in denen es aus jedem Lautsprecher „I was born this way“ dudelt, nicht eben en vogue sind.

„Ich bin nicht schwul.“ – „Natürlich nicht.“ Ob Sieger und Marc es jemals werden, ob sie sich diesen Begriff jemals zuschreiben wollen und werden, wissen wir nicht. Wir können in diesem zauberhaften Film aber sehen, was für eine sanfte und umfassende Kraft zwei Küsse zwischen Jungs haben können und was für ein anspruchsvolles Programm der Arbeit an sich selbst sie freisetzen können. Coming-Out ist der Name dieser Arbeit.



Jongens
von Mischa Kamp
NL 2014, 78 Minuten, FSK 0,
niederländische OF mit deutschen UT,
Edition Salzgeber

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VoD: € 4,90 (Ausleihen) / € 9,90 (Kaufen)


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