Joe Brainard: Ich erinnere mich

Buch

Seit Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (1913-1927) gilt vielen Schriftsteller*innen die eigene Erinnerung als einzig legitime Quelle von Literatur, und Proust war der Geruch von Urin in der Spargelzeit ebenso „literaturwürdig“ wie der Duft der Madeleine zum Lindenblütentee. Fünfzig Jahre nach Prousts Tod veröffentlichte der 1941 in Arkansas geborene und 1994 an einer durch Aids verursachten Lungenentzündung verstorbene Künstler und Autor Joe Brainard seine ganz persönlichen Erinnerungen an vergangene Empfindungen: „Ich erinnere mich“ erzählt keine Geschichte, sondern präsentiert Erinnerungen pur, die jedoch, folgt man Rezensent Axel Schock, in ihrer Gesamtheit das faszinierende Porträt einer aufwühlenden Epoche ergeben.

Die Erinnerungsmaschine

von Axel Schock

Memoiren schreibt heute jeder drittklassige Promi. Der Erkenntnisgewinn hält sich dabei allerdings häufig in Grenzen. Joe Brainard, 1994 an den Folgen von Aids verstorben, ist hierzulande ein richtiger Nobody. Warum also sollte man ausgerechnet das Erinnerungsbuch eines fast vergessenen New Yorker Bohemiens, Künstlers und Poeten lesen wollen? Ganz einfach: Weil Brainard in einer vordergründig schlichten, aber geradezu genialen kompositorischen Form zwar auch über sich selbst schreibt, in Wahrheit aber an das kollektive wie individuelle Gedächtnis seiner Leser*innen appelliert. Wie gut, dass das poetische und in vielerlei Hinsicht inspirierende Meisterwerk „Ich erinnere mich“ jetzt in einer Neuausgabe auf Deutsch vorliegt.

„Ich erinnere mich“ – in Joe Brainards Buch sind diese drei Worte mehr als nur eine Feststellung. Dieser Satz wird zu einer Beschwörungs- und Zauberformel. Immer und immer wieder, wie in einer Litanei wiederholt Brainard diese Phrase und vervollständigt sie:

„Ich erinnere mich an bunte Schaumbadkugeln. Und an Schmutzringe in der Badewanne.
Ich erinnere mich an gezuckerte Butterbrote.
Ich erinnere mich an ‚Schwule können nicht pfeifen‘.“

Der damals 27-jährige Brainard hatte für sich ein simples, selbstverständliches, höchst ökonomisches und doch so überzeugendes Konzept gefunden, um in den Tiefen seiner Erinnerungen zu kramen. Jeder der rund 1500 immer wieder überraschend präzisen und völlig unprätentiösen Einträge beginnt mit dieser Phrase und ermöglicht, ein weiteres Fragment, ein Bild, eine Alltagsbeobachtung, und sei sie noch so banal, hervorzuholen und festzuhalten.

Das mag dem einen oder der anderen zunächst ziemlich beliebig, belanglos und zudem unstrukturiert erscheinen. Denn tatsächlich kümmert sich Brainard weder um eine chronologische noch um eine thematische Ordnung. (Umso irritierender, dass Paul Auster in seinem Vorwort sich bemüßigt fühlt, sie dennoch quantitativ unter Obergegriffe wie „Familie“, „Körper“ und „Sex“ zu sortieren.)

Erinnerungsfetzen aus der Kindheit und Jugend im Mittleren Westen stehen scheinbar unvermittelt neben Einträgen zu Fernsehshows, sexuellen Erlebnissen und Momentaufnahmen eines Künstlerlebens im New York der 1960er und 1970er Jahre. Brainard lässt die Gedanken treiben, und als Leser*in folgt man diesen vor sich hin mäandernden Erinnerungen mit wachsender Faszination. Die Abschnitte sind oft nur fünf, sechs Worte lang; manche Sätze haben die Qualität eines Aphorismus. Dann wieder gibt es farbig auserzählte Anekdoten und „Kürzestgeschichten“.

„Ich erinnere mich, dass ich nicht verstand warum Aschenputtel nicht einfach ihre Siebensachen zusammenpackte und abhaute, wenn alles so schlimm ist.“

Das Überraschende (für manche vielleicht auch Enttäuschende) dabei ist: Auch wenn Brainard viel von sich preisgibt, die einzelnen Bausteine dieses keineswegs chaotischen, vielmehr assoziativ gebauten Textes fügen sich nicht zu einer – klassischen – Biografie. Über seinen künstlerischen Werdegang als Multitalent – er etablierte sich mit Zeichnungen, Collagen und Assemblagen als Pop-Art-Künstler, schrieb Gedichte und Prosa, entwarf Bühnenbilder – erfährt man kaum etwas. Noch weniger über seinen literarischen Freundeskreis. Immerhin war er mit vielen  Dichtern der New York School befreundet. Mit einigen, etwa Kenneth Koch, James Schuyler und John Ashbery, teilte er auch die Liebe zu Männern. Nichts darüber ist in „Ich erinnere mich“ zu lesen. Lediglich Ron Padgett, mit dem er in Tulsa, Oklahoma aufgewachsen ist, taucht immer wieder mal in Kindheitserinnerungen, aber auch als Vertrauter in der New Yorker Bohemien- und Künstlerszene auf. (Das Cover der Neuausgabe ziert ein von Padgett 1960 an der Columbia University New York City aufgenommenen Schnappschuss seines engen Weggefährten und Freundes).

Was Brainard allerdings mit seinem Zettelkasten an Flashbacks und Gedankenschnipseln schafft, ist, seine Leser*innen ziemlich schnell und unmittelbar mit diesem Erinnerungsstrom mitzureißen und Echoräume aufzumachen. Wie wenig es doch braucht, um kollektive Erfahrungen wachzurufen. Es bedarf tatsächlich nur einiger weniger Stichworte, um individuelle Erlebnisse, Situationen und Szenerien wie aus dem Nichts auf die innere Leinwand zu projizieren.

Sicher, diese Einträge sind einem bestimmten Kulturkreis und einer bestimmten Generation zuzuordnen. Viele der Erwähnungen von Konsumartikeln, Popsongs, TV-Shows oder Werbe-Ikonen sind Teil des US-Alltags und lösen bei Europäern, zumal jüngeren Alters, dementsprechend keinerlei Aha-Effekte aus. Einige Einträge machen zudem noch einmal unmissverständlich die historische Distanz deutlich. Die für Brainard prägenden Stars seiner Kindheit, Jugend und Gegenwart sind Liberace, Elvis Presley und Montgomery Clift.  Er erinnert sich an den Tag, als Marilyn Monroe starb und „dass Schwarze im Bus hinten sitzen müssen“.

Dennoch triggern Brainards Einträge den eigenen unvermuteten Schatz an kollektiven, oft unbewusst aufgesogenen und kaum erahnten Fundus an Alltäglichkeiten. Das wird bei jedem Leser und jeder Leserin sehr individuell und sehr verschieden sein. Wer hat wohl nicht versucht, sich die eigenen Eltern beim Sex vorzustellen? Wer erinnert sich nicht an Kettenbriefe, Bücherregale aus Ziegelsteinen und Brettern, ständig rutschende Socken oder Grasflecken an den Knien? Und warum hat man bis zu dieser Erwähnung nicht mehr daran gedacht?

Schwule Leser werden sich zudem über die zeitliche und geografische Distanz hinweg mit Dutzenden von Brainards Notaten identifizieren können, liefern sie doch auch so etwas wie die Essenz einer schwulen Biografie. Beginnend mit der Entdeckung des eigenen Körpers („Ich erinnere mich daran, wie klein ein Schwanz ist, wenn man aus einer nassen Badehose steigt“) über die erste Erektion („Ich dachte, ich hätte irgendeine schreckliche Krankheit“) und weiter zum sexuellen Erwachen („Ich erinnere mich an Wichsphantasien, in denen ich es mit einem Fremden im Wald trieb“).

Brainard atomisiert seine sexuelle Selbstfindung und Initiation, die damit verbundenen Wirrnisse und Verunsicherungen wie auch Liebes- und Sexabenteuer:

„Ich erinnere mich, dass man in der High School als schwul galt, wenn man donnerstags Grün und Gelb trug.
Ich erinnere mich, dass ich einen Stapel Magazine kaufte, um das Bodybuilder-Magazine darin zu verstecken, um das es mir eigentlich ging.
Ich erinnere mich, dass ich einmal versuchte, mir selbst einen zu blasen, es aber nicht schaffte.“

Gleich mehrfach gibt es mäandernde Erinnerungskaskaden rund ums Cruisen. Ein Stichwort genügt, um eine kleine Lawine auszulösen:

„Ich erinnere mich an Homo-Bars.
Ich erinnere mich, dass ich plötzlich darauf achtete, „wie“ ich meine Zigarette in Homo-Bars hielt.
Ich erinnere mich an laute, einheizende Musik. Zu viel Bier. Schnelle Seitenblicke. Und dass ich mich dafür hasste, dieses Spiel mitzuspielen.
Ich erinnere mich, dass ich mir Vorwürfe machte, nicht die Jungs abzuschleppen, die ich wahrscheinlich hätte abschleppen können, weil ich Angst vor einer Abfuhr hatte.“

„Ich erinnere mich“ erschien erstmals 1970 und wurde von Brainard über mehrere Ausgaben hinweg fortgeschrieben. Mitte der 1980er Jahre stellte er dann fast jegliche künstlerische Produktion ein, gerade so, als habe er mit der Literatur und Kunst abgeschlossen. Stattdessen widmete er sich dem Lesen, pflegte seine vielen Freundschaften. 1994 starb er im Alter von 52 Jahren infolge einer Aids-bedingten Lungenentzündung. Seine Asche ließ er auf einer Bergwiese in Vermont verstreuen, wo er fast drei Jahrzehnte lang mit seinem Lebenspartner, dem Schriftsteller und Herausgeber Kenward Elmslie, die Sommer verbracht hatte.

Dem Tod hat Brainard in seiner Erinnerungssammlung übrigens ebenso wenig Aufmerksamkeit geschenkt wie Momenten des Streits und Selbstzweifels oder des tiefen Unglückseins. Nicht, dass er seine Erinnerungen deshalb beschönigt. Sie waren ihm offenbar nicht so wichtig. Umso mehr verströmen seine Reminiszenzen eine wohltuende Wärme und immense Lebensfreude, und ja, auch herzerfrischende Komik.




Ich erinnere mich
von Joe Brainard
Aus dem Englischen von Uta Goridis
Gebunden, 185 Seiten, 18 €,
Walde + Graf

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