Joachim Bartholomae: Aschenbachs Vermächtnis

Buch

„Mit einer Novelle solchen Inhalts wäre man heute entweder unten durch oder feierte seinen Durchbruch als Skandalautor“, schrieb die FAZ vor ein paar Jahren über Thomas Manns berühmt-berüchtigtes Prosawerk „Tod in Venedig“, in dem sich ein altender Schriftsteller unsterblich in einen polnischen Jüngling verliebt. In einem neuen Essay, der jetzt als Buch erschienen ist, hat Joachim Bartholomae Manns Klassiker einer genauen Analyse unterzogen. Er zeigt, dass Autoren aus aller Welt sich von der eigentümlichen Themenstruktur inspirieren ließen und eigene Variationen über das von Thomas Mann vorgegebene Thema verfassten. Elmar Kraushaar stellt „Aschenbachs Vermächtnis“ vor.

Vom Donner gerührt

von Elmar Kraushaar

Während ich diese Zeilen schreibe, überstürzen sich die Schlagzeilen: „Venedig wird definitiv untergehen“, schreibt Zeit Online, „Ein Mythos geht unter“, meldet der Deutschlandfunk, „Untergang mit Ansage“, titelt die Frankfurter Rundschau. Die Stadt in der Lagune wird wieder einmal von einem Hochwasser heimgesucht, das schlimmste seit 50 Jahren.

Vom Untergang Venedigs schreibt 1911 auch Thomas Mann in seiner Novelle „Der Tod in Venedig“, und meint damit die Cholera-Epidemie, die tatsächlich in jenem Jahr die Stadt an der Adria heimgesucht hat. Gustav von Aschenbach, ein alternder Schriftsteller, ist die Hauptfigur in Manns Novelle und stirbt an der Cholera, nachdem er sich ein letztes Mal verliebt hat in Tadzio, einen polnischen Fünfzehnjährigen. Eine Geschichte also, die ganz oben stehen könnte, gäbe es einen Kanon schwuler Bücher. Diesen Kanon aber gibt es nicht, und „Der Tod in Venedig“ würde auch nicht darin aufgeführt. Die queeren Menschen von heute lehnen vehement jegliche Verbindung zwischen vermeintlicher Pädophilie und männlicher Homosexualität ab.

Edo Reents schreibt bereits 2012 in der FAZ zum 100. Jubiläum des Erscheinens: „Mit einer Novelle solchen Inhalts wäre man heute entweder unten durch oder feierte seinen Durchbruch als Skandalautor.“ Und fährt fort: „Thomas Mann stünde da als Pädophiler – das ist, neben Antisemitismus, heute das Schlimmste, was man über einen Menschen sagen kann.“

Joachim Bartholomae – Foto: Jens Wormstaedt

Derlei Vorbehalte kümmern den Hamburger Verleger und Übersetzer Joachim Bartholomae nicht. Er unterzieht Thomas Manns Text einer genauen Betrachtung und verfolgt den Nachhall der Novelle in der Literaturgeschichte vergangener Jahrzehnte. Zum ersten Mal in Berührung mit der außergewöhnlichen Liebesgeschichte kam Bartholomae, so schreibt er, als er – noch Schüler – Anfang der 1970er Jahre die Verfilmung von Luchino Visconti im Kino sah. „Vom Donner gerührt“ sei er gewesen: „Derart unverhohlene Darstellungen der Faszination durch männliche Schönheit waren mir bis dahin vollkommen unbekannt.“

„Schönheit“ ist ein Schlüsselwort in Bartholomaes Reflexionen, der Ältere erblickt in dem Jungen „die physische Verkörperung vollkommener Schönheit.“ Eine Schönheit, die ihn jeder Würde beraubt, die ihn schließlich das Leben kostet. Ausführlich widmet sich Bartholomae Manns komplexer Themenstruktur, beschreibt, wie alles um Tadzios Schönheit kreist, wie der Schriftsteller bei seinem Bemühen um geistesgeschichtliche Bezüge auch zurückgreift auf die griechische Antike, für homosexuelle Männer früherer Generationen bewährte List der Selbstvergewisserung. Aus alledem folgert, schreibt Bartholomae, nur eine Erkenntnis: „Damit ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die geistige Liebe zur Schönheit eingestehen muss, die Liebe zu einem schönen Körper zu sein.“

Der Autor macht sich auf in die Weltliteratur, um genau das wiederzuentdecken, was Thomas Mann mit seiner Begegnung zwischen Aschenbach und Tadzio vorbereitet hat. Wobei Bartholomae deutlich formuliert, dass es sich hierbei „ganz offensichtlich“ um keine Liebesgeschichte handle. Und doch findet er bei seinem literarischen Rundblick – „Echo“ wie er es nennt – immer wieder die Liebe. Wie bei Ernst Penzoldt und dessen „Idolino“, die Geschichte eines Bildhauers, der die Totenmaske eines jungen Selbstmörders anfertigen soll und sich schließlich in den Toten verliebt, eine Gestalt von vollkommener Schönheit.

Ein anderer Schriftsteller, Viktor Meyer-Eckhardt, „covert“ – so Bartholomaes Wertung – nur 14 Jahre nach Erscheinen die Mann’sche Novelle, nennt sie „Die Gemme“ und macht aus dem Schriftsteller Gustav von Aschenbach den Archäologen Johann Joachim Winckelmann. Entgegen der biographischen Fakten des wirklichen Winckelmanns begegnet bei Meyer-Eckhardt der alternde Gelehrte einem wunderschönen Hoteldiener, nicht in Venedig, dafür in Triest. Die beiden verbringen eine Nacht miteinander, die in einem dramatischen Liebestod endet.

Ein Jahr nach Meyer-Eckhardt erscheint „Mister Fortunes letztes Paradies“ der britischen Schriftstellerin Sylvia Townsend Warner. Auch hier trifft ein älterer Mann, ein zu einem Missionar gewandelter Bankangestellter, auf einer fernen Insel auf einen jungen Eingeborenen. „Ein nackter brauner Junge“ wird, schreibt Bartholomae, „die Verkörperung seiner lebenslangen Sehnsucht.“

So geht es in dem Buch weiter, von Hermann Brochs „Der Tod des Vergil“ über Charles Jacksons „Die Niederlage“ und Yukio Mishimas „Verbotene Farben“ bis zu Wolfgang Koeppens Roman „Der Tod in Rom“, um schließlich in der Jetztzeit bei Hans Christoph Buch und „Tod in Habana“ zu enden. Um diese Suche nach dem „Echo“ des „Tod in Venedig“ zu beenden streift Bartholomae auch Viscontis Verfilmung und die Oper gleichen Titels von Benjamin Britten.

Zusammenfassend kommt er zu der Erkenntnis, dass „Der Tod in Venedig“ nicht heterosexuell erzählt werden kann. Als Beleg dafür erinnert er an „Lolita“ von Vladimir Nabokov, denn: „Bei Nabokov spielen weder Schönheit noch Geist eine Rolle.“ Bei den Autoren, deren Arbeiten er in eine Reihe stellt mit dem Text von Thomas Mann, sind die älteren Männer allesamt Kulturschaffende, die beruflich mit „der Erzeugung von Schönheit“ zu tun haben. Daraus folgert Bartholomae schlüssig: „Ich vermute, dass dieser handwerkliche Bezug die Rechtfertigung liefern sollte, dass die Protagonisten sich mit dem Wesen der Schönheit befassen und darüber Interessantes mitzuteilen haben.“ All die Texte werden von ihm also gelesen als ein „Spektrum der Schönheitstheorien“. Doch damit ist heutzutage Schluss, so Bartholomaes Fazit: „In den Künsten des 21. Jahrhunderts ist die Schönheit längst von ihrem Podest gestoßen worden.“ Das Echo auf Thomas Manns „Tod in Venedig“ ist verhallt.

Eine verdienstvolle Arbeit ist dieser Essay von Joachim Bartholomae, auch wenn nicht alle Echo-Herleitungen überzeugen können. Aber allen literaturwissenschaftlich Interessierten, insbesondere den Anhängern jeglicher Thomas-Mann-Lektüre, hilft der Text zu genauerer Einordnung und besserem Verständnis des „Tod in Venedig“ und befreit ihn von der mutwillig schmähenden Einordnung als „Pädophilen-Novelle“.




Aschenbachs Vermächtnis
Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“ und ihr Echo in der Literaturgeschichte

von Joachim Bartholomae
Klappenbroschur, 146 Seiten, 20 €,
Männerschwarm Verlag

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