Jayrôme C. Robinet: Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund

Buch

Der Autor und Wortkünstler Jayrôme C. Robinet, Jahrgang 1977, hat früher als weiße Frau in Frankreich gelebt. Dann zieht er nach Berlin, beginnt Testosteron zu nehmen und erlebt eine zweite Pubertät. Ihm wächst ein dunkler Bart, und plötzlich wird er auf der Straße auf Arabisch angesprochen. Ob im Café, in der Umkleide oder bei der Passkontrolle, er merkt, dass sich mit seiner äußeren Erscheiung auch das Verhalten seiner Umwelt ihm gegenüber radikal ändert. Er kann vergleichen: Wie werde ich als Mann, wie als Frau behandelt? Und was bedeutet es, wenn sich nicht nur das Geschlecht ändert, sondern im Blick von außen auch die Herkunft? In „Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund“ erzählt er von seinem queeren Alltag und deckt auf, wie irrsinnig gesellschaftliche Wahrnehmungen und Zuordnungen oft sind. Anja Kümmel hat das Buch für uns gelesen.

Im Auge des Betrachters

von Anja Kümmel

„Hauptsache, du bringst uns keinen deutschen Mann mit nach Hause!“ warnt die italienische Großmutter zum Abschied, als Jayrôme C. Robinet mit neunzehn als Au-pair nach Berlin geht. Zu diesem Zeitpunkt lebt er noch als Frau. Bis er sich zur Transition entschließt, vergehen noch beinahe zwei Jahrzehnte – die lebendige queere Szene in Berlin  jedenfalls zieht ihn an und hält ihn. Rund 20 Jahre später holt ihn der Tod seines Onkels zurück in die nordfranzösische Heimat. Die Überraschung der nichtsahnenden Oma ist groß: Denn nun steht ihr Enkel selbst als „deutscher Mann“ vor ihr!

Wer Robinet als Spoken-Word-Künstler kennt, weiß, dass derlei verblüffende, irritierende, kathartische Momente, an denen die Wahrnehmung kippt, auch in seiner Lyrik oft den entscheidenden Aha-Effekt auslösen. Sein neuer Prosaband „Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund“ funktioniert nach einem ähnlichen Prinzip: In kurzen, kolumnenhaften Kapiteln begleiten wir das literarische Alter Ego des Autors ins Fitnessstudio, an den See, zu einem Tinder-Date oder im Zug zu einem Vortrag. Doch bieten die in sich abgeschlossenen Episoden weitaus mehr als ein „Slice of Life“ – vielmehr zeigen sie anhand vieler kleiner Begebenheiten, wie sehr all unsere Handlungen, Blicke und Gesten durchdrungen sind von vergeschlechtlichten Vorannahmen und kulturellen Prägungen.

In seinem früheren Leben als Frau erwarteten Männer selbstverständlich von ihrem (weiblich gelesenen) Gegenüber ein zugewandtes, aufmerksames und latent flirtendes Verhalten; „nun jedoch ist jeder Blickkontakt mit einem Mann, als würde ich bei Rot über die Ampel gehen“. Die subtilen homosozialen Codes muss er erst einmal interpretieren lernen. Ein zu kurzer Blick signalisiert Feigheit, ein zu langer Streitlust. Sich als schwul zu outen, kann ebenso gefährlich werden. Wenn er etwa, wie früher, seinem Kumpel am See den Rücken mit Sonnencreme einreibt, erntet er schräge Blicke. Bis ihm einfällt: Körperkontakt unter heterosexuellen Männern ist generell nur beim Sport oder bei Schlägereien erlaubt – eine traurige Bilanz, wie der Erzähler konstatiert. Ebenso misstrauisch wird er plötzlich beäugt, wenn er mit kleinen Kindern spielt. Oder sich, wie gewohnt, per Blickkontakt mit fremden Frauen verbündet – denn die fühlen sich nun, da er als Mann gelesen wird, unter Umständen von seiner Aufmerksamkeit bedroht oder „als Sexualobjekt markiert“.

Jayrôme C. Robinet – Foto: Ali Ghandtschi

In vielerlei Hinsicht ist Robinets Erzähler, seit er sich mit Testosteron behandeln lässt, seine Stimme tiefer wird und ihm ein Bart sprießt, endlich im Reinen mit sich: „Mein Körper ist plötzlich der Ort, in dem mein Verstand es sich gemütlich machen kann.“ In anderer Hinsicht jedoch klaffen Selbst- und Fremdwahrnehmung nun Lichtjahre auseinander. Wie es der Buchtitel ironisch zugespitzt formuliert, wird Robinet seit seiner Transition des Öfteren für einen jungen Migranten gehalten. Ob das nun seinen italienischen Wurzeln oder allein den Vorurteilen der Mehrheitsgesellschaft zu verdanken ist, sei dahingestellt. „Früher war ich sexy und exotisch, heute bin ich exotisch und gefährlich“, bringt er das Resultat treffend auf den Punkt. Was dazu führt, dass er nicht nur nach langer Zeit mal wieder beim Alkoholkauf seinen Ausweis vorzeigen muss, sondern gelegentlich auch für einen Taschendieb gehalten oder des Vandalismus beschuldigt wird.

In anderen Kontexten wiederum genießt er mit einem Mal männliche Privilegien, die er eigentlich ablehnt. Tritt er bei offiziellen Anlässen im Anzug auf, wird er mit Respekt behandelt, für kompetent gehalten und darf sogar seine Sätze beenden – für einen weiblich sozialisierten Menschen eine ganz neue Erfahrung, die ihn gleich viel selbstbewusster auftreten lässt. Oft drücken sich diese Privilegien in Kleinigkeiten aus, die einem cis-Mann vermutlich gar nicht auffallen würden. So bringt ihm etwa die Imbissverkäuferin unaufgefordert ein Vollkornbrötchen zur Suppe, weil sie sich gemerkt hat, dass er beim letzten Mal diesen Extrawunsch geäußert hatte. Was früher ein genervtes Augenrollen hervorgerufen hätte, wird ihm heute von den Lippen abgelesen – für Robinet eine zwiespältige Erfahrung. Denn: „Mein Wunsch danach, wie ein Mann behandelt zu werden, ist schwer vereinbar mit meiner Einstellung zum Patriarchat.“

Aber auch den Spießrutenlauf durch Arztpraxen und die grenzüberschreitenden Befragungen, die  viele Trans*personen über sich ergehen lassen müssen, um Zugang zu Hormontherapien und/oder Operationen zu bekommen, spart Robinet nicht aus. Mit klaren Worten und ungetrübtem Sinn für Komik stellt er die Absurdität mancher geradezu kafkaesk anmutender Bürokratien heraus. So findet er pointierte Vergleiche, mit denen er etwa die Unsinnigkeit des sogenannten „Alltagstest“ (die Forderung, vor Beginn einer Hormontherapie ein Jahr lang im gewünschten Geschlecht zu leben) allgemein verständlich macht: „Sie brauchen eine Brille? Der MDK gibt Ihnen erst mal nur das Gestell. Wenn Sie damit zwölf Monate lang sehen können, dürfen Sie sich Korrekturgläser zulegen.“

Für sich genommen mögen manche Episoden banal wirken, im Zusammenspiel jedoch ergibt sich ein komplexes Bild, das Facetten der Sozialisation und Familiengeschichte des Autors mit aktuellen Debatten wie #metoo oder Diskurse rund um Geflüchtete zu einem stimmigen Ganzen verwebt. Als eine Art roter Faden zieht sich durch die Kapitel eine sich anbahnende Romanze mit einem aus Syrien geflüchteten schwulen Künstler, der zeitweise in der Wohnung des Erzählers unterkommt. „Er gilt als ,Flüchtling‘, ich als ,Expat‘“, kommentiert Robinet innerlich kopfschüttelnd die Außenwahrnehmung auf die beiden. Aber auch andere bange Fragen treiben ihn um, seit er sich zu Karim hingezogen fühlt. Allen voran: „Könnte er meinen Körper lieben?“

Ohne permanent große Begriffe wie „Klassismus“, „Rassismus“ und „Transphobie“ zu schwingen, regt „Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund“ Seite für Seite zum Nachdenken an – und erlaubt es einem, sich auf leicht zugängliche Art in unterschiedliche Perspektiven, Körper und Lebensgeschichten einzufühlen. Der eigene Blick auf scheinbare „Andersartigkeiten“ wird nach der Lektüre vermutlich nicht mehr derselbe sein.




Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund
von Jayrôme C. Robinet
Gebunden, 210 Seiten, 20 €,
Hanser Berlin

 

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