Invertito: Verfolgung homosexueller Männer und Frauen in der NS-Zeit
Buch
Die historische Erforschung des Schicksals der Homosexuellen in der NS-Zeit fördert weiterhin wichtige Erkenntnisse zu Tage. Zunächst über Jahrzehnte ignoriert, dann zögerlich erforscht, wird diese Geschichte erst heute umfassend aufgearbeitet. Inzwischen wird neben den Rosa-Winkel-Häftlingen in den Konzentrationslagern auch die Verfolgung von Lesben und trans Personen thematisiert. Was Erinnerungskultur bedeutet und wie sie zu gestalten ist, hat nicht zuletzt wegen des rechtsextremen Terrors der letzten Jahre an Gewicht gewonnen. Der neue Band des queeren Geschichtsjahrbuchs „Invertito“, das bereits im 21. Jahrgang erscheint, hat sich der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit gewidmet. Anja Kümmel hat ihn für uns gelesen.
Korrekt gedenken
von Anja Kümmel
Bereits seit zehn Jahren schwelt der Konflikt: Entzündet hat er sich 2010 an einem offenen Brief, in dem 25 renommierte Historiker, Aktivisten und Direktor_innen von Gedenkstätten behaupteten, es sei „historisch nicht zu belegen, dass lesbische Frauen im Nationalsozialismus individueller Verfolgung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung ausgesetzt gewesen seien“. Befeuert wurde der Streit weiterhin von Kontroversen rund um das Tiergarten-Denkmal für die homosexuellen Opfer des NS-Regimes sowie 2015 im Rahmen des Versuchs, im ehemaligen Konzentrationslager Ravensbrück ein Gedenkzeichen für die dort internierten und ermordeten Lesben zu etablieren.
Diesem Konflikt einen ganzen Essayband zu widmen, mag auf den ersten Blick übertrieben erscheinen – doch wie die 21. Ausgabe der Zeitschrift „Invertito – Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten“ eindrücklich belegt, muss die Debatte, will man sich ernsthaft mit Erinnerungskultur auseinandersetzen, wesentlich weiter gefasst werden als die Frage, ob Lesben nun zu den im Nationalsozialismus „Verfolgten“ zu zählen seien oder nicht.
Was zunächst ein rein historischer Begriffsstreit zu sein scheint, entpuppt sich beim Lesen der zehn in der „Invertito“ abgedruckten Beiträge, die teils aufeinander aufbauen, teils einander widersprechen, mehr und mehr als komplexe Gemengelage mit direktem Bezug zu den aktuellen identitätspolitischen Debatten der Gegenwart. Deutlich wird, dass kaum je ein Aspekt isoliert oder nur auf einen bestimmten Zeitraum bezogen betrachtet werden kann – im Gegenteil zieht beinahe jede Problemstellung den sprichwörtlichen Rattenschwanz weiterer Fragen nach sich: Wie weit oder eng kann/soll der Begriff „Verfolgung“ gefasst werden? Wie definierte sich damals eine schwule, wie eine lesbische Identität? Was heißt oder hieß überhaupt „Identität“? Ist es angemessen, unser heutiges Verständnis von sexueller Orientierung auf die damaligen Gegebenheiten anzuwenden? Übernehmen wir zur eigenen Identitätskonstruktion gar Kategorien jener Unterdrückung, die wir im mahnenden Gedenken zurückzuweisen versuchen?
Das gesamte Spektrum bisweilen kontroverser Positionen abzubilden, sei ihr Anliegen gewesen, schreiben die Herausgeber des vorliegenden Bandes im Editorial. Sie geben sich betont neutral; dennoch klingt an mehreren Stellen durch, mit dieser Zusammenstellung eine Basis schaffen zu wollen, um die Erinnerungskonkurrenz verschiedener Gruppen aufzulösen. Ein deutliches Zeichen gegen die Marginalisierung von Lesben setzt die „Invertito“ allein dadurch, dass drei Beiträge zum Thema „Frauenliebe“ den Auftakt bilden.
Ein glückliches Händchen bei der Auswahl und Abfolge der Artikel beweisen die Herausgeber allemal: Tatsächlich ist der erste Text von Laurie Marhoefer einer derjenigen, der die Perspektive am weitesten öffnet und damit zugleich einen Bogen schlägt zum letzten Textblock, der sich mit dem Rückblick auf die Geschichte aus heutiger Sicht befasst.
Zunächst einmal stellt die Historikerin fest, dass Homosexuelle in der NS-Zeit keine fest umrissene „Verfolgtengruppe“ darstellen, und es deshalb sowohl bei Schwulen als auch bei Lesben problematisch ist, von „Verfolgung“ im Sinn eines „staatlichen Feldzugs gegen eine klar definierte Gruppe“ zu sprechen. Zwar war die Kategorie „Jude“ ebenfalls konstruiert, doch ließ sie sich zumindest innerhalb der NS-Logik eindeutig erfassen (z.B. durch Einträge im Einwohnermeldeamt). Bei der „Erkennung“ von Schwulen und Lesben hingegen kamen uneinheitliche und oftmals schwammige Parameter zur Anwendung. So wurden etwa bei Männern v.a. gleichgeschlechtliche genitalbezogene Handlungen geahndet, während Lesben und transmaskuline Personen eher durch gendernonkonformes Verhalten bzw. Cross-Dressing ins Visier des Staatsapparats gerieten. Einerseits war lesbischer Sex nicht offiziell kriminalisiert (unter den § 175 fielen nur Männer), andererseits jedoch wurde weibliche Homosexualität durchaus als „unsittlich“ eingestuft.
Wer sich bereits mit der Geschichte der (Konstruktion von) Homosexualität beschäftigt hat, wird hier – wie an vielen anderen Stellen des Jahrbuchs – interessante Anhaltspunkte finden für eine Überlappung verschiedener Denkweisen im Hinblick auf „Geschlecht“ und „sexuelle Orientierung“, die auf einen Paradigmen-Shift seit etwa 1900 zurückzuführen ist. Offensichtlich existierten in den 1930er und 40er Jahren verschiedene Paradigmen nebeneinander, was u.a. eine wenig stringente Bestrafungspraxis zur Folge hatte: Bezog sich Homosexualität auf bestimmte sexuelle Handlungen? Oder war sie Ausdruck einer genuinen Identität? Stellte sie ein korrigierbares Fehlverhalten dar, eine angeborene Krankheit, eine psychische Störung? Diesen Unsicherheiten und Meinungsverschiedenheiten zufolge gab es auch in der streng reglementierten NS-Zeit keinen wirklichen Konsens über die Bewertung von Homosexualität, geschweige denn darüber, ob sie in den Bereich der Justiz, der Medizin oder Psychiatrie fallen sollte. Klar ist jedoch, dass Homosexuelle im „gesunden Volkskörper“ keinen Platz hatten.
Marhoefer spricht in diesem Zusammenhang von „intersektionaler“ Verfolgung, bei der verschiedene Parameter ineinander greifen bzw. einander bedingen. So fielen lesbische Frauen oftmals durch ihren Gendernonkonformismus auf, wurden offiziell (oder parallel) jedoch für andere unerwünschte Aktivitäten belangt. „Den Verfolgungsbegriff so erweitern, dass er über das Strafrecht hinausreichte“ ist demnach das Anliegen sämtlicher Autorinnen des ersten Textblocks.
Vehemente Gegenargumente liefert Alexander Zinn im dritten Textblock mit seiner Streitschrift „Wider die ,Überidentifikation‘ mit den Opfern“: Darin behauptet er – analog zum offenen Brief, den er vor zehn Jahren mit unterzeichnete –, es habe keine systematische Lesbenverfolgung gegeben, und schlägt stattdessen Begriffe wie „Stigmatisierung“, „Diskriminierung“ oder „Toleranz“ (verstanden im Sinn einer nicht unbedingt wohlwollenden Duldung) vor. Den Verfolgungsbegriff auszuweiten „käme einer Nivellierung gleich“ – eine Argumentationslinie, die man aus der me-too-Debatte kennt: Die einen sagen, die Zusammenfassung von Vergewaltigungen, körperlichen Übergriffen und verbalen Belästigungen unter einem Hashtag relativiere subjektive Gewalterfahrungen, die anderen, nur eine Begriffsöffnung erlaube es, die Problematik als eine systemische zu begreifen.
Allgemein kritisiert Zinn den von ihm wahrgenommenen „biografischen, opferzentrierten Ansatz“ heutiger Erinnerungspraxis, der ebenso das Gedenken an männliche Homosexuelle betrifft. Sein Hinweis, dass viele Fälle von „Jugendverführung“ oder sogar Kindesmissbrauch unter „Homosexuellenverfolgung“ gefasst und nicht problematisiert wurden, legt tatsächlich den Finger in eine bislang wenig beachtete Wunde und regt hoffentlich zu mehr Reflektion in der Zukunft an. Auch Insa Eschebach, Leiterin der Gedenkstätte Ravensbrück, verweist in ihrem Essay „Queere Gedächtnisräume“ auf eine „Traditionslinie der Unschuld“, in die sich ihrer Ansicht nach schwule Männer im Gedenken an die NS-Zeit gerne stellen.
An das Weiterwirken solcher Traditionslinien bis in die Gegenwart knüpft der letzte Textblock an, allen voran Sébastien Tremblays Text mit dem provokanten Titel „Ich konnte ihren Schmerz körperlich spüren“, der sich mit der „neuentdeckten kollektiven schwulen Vergangenheit“ in den 1970er Jahren und der Legitimation gegenwärtiger und zukünftiger politischer Kämpfe durch eine Identifikation mit den homosexuellen Opfern der NS-Diktatur befasst.
Einen weiteren Twist fügt Rüdiger Lautmann dieser Problemstellung im letzten Beitrag des Bandes hinzu: Sein lakonisches Statement „Das Stigma produziert die Identität“ rekurriert zum einen auf die Queer Theory, die die Annahme einer in sich geschlossenen Identität ohnehin zurückweist; zum anderen problematisiert es die oft unhinterfragte Übernahme von unterdrückenden, ausgrenzenden Identitätskategorien in der heutigen Gedenkkultur.
Ein Kreis schließt sich, mit Blick auf den ersten Beitrag – und öffnet sich zugleich hin zu diversen identitätspolitischen Fragen, die gegenwärtig diskutiert werden. Nicht ganz voraussetzungsfrei, dafür klug und sorgfältig zusammengestellt, liefert die „Invertito“ einen ausgewogenen Überblick über den Stand der Debatte – eine eigene Meinung dazu bilden kann und soll sich jeder Leser, jede Leserin selbst.
Invertito: Verfolgung homosexueller Männer und Frauen in der NS-Zeit
(Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten, 21. Jahrgang 2019)
vom Fachverband Homosexualität und Geschichte
Broschiert, 256 Seiten, 19 €,
Männerschwarm Verlag