Hervé Guibert: Verrückt nach Vincent / Reise nach Marokko

Buch

Hervé Guibert (1955-1991) wurde in Deutschland durch das Protokoll seiner Aids-Erkrankung „Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat“ berühmt. Seine schriftstellerische Karriere hatte jedoch schon zehn Jahre zuvor mit kleinen, intensiven Erzählungen begonnen. In zwei davon verarbeitet Guibert seine Beziehung zu Vincent, einem jungen Mann, den er 1981 auf einer Reise durch Marokko kennenlernte und dem er bis kurz vor seinem Tod in einer Art Hassliebe verbunden blieb. Zu Guiberts 30. Todestag erscheinen beide Erzählungen nun erstmals zusammengefasst in einem Band. Michael Sollorz über ein Multitalent und dessen literarische Befreiungsschläge.

Kopfreisen und Kümmernisse

von Michael Sollorz

Was für ein Jammer! Es ist heute wohl unmöglich, Texte Hervé Guiberts zu lesen, ohne dabei zu denken: so ein Talent, was hätte von ihm noch alles kommen können! Sein Œuvre blieb jedoch überschaubar. Nun vereint der schmucke, schmale Band aus dem Hause Albino zwei frühe Erzählungen, stark autobiografisch gefärbt, gewissermaßen erste Perlen von einer früh gerissenen Lebensschnur. „Reise nach Marokko“ erschien im Jahre 1982, da war der Autor gerade 27, „lockig und schön wie ein Erzengel, aber mit immer heiserer Stimme“, wie ihn der amerikanische Schriftsteller Edmund White in seiner gleichfalls unbedingt lesenswerten Autobiografie „Meine Leben“ beschreibt. Er traf den jüngeren Kollegen Anfang der 80er Jahre in Paris, im Gefolge des weltberühmten Philosophen Michel Foucault. „Zu Hause empfing er ausschließlich attraktive junge Männer, Künstler und Intellektuelle – allesamt schwul“, so das verdiente Klatschmaul White, und „Guibert war sein bester Freund geworden, weil sie ständig Geheimnisse über ihr Liebesleben austauschten.“ Im Pariser Kulturbetrieb jener Jahre erstrahlte glanzvoll der Stern Guiberts. Selbst auch Fotograf, schrieb er für Le Monde und diverse Magazine Foto- und Filmkritiken, was ihn auskömmlich finanzierte. Zusammen mit Regisseur Patrice Chereau entstand das Drehbuch zu „Der verführte Mann“, einer Sozialstudie im Pariser Stricher-Milieu, 1984 mit dem César geehrt. Das gut vernetzte Multitalent stand am Beginn einer Traumkarriere.

Doch es kam anders. Aus Amerika schwappten Gerüchte von einer seltsamen Krankheit über den Ozean. Noch einmal Zeitzeuge Edmund White: „Foucault lachte mich aus. ‚Oh nein, Edmund‘, sagte er, ‚auf sowas kommen auch nur die puritanischen Amerikaner, eine Seuche, die nur schwule Männer befällt – und tötet! Das passt haargenau. Vielleicht werdet ihr so auch eure Schwarzen los.‘“ Der Spötter sollte sich irren, er starb 1984, und auch der 30 Jahre jüngere Hervé Guibert bekam vier Jahre später die Diagnose Aids. Für die verbleibende Zeit richtete er seine Aufmerksamkeit als Autor auf die damals noch tödliche Krankheit und ihre verschiedenen Gesichter.

Hervé Guibert – Foto: Hans Georg Berger

Doch zurück zur „Reise nach Marokko“; „Voyage avec deux enfants“, also „Reise mit zwei Kindern“, lautet der französische Originaltitel. Sein Freund Bernard Faucon, im Roman kurz „B.“, bittet Guibert, ihn auf einer Reise mit zwei Jugendlichen zu begleiten. Guibert sagt zu und berichtet darüber wie über ein naturwissenschaftliches Experiment. Zunächst unternimmt der Erzähler die Expedition vor ihrem eigentlichen Beginn schon mal in seiner blühenden Phantasie. „Das soll den ersten Teil des Buchs bilden: Eine erste Reise wird hier stattfinden, in diesem stillen Arbeitszimmer. Der zweite Teil des Buchs soll das Tagebuch der wirklichen Reise sein, die Antistrophe wird sich vollziehen im Wechsel grellen Lichts und frischer Schatten, im Lärm, der raschelnden Nähe der Kinder, ihres Lachens, ihres Geruchs.“

Jene Kopfreise ist ein farbstarkes Abenteuer voller Orient-Klischees, frivoler Kapriolen und Kolonial-Kitsch, bevölkert von wilden Tieren und schwarzen Sklaven. „Zum ersten Mal erfinde, fabuliere ich, erzähle kein Ereignis, das sich letzthin zugetragen, kein Gefühl, das ich unlängst gehabt habe.“ Der junge Autor erlebt eine Befreiung und zugleich die „Angst, in das Schreiben immer tiefer hineinzurutschen wie in einen Wahn, in das Elend.“

Naturgemäß bleibt die strapaziöse Realität der tatsächlichen Marokko-Tour hinter den Schreibstuben-Träumen zurück. Keine Kamel-Karawane, kein Märchen aus tausendundeiner Nacht, stattdessen stinkender Autoverkehr und „Hotels mit Teppichböden und Fernsehern.“ Die Reisenden ersinnen Spiele, um der Langeweile zu entgehen. Eifersüchteleien und Gezänk verderben die Laune. „Ich wage nicht, das zu schreiben: Scheißreise, Scheißkinder. Der Anfang einer Lüge: es niederzuschreiben hieße, auf den Roman zu verzichten.“ Zu unser aller Glück hat er das nicht übers Herz gebracht, sondern weiter tapfer gelitten. Die Gegenwart der Kinder konfrontiert den Erzähler mit der bitteren Einsicht, unversehens selbst ein langweiliger Erwachsener geworden zu sein, vertrieben aus dem Paradies, der Unschuld für immer abhandengekommen. Die Niederlage schärft seine Sinne, besonders für den „reizlosen“ der beiden Halbwüchsigen. „Zuweilen betrachte ich das schlafende, mir zugewandte oder auf dem Bauch liegende Kind und entdecke zwischen den Tüchern die feinen Linien seiner Schulterblätter, sein Handgelenk schmückt ein dünner Faden, und jedes Mal liegt in der schlafvergessenen Natürlichkeit eine äußerste Grazie, keine Schlaffheit, doch ein unbewusster Adel, eine überwältigende Femininität.“

Die Heimkehr wirft dann neue Probleme auf. Da ist zunächst das Wiedersehen mit T., dem Partner. Irgendwas stimmt nicht, „und genau in diesem Augenblick wollte er wissen, ob ich zögerte, ihm etwas zu bekennen. Ich sagte: Ja, fällt dir auf, dass in meinen Händen überhaupt keine Liebe mehr ist, wenn sie über deine Haut streichen? Er antwortete nicht und ging.“

Schließlich beim Auspacken überall Sand, jeder kennt es, der mal am Meer war, Sand in den Papieren, in Taschen und Schuhen, „es war der bunte Sand Marokkos, kostbarer als Heroin, und er wurde immer mehr, wuchs an wie die Erinnerung an das Kind.“ Nur einmal fällt auch sein Name: Vincent.

Die zweite Erzählung des Bandes stellt eine Art Fortsetzung dar. „Verrückt nach Vincent“ erschien 1989. Offenbar haben sie Kontakt gehalten, der Junge und sein Erzähler, und sind inzwischen in eine heillose Affäre verstrickt. Was er nun beschreibt, kann durchaus auch als Leidensweg gelesen werden: Das ständige Wechselbad der Launen Vincents, dazu das Warten, wann er wohl das nächste Mal auftaucht. „Ich sag immer: Ich rufe nicht an, und dann rufe ich doch wieder an, zu schnell nach dem letzten Treffen.“ Zu alledem die Blicke ringsum. „In den spanischen Lokalen: niemals einen derartigen Hass gegen mich empfunden; ich geh aus mit einem Kind, zu alt, um mein Sohn, und zu jung, um mein Bruder zu sein.“ Eine geradezu klassische Konstellation: mangels weiblicher Zuwendung geht Unterschicht-Bengel mit Kulturtunte aus, die Biologie nennt es Symbiose, wir sagen heute gerne Win-win. Ganz gleich, wie jung der Ältere tatsächlich noch ist – er wird sich alt fühlen. Und sie lauern ja wirklich, die Verachtung, das Misstrauen, der Verdacht. So fragt am Telefon einmal Vincents Mutter, worum es denn, bitte schön, gehe? „Lust, ihr zu antworten: Es geht um seinen Pimmel, Madame, ich muss unter allen Umständen schnellstmöglich daran saugen.“

Aller Kümmernisse zum Trotz hält der Erzähler über Jahre an Vincent fest. „Wenn er mich nur die Liebe an ihn verschwenden lässt, derer ich fähig bin, und ich bleibe lebendig in dieser Welt.“ Schon so früh bereitet ihm die Ahnung seines Erkaltens Sorgen, der Erstarrung – ein wiederkehrendes Motiv. Rarität hingegen sind jene Momente, wo er ganz selbstlos auf den Jüngeren schaut. „Vincent: das Elend seines Gesichts, seiner Kleidung, seines Lebens. Lernt nachts die Geschichte von Kristall und Porzellan, steht um sieben auf, um Kurse in Kundenwerbung zu nehmen, geht am Nachmittag hausieren, besäuft sich abends mit Bier und Mezcal im Zorro, einer Bar für die Alkis der Bastille.“

Die Beziehung wird von ihrem Ende her aufgerollt. So steht der schlimme Ausgang gleich am Beginn: Vincents Drogentod. „Was war es?“, fragt sich der Erzähler rückblickend. „Eine Leidenschaft? Eine erotische Zwangsvorstellung? Oder eine meiner Erfindungen?“ Von allem etwas, dürfen wir vermuten. Reine Fiktion ist zumindest der Tod Vincents, des Autors Versuch einer Befreiung mithilfe der Literatur, von einer seltenen Aufrichtigkeit auch sich selber gegenüber, den eigenen Ängsten und Grenzen. Ein ganz besonderes und wundervolles Buch.




Verrückt nach Vincent/Reise nach Marokko
von Hervé Guibert
Aus dem Französischen von JJ Schlegel
Gebunden mit Schutzumlag, 180 Seiten, 20,00 €,
Albino Verlag

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