Erdbeer & Schokolade (1993)

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Im Havanna der späten 1970er Jahre finden ein schwuler Systemkritiker und ein linientreuer Jungkommunist zueinander. Ganz platonisch – oder ist da doch etwas mehr? „Erdbeer & Schokolade“ von Tomás Gutiérrez Alea und Juan Carlos Tabío ging nach seiner Premiere 1993 in die Geschichte ein als erste kubanischer Film, der sich offen und zwanglos mit Homosexualität beschäftigte. Anja Kümmel hat sich den Film für die sissy noch einmal angesehen – und freut sich über „das feine Flirren an seinen Rändern und zwischen den Zeilen.“

Bild: Arthaus

Nach ihrer Fasson

von Anja Kümmel

In anderen Ländern ist es der Hanky Code, in Kuba die Wahl der Eissorte: Als sich Diego (Jorge Perugorría) in Havannas berühmtester Eisdiele Coppelia zu dem hübschen, dunkelgelockten Studenten David (Vladimir Cruz) an den Tisch setzt, ist bereits mit Diegos erstem Satz alles klar. „Ich liebe Erdbeer!“, ruft er und steckt genussvoll seinen Löffel in den Eisbecher. Dass „echte Männer“ sich selbstverständlich für Schokolade entschieden hätten, erschließt sich Nicht-Kubanern vielleicht nicht sofort – Diegos bewusst tuntige Intonation jedoch lässt keinerlei Zweifel an seiner sexuellen Orientierung. Und er setzt noch eins obendrauf, indem er fortfährt: „Das einzig Gute, was dieses Land produziert …“ So outet er sich im selben Atemzug auch noch als Systemkritiker – und legt, als hätte das nicht gereicht, ein Buch des in Kuba verschrienen peruanischen Schriftstellers Mario Vargas Llosa auf den Tisch.

Dies ist der Moment, an dem der fleißige Student und militante Jungkommunist David flüchten will. Doch etwas hält ihn fest, ein unbestimmtes Gefühl zwischen Abscheu und Neugier. Wenig später wird er Diego sogar in seine Wohnung folgen, wo es zwar nicht zum Sex kommt, dafür aber eine unwahrscheinliche Freundschaft ihren Anfang nimmt.

Als die Regisseure Tomás Gutiérrez Alea und Juan Carlos Tabío ihr gemeinsames Werk 1993 auf dem Internationalen Festival des Neuen Lateinamerikanischen Films in Havanna vorstellten, feierte nicht nur ein besonderer Film seine Premiere, er markierte zugleich eine Zeitenwende: „Erdbeer & Schokolade“ ging in die Geschichte ein als erster kubanischer Film, der Homosexualität offen thematisiert und für Toleranz gegenüber sexueller Diversität plädiert. Keine Selbstverständlichkeit, wenn man bedenkt, dass in Kuba noch in den 1960er Jahren zahlreiche Homosexuelle in Umerziehungslager geschickt wurden und Zwangsarbeit verrichten mussten. Erst seit 1979 ist Homosexualität dort straffrei, jedoch blieb es bis 1987 verboten, sie „öffentlich zur Schau zu stellen“. Die 1990er Jahre sahen eine langsame Öffnung der Gesellschaft hin zu mehr Akzeptanz, doch das jahrzehntelang von der kommunistischen Partei propagierte Verständnis von Queerness als „krank“, „antisozial“ und „antirevolutionär“ wirkte lange nach. Einen schwulen – und obendrein systemkritischen – Protagonisten als überwiegend positiv besetzte Identifikationsfigur auf der Leinwand zu zeigen, stellte damals in Kuba kein geringes Wagnis dar. In Havanna wurde es beim Festival mit Begeisterung sowohl von Seiten des Publikums als auch der Jury quittiert.

Auch international machte der Film von sich reden: Neben vielen anderen Auszeichnungen gewann „Erdbeer & Schokolade“ auf der Berlinale 1994 den Silbernen Bären der Jury und den Teddy; bei der Oscarverleihung war er als erster kubanischer Film in der Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“ nominiert. Lorbeeren, mit denen sich Kuba gerne geschmückt hat – im nationalen Fernsehen hingegen wurde der Film aber erst 14 Jahre später ausgestrahlt.

Betrachtet man „Erdbeer & Schokolade“ heute, aus der Rückschau von mehr als 30 Jahren, hat man das Gefühl, dass sich diese Ambivalenzen – zwischen Öffnung und Zensur, Anpassung und Provokation – auch in der Bildsprache, den expliziten und impliziten Botschaften des Films niedergeschlagen haben.

Bild: Arthaus

Angesiedelt ist die Geschichte im Havanna der späten 1970er Jahre. Also zwischen den berüchtigten „grauen Jahren“, die von massiver kultureller Zensur und Unterdrückung der queeren Community geprägt waren, und dem Massenexodus 1980, bei dem viele (queere) Intellektuelle – u.a. Reinaldo Arenas – in die USA emigrierten. Eine signifikante Lücke zwischen Erzähl- und Entstehungszeit, die vielleicht auch erklärt, warum der Film zum Zeitpunkt seiner Premiere von manchen als erfrischend gewagt, von anderen wiederum als zu wenig radikal wahrgenommen wurde.

Größtenteils ist „Erdbeer & Schokolade“ als Kammerspiel im Innern von Diegos Wohnung angelegt, während die Handlung sich über bedeutungsvolle Blicke und schlagfertige Dialoge transportiert. Ein Setup, das bestens funktioniert, zum einen durch die starke Präsenz der beiden Hauptdarsteller, zum anderen dadurch, dass Diegos mit Büchern, Schallplatten, unzähligen Reliquien, Kunst und Kitsch vollgestopftes Zuhause in sich ein ganzes Universum birgt – ein Fenster zur Welt, dem David misstrauisch und zugleich mit unverhohlener Faszination gegenübersteht. Wie auf einem Wimmelbild gibt es ständig Neues zu entdecken: den majestätisch-abgewetzten Ledersessel, den Diego dem englischen Dichter John Donne gewidmet hat; die Sammlung morbid-kitschiger Heiligenstatuen, die er für die Ausstellung eines Freundes aufbewahrt; an der Wand ein Bild des schwulen kubanischen Dichters und Essayisten José Lezama Lima. Davids naive Frage „Ist das dein Vater?“ bringt Diego zum Lachen, und doch liegt in ihr ein Stückchen Wahrheit – wurde Lezama doch von vielen kubanischen Intellektuellen als eine Art geistiger Vater verehrt.

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Nachmittage lang sitzen die beiden abwechselnd im „John-Donne-Sessel“, hören Maria Callas, trinken indischen Tee aus französischen Tassen oder auch mal ein Glas Whiskey, das „Getränk des Feindes“, und unmerklich wird aus der anfangs fingierten, auf beiden Seiten durch versteckte Hintergedanken belasteten Freundschaft eine echte Verbindung.

Diego zeigt sich feingeistig, gewitzt, belesen, offenbart aber auch seine Einsamkeit, wenn er, als wäre David gar nicht im Zimmer, wie gewohnt mit seinen Heiligen spricht – oder mit dem Kühlschrank, der nur unter gutem Zureden funktioniert. David hingegen legt allmählich seine Scheuklappen ab, und je mehr er sich für Diegos Leben und dessen „konterrevolutionäre“ Ansichten öffnet, desto tiefer rutscht er in eine Gewissenskrise. Man könnte auch sagen: Im Lauf des Films wird er zu einem „Neuen Mann“ – wenngleich nicht ganz im Sinne Fidel Castros. Ob dies auch seine Sexualität betrifft, bleibt allerdings offen. Denn – etwas überraschend für den schwulen Film Kubas – zu mehr als einer innigen Umarmung zwischen den beiden Männern wird es nicht kommen. Diego sublimiert sein Begehren in sehnsüchtigen Blicken, die über Davids Gesichtszüge gleiten, wenn der gerade wegschaut, oder über dessen behaarten Brustkorb, als er einmal auf Diegos Couch eingeschlafen ist. Davids Libido indes wird (vorerst) umgelenkt auf Diegos lebenslustig-neurotische Nachbarin (Mirta Ibarra). Die Einführung dieses Dreiecks ist einerseits schade, weil es uns vor Augen führt, wie tabu schwuler Sex zu dieser Zeit im kubanischen Kino noch war. Andererseits zieht die Figur der Nancy eine weitere Ebene inklusive feministischer Lesarten in den Film ein, die ihn auf andere Weise bereichert. Nancy, die sich mit Sexarbeit durchschlägt und nebenher die Nachbarschaft mit illegal eingeführten ausländischen Waren versorgt, lebt ihre Individualität ebenso freizügig aus wie Diego – zum Beispiel, indem sie eine Beziehung mit dem viel jüngeren David eingeht. Zwischen Nancy und Diego, den beiden Dissident:innen gängiger Moralvorstellungen und Geschlechternormen, spürt man eine raue und zugleich warmherzige Vertrautheit, die man heute vielleicht als „queer platonic relationship“ bezeichnen würde.

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Ein weiterer Subtext, der vielleicht gar nicht beabsichtigt war, heute aber wie ein lässiger Insider-Witz anmutet, betrifft Davids Zimmergenossen und Parteifreund Miguel: Der nämlich wirkt derart machohaft überzeichnet, wie er sich oberkörperfrei in knappen Shorts auf dem Bett räkelt und immer wieder spielerisch mit David Raufereien anfängt, dass er direkt einem schwulen Porno entstammen könnte. Gerade von ihm, der Schwule nach außen hin verachtet und David darauf ansetzt, Diego auszuspionieren, bekommt man ironischerweise die stärksten „In the Closet“-Vibes.

Verglichen mit diesem vieldeutigen Schillern, das sich mehr nach dem zeitlosen Camp eines Almodóvar oder dem New Queer Cinema der 1990er Jahre als nach den „grauen Jahren“ anfühlt, versetzen einen die gutgemeinten Toleranz-Diskurse in „Erdbeer und Schokolade“ allerdings doch wieder um Jahrzehnte zurück. Als David Diego seine kruden Theorien unterbreitet, Homosexualität sei ein „Problem der Drüsen“, das geheilt werden könne, erwidert Diego: „Du stehst auf Frauen. Ich stehe auf Männer. Das ist total normal und gab es schon immer!“ Um ihm dann zur Untermauerung eine ganze Reihe berühmter (vermutlich) schwuler Männer aus Kunst, Wissenschaft und Politik aufzuzählen. Ende der 70er Jahre waren solche Aussagen in Kuba vermutlich fast schon revolutionär – allerdings werden sie dadurch relativiert, dass auch Davids Apologetik des kommunistischen Regimes recht viel Raum bekommt. So entschuldigt er die Praktik, Homosexuelle und Regimekritiker in Arbeitslager zu stecken, als „bedauerlichen, aber verständlichen Fehler“, der mit der Revolution nichts zu tun hätte. An anderer Stelle sagt er: „Ich werde dir zeigen, dass wir Kommunisten nicht so übel sind, wie du uns darstellst.“ Und man hat das Gefühl, dass auch der Film unterschwellig genau darum bemüht ist – vielleicht ein Zugeständnis der Regisseure an die Zensurbehörde, oder aber Ausdruck ihrer eher versöhnlichen als konfrontativen Grundhaltung.

Das Streben nach Harmonie steckt schließlich bereits im Titel: „Erdbeer und Schokolade“, obwohl „oder“ eigentlich logischer gewesen wäre. Homo- und Heterosexualität, verschiedene Denkweisen und politische Ansichten können friedlich nebeneinander existieren, scheint die Wahl der verbindenden Konjunktion auszudrücken. Zugleich suggeriert der Film aber eben auch, dass Diego sein schwules Begehren unterdrücken muss, um in dieser Harmonie Platz zu finden.

Manchen mag die Wohlfühl-Message des Films heute zu versöhnlich anmuten. Ungeachtet dessen hat „Erdbeer & Schokolade“ einen unschätzbaren Beitrag für die Sichtbarkeit queerer kubanischer Geschichte(n) und natürlich für das internationale Kino geleistet. Was ihn heute noch und immer wieder sehenswert macht, ist nicht zuletzt das feine Flirren an seinen Rändern und zwischen den Zeilen.


Erdbeer & Schokolade
von Tomás Gutiérrez Alea und Juan Carlos Tabío
CU 1993, 108Minuten, FSK 12,
spanische OF mit deutschen UT; deutsche SF

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