Die Erbinnen

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In „Die Erbinnen“ erzählt Regisseur Marcelo Martinessi die Geschichte zweier Frauen um die 60, die als Paar in einem bürgerlichen Viertel der paraguayischen Hauptstadt Asunción leben. Als Chiquita auf Grund der gemeinsam angehäuften Schulden ins Gefängnis muss, beginnt für Chela ein zaghafter Befreiungsprozess. Das private Drama der beiden Frauen spiegelt die gesellschaftliche Entwicklung, die Paraguay nach langen Jahren der Diktatur und der Absetzung der ersten demokratischen Regierung genommen hat, und erzählt zugleich universell von eingespielten Abhängigkeiten und einem späten Neuanfang. Martinessis Film, der auf der Berlinale mit dem Alfred-Bauer-Preis und dem Preis für die Beste Darstellerin (Ana Brun) ausgezeichnet wurde, ist seit gestern deutschlandweit in den Kinos zu sehen. Esther Buss über ein subtil sozialkritisches Frauenporträt, dessen Formsprache sichtbar an den Melodramen Rainer Werner Fassbinders geschult wurde.

Foto: Grandfilm

Hinter Gittern

von Esther Buss

„Die Erbinnen“ beginnt wie ein Gefängnisfilm, der sich ins bürgerliche Interieur verirrt hat. Schon die ersten, aus der subjektiven Perspektive gefilmten Bilder sind von einer drückenden Schwere – ganz so, als hätten die dunklen Massivholzmöbel aus dem Familienerbe, die hier zum Verkauf stehen, von ihnen Besitz ergriffen. Durch einen Türspalt beobachtet Chela  wie eine elegant gekleidete Frau sich in ihren eigenen vier Wänden umsieht wie in einem Antiquitätenladen. Verhuscht-ängstliche Blicke fallen auf träge, halbinteressierte Blicke, die Fotogalerien, Stehlampen, Kronleuchter und Gläser taxieren. Letztere seien aus Bergkristall, „ein 49-teiliges Set, komplett“, erklärt Chelas Lebensgefährtin Chiquita der Besucherin. Und während die Kamera auf der im Halbdunkeln stehenden, selbst ein wenig massivhölzernen Chela verharrt, hört man aus dem Off noch etwas von Stühlen und Ludwig XV. oder XVI. Es dauert eine ganze Weile bis sich die Erbinnen in Marcelo Martinessis gleichnamigen Film als Figuren überhaupt konturieren. Sie wirken mit der Objektwelt – dem Erbe – in den düsteren, nur spärlich beleuchteten Räumen regelrecht verwachsen.

Chela und Chiquita, ein lesbisches Paar um die 60, lebt schon viele Jahre in einer Villa zusammen, die im bourgeoisen Viertel der paraguayischen Hauptstadt Asunción gelegen ist. Chela ist dort aufgewachsen, nahezu jeder Gegenstand ist mit einem Onkel, dem Vater, dem Großvater verbunden (eine ausnahmslose patriarchale Linie) – und, was der paraguayische Filmemacher in den wiederholten Gesprächen über die alten Dinge deutlich macht, mit der Geschichte des europäischen Kolonialismus (ein englischer neoklassizistischer Tisch mit „poliertem Doppelsockel“ steht beispielhaft für die Herrschaftsverhältnisse und die in sie eingelassenen Warenkreisläufe). Die Erbinnen gehören einer beschützten, gesättigten Elite an, zu deren Selbstverständnis es gehört, nie gearbeitet zu haben. Doch nachdem alles Geld verbraucht ist, zwingt die prekäre finanzielle Lage sie dazu, große Teile ihres Besitzes zu verkaufen. Mehr noch: Chiquita muss wegen Überschuldung in Untersuchungshaft, was in Paraguay offenbar nichts extrem Außergewöhnliches ist. Und so ist Chela ohne ihre Partnerin an der Seite lötzlich auf sich alleine gestellt.

Martinessi verbindet in seinem Spielfilmdebüt die Beschreibung einer untergehenden, kolonial geprägten Klasse, die mit einiger Sturheit ihre Privilegien auch nach dem Ende der Diktatur aufrechtzuerhalten sucht, mit der Geschichte einer zaghaften Emanzipation. Wenige Gesten und Blicke reichen aus, um die in ihren alltäglichen Routinen erstarrte Beziehung zu erzählen. Martinessi zeigt die beiden Frauen hartnäckig aufeinander bezogen, selbst wenn sie zunächst voneinander abgewandt sitzen oder nur durch einen optischen „Trick“ im Bild vereint sind. Eine Einstellung, die an Fassbinders Bildkompositionen emotionaler Abhängigkeiten erinnert, zeigt in der Projektion eines Spiegels Chela lethargisch im Bett liegen, während sich Chiquita, die nur im Anschnitt zu sehen ist, im Bildvordergrund die Haare föhnt und energisch redet. Die Rollen innerhalb der Beziehung scheinen unverrückbar – Chicita organisiert, versorgt und regelt das soziale Leben, Chela hat sich in Unselbständigkeit und Depression eingerichtet – ebenso wie die Ordnung auf dem kleinen Tablett, das auf Chelas Tisch zu stehen hat, während sie lustlos an ihrer Staffelei herumpinselt. Cola Light mit viel Eis, Wasser ohne Eis, die Tasse Kaffee auf der rechten Seite, denn: „Das ist zum Trinken bequemer“. Bevor Chicita in Haft geht, weist sie noch das neue indigene Hausmädchen Pati ein. An den Fundamenten des bürgerlichen Lebens vermag auch der Verlust der ökonomischen Sicherheiten nicht zu rütteln.

Der Film spiegelt dieses in zwanghaften Ritualen gefangene Zusammenleben mit der ungleich gegenwärtigeren Welt des Frauenknasts. Bei Chelas erstem Gefängnisbesuch herrscht lebhaftes Gewusel im Gefängnishof, auch der schillernde Ruf mancher Insassin – es gibt eine „Clint Eastwood“ – bringt eine Dynamik in die Szenerie, die der abgedichtete Kosmos des bürgerlichen Lebens schmerzhaft vermissen lässt.

Nach ersten, etwas ängstlichen Schritten beginnt sich Chela zu autonomisieren. Als sie von einer Nachbarin gebeten wird, sie mit dem alten Mercedes ihres Vaters zum Bridge-Nachmittag zu fahren, entwickelt sich daraus eine Art informeller Taxi-Service für die wohlhabenden älteren Damen aus der Nachbarschaft. Dabei begegnet ihr auch die wesentlich jüngere Angy, eine schöne Frau, deren Unabhängigkeit und Offenheit verschüttete Sehnsüchte anspricht – und ein stillgelegtes sexuelles Begehren weckt. Das Auto – Chela fährt ohne Führerschein – wird dabei zur Metapher für ihr Leben, dessen Steuer sie bald selbst in die Hand nimmt. Dabei tritt sie buchstäblich aus einem Schatten. Denn nachdem sich der Film im ersten Teil vor allem in dunklen, mit Objekten vollgestopften Innenräumen abspielt – eine Einstellung, in der Chela von zwei antiken Skulpturen gerahmt auf die kartenspielenden alten Damen wartet, wirkt geradezu grotesk – , verlagert sich das Geschehen immer mehr in das Auto (auch das eine Rahmung) und in den Außenraum.

Eine der schönsten Szenen zwischen Chela und Angy spielt sich im hellen Tageslicht ab. Die beiden Frauen lehnen an dem alten Mercedes und sprechen von ihrer Kindheit. Angy raucht und rezitiert ein „romantisches Gesicht“, mit jedem Wort, jeder Geste, jedem Blick öffnet sich Chelas Gesicht ein kleines Stück mehr. „Die Erbinnen“ geht dabei aber nie so weit, diese scheuen Äußerungen von Bewegung und Freiheit zur großen Selbstermächtigungsgeste zu überhöhen, ebenso wenig wie Martinessi die lesbische Beziehung als Ausdruck einer von (heteronormativen) Konventionen befreiten Lebensweise darstellt – sie ist eher eine liberale Nische in einem von Konservatismen durchwirkten Milieu. So ist „Die Erbinnen“ auch als reiner Frauenfilm eher unprogrammatischer Art. Die Männer, die allein in Gesprächen über gescheiterte Ehen, vergangene Liebschaften und in den hinterlassenen Objekten präsent sind, spielen ganz einfach keine Rolle.

Foto: Grandfilm

Nicht zuletzt stellt Martinessi seinen Film in die Tradition einer spezifischen Form des Frauenporträts (als Vorbilder nennt er neben Fassbinder John Cassavetes und Todd Haynes), das weibliche Handlungsmacht stets im engen Zusammenhang mit Klasse betrachtet und seine Kraft entsprechend aus dem Spannungsverhältnis von Beschränkung und Autonomie bezieht. Chelas verhaltene Befreiung mag zwar auch zu einer Annäherung an ihr Hausmädchen Pepita führen. Nie aber würde sie so weit gehen, die Machtasymmetrie an sich in Frage zu stellen. Selbst eine tröstende Umarmung ändert daran nichts.




Die Erbinnen
von Marcelo Martinessi
PAR/UR/BR/DE/FR 2018, 95 Minuten, FSK 0,
deutsche SF und spanische OF mit deutschen UT,

Grandfilm

Ab 30. November hier im Kino.

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