Der Moment: XXY

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„Der MENSCH meines lebens bin ich.“ 1975 erschien „Häutungen“ von Verena Stefan. Der vielschichtige Roman über selbstbestimmte weibliche Sexualität wurde zum Klassiker der sogenannten „Neuen Frauenliteratur“ und ist bis heute ein internationaler Bestseller. Die 1947 in Bern geborene Autorin, Übersetzerin und Dozentin für kreatives Schreiben, sie seit 2009 in Montreal lebte, veröffentlichte in jüngerer Zeit u.a. „Fremdschläfer“ (2007) und, zusammen mit Chaim Vogt-Moykopf, „Als sei ich von einem andern Stern. Jüdisches Leben in Montreal“ (2011). Zuletzt erschien 2014 der vielstimmige Roman „Die Befragung der Zeit “, der auf Erinnerungen an ihren Großvater beruht, der sich aufgrund des Vorwurfs, illegale Abtreibungen vorgenommen zu haben, 1949 in eine psychiatrische Institution begeben musste. Als die SISSY Verena Stefan 2011 bat, ihren Lieblingsmoment aus einem Film des queeren Kinos zu beschreiben, erhielt sie gleich mehrere, alle aus Lucía Puenzos „XXY“. Und, natürlich, ein Plädoyer für die Vieldeutigkeit. Nun ist Verena Stefan nach langer Krankheit gestorben. Mit der Wiederveröffentlichung ihres „Moments“ möchten wir an sie erinnern.

Foto: Kool Film

Einige Grade mehr als die genormte Welt

von Verena Stefan

Viele Momente. Ungefähr 1970, in einem Berliner Krankenhaus, Innere Medizin, Ausbildung zur Krankengymnastin. Ein Arzt will uns etwas Besonderes zeigen, führt uns zum Bett einer älteren Patientin, schlägt mit ein paar jovialen Worten die Bettdecke zurück, wir sehen einen Penis, halten die Luft an. Der Arzt deckt die Patientin gleich wieder zu. Ihr Lächeln: Seid freundlich oder zumindest anständig mit mir. Wie oft wurde sie während ihres Krankenhausaufenthalts vorgeführt? Ein echter Hermaphrodit, sagt der Arzt draußen im Flur, das sieht man selten. Die Krankenhäuser waren voll mit wilden und grässlichen Variationen des Normalen, wir waren jung und ignorant, eine Gender-Debatte noch nicht einmal am Horizont sichtbar.

Hermes und Aphrodite in einem Körper, wie viel anschaulicher und sinnlicher ist dies als das technokratische „intersexed“. Bei Alex, der argentinischen Filmheldin aus XXY, stellt man zwei Monate vor der Geburt diese „Krankheit“ fest. Die Geburt soll gefilmt, das Kind sofort operiert werden. Die Eltern weigern sich. Sie war vollkommen, als sie zur Welt kam, sagt ihr Vater: perfekt.

Um dem Gerede zu entgehen, zieht die Familie aus Buenos Aires weg in einen kleinen Fischerort an der uruguayischen Küste. Die Filmhandlung beginnt mit der fünfzehnjährigen Alex, die sich mit den Fragen ihres zweifachen, zweideutigen Geschlechtslebens herumschlagen muss. Ihr Kindheitsfreund und einziger Vertrauter hat ihr Geheimnis ausgeplaudert, die Jugendlichen im Ort machen Jagd auf sie. Die Mutter tendiert aus Angst um ihr Kind doch zu einer „eindeutigen“ Entscheidung und hat ein befreundetes Ehepaar mit Sohn Alvaro aus Buenos Aires eingeladen. Der Mann ist Chirurg und soll Alex über die Möglichkeiten einer Operation aufklären. Dazu kommt es nicht. Alex unterwandert mit ihrer unbestechlich direkten und gleichzeitig subversiven Art alle Pläne der Erwachsenen.

Der sechzehnjährige Alvaro und sie umkreisen einander wie zwei verlaufene verwandte Seelen und Körper, die einander ebenso heftig anziehen wie abstoßen. Alex bringt die Dinge auf den Punkt. Sie ist es leid, als exotisch oder monströs zu gelten, sie will so, wie sie ist, gesehen und begehrt werden. Macht es dir mehr aus, mich nicht mehr zu sehen, oder dass du ES nicht gesehen hast? Fragt sie Alvaro einen Augenblick vor der Abreise. Und stellt ihn einmal mehr auf die Probe: Willst du ES sehen?
Das eingeladene Ehepaar kommt wie Mr. und Mrs. Mainstream an. Sie streicht sich mit einer einstudierten Geste die Haare hinters Ohr, damit der Perlmuttohrring und das feine Öhrchen zur Geltung kommen: Schaut her, alles an mir ist perfekt feminin. Er ist davon überzeugt, mit dem Skalpell alles in Ordnung zu bringen, was von der Norm abweicht. Nachts studiert er Fachlektüre, sie liegt neben ihm und verteilt mit Andacht eine Creme auf ihrem Gesicht. Er beugt sich hinüber, streicht kurz mit dem Daumen an ihren Jochbogen entlang: Braves Mädchen.
Absolut faszinierend, wie Lucía Puenzo mit einzelnen kleinen Gesten Rollenverhalten demonstrieren und später demontieren lässt.

Bei der Abfahrt ist der Lack ab, die Selbstgefälligkeit erschüttert. Strähnige Haare, keine Ohrringe, keine Handbewegung mehr, auch kein süßes Lächeln. Seine Niederlage: Weder Alex noch die Eltern wollten seine chirurgischen Vorschläge hören.

Der kälteste Moment: Magst du mich? Fragt Alvaro den Chirurgen. Du bist mein Sohn, antwortet er achselzuckend. Glaubst Du, dass ich einmal etwas Wichtiges erreichen werde? Fragt Alvaro verzweifelt. Nein, sagt der Vater.
Alex übernachtet bei einer Freundin, die ihr kichernd erzählt, sie habe es einige Male mit ihrem Cousin gemacht. Auch an diesem Mädchen demonstriert jede Geste, jeder Gesichtsausdruck Attraktivität für das andere Geschlecht. Am Morgen waschen sie sich unter der Dusche gegenseitig die Haare, ein Kindheitsritual, dem sie gerade entwachsen. Die Freundin dreht sich zu Alex um und streicht ihr lange über Haare und Gesicht, als wollte sie ihre eigene konditionierte Weichheit in sie hineinmassieren. Die Geste wirkt wie eine eindringliche Frage und Beschwörung: Bist du Mädchen? Bleib ein Mädchen! Bis Alex mit einer Eigenbewegung die Regie übernimmt und sich heftig die Haare rubbelt.

Die wundersamen Momente des Films: Die Eltern lieben Alex und verteidigen sie. Ihr Universum hat einige Grade mehr Körpertemperatur als die genormte Welt. Junge oder Mädchen?! Wird irrevelant. Uneindeutigkeit, Vieldeutigkeit bekommen ihren Platz.




XXY
von Lucía Puenzo
AR/FR/ES 2007, 87 Minuten,

deutsche SF & spanische OF mit deutschen UT,
good!movies

Hier das Werkverzeichnis von Verena Stefan.

 

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