Davit Gabunia: Farben der Nacht

Buch

Auch wenn sich in den vergangenen Jahren viele Staaten des ehemaligen Ostblocks in gesellschaftlichen Fragen zum Westen hin geöffnet haben, ist in den meisten von ihnen Homophobie in einem erschreckenden Ausmaß verbreitet. Und wo Schwulsein nur im Verborgenen ausgelebt werden kann, profitieren Stricher und Erpresser. Von diesem Schattenspiel erzählt der georgische Autor Davit Gabunia und stellt dabei die Perspektive eines arbeitslosen Mannes, der unbeabsichtigt Zeuge eines Verbrechens wird, ins erzählerische Zentrum. Detlef Grumbach über „Die Farben der Nacht“, einem schonungslosen Sittenbild der Kaukasusrepublik.

Der mit dem Schlips

von Detlef Grumbach

„Er steht und schaut. Hinunter auf ihn. Steht reglos, ebenso reglos, wie der daliegt, auf den er hinunterschaut.“ Kurze Sätze, kein überflüssiges Wort. Keine Bewegung, auch nicht in der Sprache. Da schaut einer hinunter auf eine Leiche, neugierig und ohne jede Emotion. Er registriert die Schönheit des Körpers, prägt sich den Geruch des Bluts ein, fotografiert. Die Zeit scheint still zu stehen. Und doch weist das Ende dieser Exposition, die der 1982 geborene Georgier Davit Gabunia der eigentlichen Erzählung seines Romans voranstellt, auf eine dramatische Dynamik: „An diesem 21. September 2012 hat sich die Welt verändert und wird nie sein wie zuvor.“

Seit Wochen kann Surab nicht richtig schlafen. Er ist arbeitslos, wie viele Georgier in dieser Zeit, seine Frau verdient das Geld. Er kümmert sich um die Kinder, wenn sie nicht bei den Großeltern sind, liegt auf dem Sofa, trinkt mit Freunden und schaut fern. Das Leben plätschert dahin. Surab fühlt sich überflüssig, zweifelt an sich und seiner Rolle in Familie und Gesellschaft. Das Verhältnis zu seiner Frau Tina kühlt merklich ab. In der Eisdiele, mit Tina und den Kindern, bricht er plötzlich in Tränen aus. Und dann ändert sich etwas. Im Block gegenüber zieht ein junger Mann ein, der nicht in die Gegend passt. Er fährt ein auffälliges Auto, bekommt nachts Herrenbesuch, einen deutlich älteren Mann – „der mit dem Schlips“ –, zieht die Vorhänge nicht zu und lädt geradezu ein, ihn bei der Sexarbeit zu beobachten. Surab ist fasziniert, legt sich Nacht für Nacht auf die Lauer, schießt Fotos. Er erkennt in dem Älteren mit dem Schlips den Mann aus dem Sicherheitsministerium, der im Fernsehen die Erklärungen zur Lage abgibt. Denn so eintönig das Leben Surabs bis zu seiner neuen, nächtlichen Beschäftigung auch abläuft – in der Stadt überschlagen sich die Ereignisse. Am 1. Oktober 2012 soll in Georgien ein neues Parlament gewählt werden. Der Präsident, 2008 mit großen Hoffnungen auf eine Demokratisierung des Landes mit überzeugender Mehrheit ins Amt gekommen, steht unter enormem Druck: Korruption, Polizeiterror, Bilder von in den Gefängnissen gefolterten Häftlingen beherrschen den Wahlkampf und peitschen die Stimmung auf. Demonstrationen erschüttern Tiflis, das Innenministerium sorgt mit aller Härte für „Ordnung“. Die Fernsehbilder und Berichte dieser Ereignisse ziehen sich wie ein roter Faden durch den Roman, sind omnipräsent und bleiben dennoch absolut im Hintergrund. Manchmal scheint es, als ob sie gar nicht wirklich in Surabs Bewusstsein vordringen.

Davit Gabunia – Foto: Nodar Ladaria

Als „eine herausragende Stimme der Literatur Georgiens“ stellt der Klappentext den Autor vor, der in seiner Heimat als Übersetzer, Dramatiker und Kritiker bekannt ist. „Die Farben der Nacht“ nennt Davit Gabunia sein Prosa-Debüt. Kenner Georgiens mögen es als Parabel auf die Situation des Landes lesen, das in seinem Streben um Unabhängigkeit immer wieder zurückgeworfen und auch von seinen Hoffnungsträgern enttäuscht wurde. Aus sechs immer wieder wechselnden, eng geführten Perspektiven montiert der Autor auf den folgenden gut 170 Seiten ein Bild dieser Nacht zum 21. September, ihrer Vorgeschichte und des folgenden Tags.

Surabs Erzählung bis hin zur Beobachtung des Mords nimmt fast die Hälfte des Texts ein. Seine Perspektive erinnert an Hitchcocks „Das Fenster zum Hof“ (1954). Surab ist zwar nicht an seine Wohnung gefesselt, doch er ist zurückgeworfen auf die Position des Beobachters. Er ist kein Voyeur, der sich aufgeilt an dem, was ihm da unverhofft geboten wird. Er ist so sehr mit seiner eigenen Handlungsunfähigkeit beschäftigt, dass er zwar registriert, was er sieht, es ihn aber nur noch stärker auf sich zurückwirft. Bis er einen Streit der beiden Liebhaber beobachtet – und wie der Ältere den Jüngeren mit einer Vase erschlägt. Surab setzt sich in Bewegung. Er wittert die Chance, sich aus seinem Dilemma zu befreien und versucht, Merab einen Job abzupressen. Wird er durchkommen mit seinem Plan? Bis zu diesem Punkt, in seinem ersten „Auftritt“,  erzählt Surab in der ersten Person. Der Text oszilliert zwischen Verhörprotokoll und Lebensbeichte. Bei den folgenden „Auftritten“ wechselt die Erzählhaltung in die dritte Person – jetzt wird er zum Gegenstand der Betrachtung.

Ihr Leben verändern will auch Tina. Sie hat sich schon vor Wochen in ihren neuen Arbeitskollegen Nuri verliebt, hält Surab mit kleineren und größeren Lügen auf Distanz. Doch Nuri steckt fest in seiner Beziehung, entscheidet sich schließlich für seine Frau. Das wirft Tina aus der Bahn. Als Surab ihr stolz von einer neuen Arbeit im Innenministerium erzählen und ihrer Beziehung frischen Wind verleihen will, ist sie spurlos verschwunden.

Dann ist da noch Merab, Ehemann, Vater und Funktionär eines Staats, der Homosexuelle verfolgt. Merab glaubt, sein Doppelleben im Griff zu haben. Seine Homosexualität – „unsere Sache machen“ – lebt er mit dem Stricher Schotiko aus. Dabei verliebt er sich in ihn, wird eifersüchtig auf die Freiheiten, die Schotiko sich herausnimmt. Merab sieht keine Möglichkeit, die Balance zu halten, seinem Leben eine andere Richtung zu geben. Das letzte Wort gehört Schotiko: eine knappe halbe Seite. Er ist der einzige, der in sich ruht und mit sich und seinem – vom Strafgesetzbuch, der Behörde seines Liebhabers und Volkes Stimme bedrohten – Leben im Reinen ist. Er bemerkt nach seinem Einzug in die neue Wohnung sofort, dass er beobachtet wird, findet das gar nicht so schlecht, falls ihm mal etwas zustoßen sollte. Formbewusst, wie er den ganzen Roman aufgebaut hat, nimmt der Autor den ersten Satz wieder auf: „Also, soll er nur stehen und beobachten.“ Am Ende hat Sarubs Voyeurismus der „Schwuchtel“ nichts genützt – aber ihm selbst.

Mit strenger Hand führt Gabunia seine Figuren durch sein Stück, erzählt die Geschichte in einer sparsamen und präzisen Sprache, der man sich nicht entziehen kann, die eine subtile Spannung aufbaut. Er beobachtet sie und gibt Raum für Beobachtungen, so wie Surab anfangs seine Welt wie mit der Kamera sieht: sachlich, aus der Distanz. Nicht einmal, als Surab in der Eisdiele plötzlich weinen muss, lässt der Autor die LeserInnen in sein Inneres blicken. Durch die hintergründige Präsenz der politischen Unruhen baut er die Kulisse einer Gesellschaft in Aufruhr auf, die seinen Figuren einen eng gesteckten Handlungsrahmen gibt. Die Montage der unterschiedlichen Perspektiven, die Gewichtung der Figuren und der Wechsel von Ich-Erzählung und dritter Person (nicht nur bei Surab) evozieren das Bild einer polizeilichen Untersuchung, eines Prozesses: Surab, der Hauptzeuge? Der Angeklagte? Tina, Nuri und die anderen als Zeugen und der Autor als Protokollant? Nur Merhab wird ausschließlich in der dritten Person erzählt – sein Ende macht das plausibel.

Gabunia erzählt in einem Land, dass sich im Aufbruch befindet, von Menschen im Aufbruch, und er lotet ihre Möglichkeiten aus. Das als einigermaßen frei und selbstbestimmt erscheinende Leben des schwulen Schotiko steht dabei als Metapher für die mögliche, aber auch konkret bedrohte Alternative zum Status quo, genauso wie der Ausbruchsversuch Tinas aus ihrer Ehe. Der homosexuelle Merhab verteidigt diesen Status quo mit allen Mitteln – und zerstört damit seine eigene Chance auf Glück. Und auch der indifferente Surab, der sich raushält und im entscheidenden Moment sein Süppchen kochen will, muss scheitern. Gabunia zeigt seine Figuren in einer verfahrenen Situation, die sich nur noch durch einen großen Knall auflösen lässt. Diesen Knall hat es am 21. September 2012 gegeben, was darauf folgt, bleibt gekonnt in der Schwebe. Ein großartiger Roman.




Farben der Nacht

von Davit Gabunia
aus dem Georgischen von Rachel Gratzfeld

Gebunden mit Schutzumschlag, 190 Seiten, 20 €,
Rowohlt Berlin