Bodo Kirchhoff: Dämmer und Aufruhr

Buch

Bodo Kirchhoff gehört zu den wichtigsten Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur. Den Deutschen Buchpreis, den er 2016 erhielt, hatte er mehr als verdient (wenn auch vielleicht für ein anderes Buch). In seinem Werk spielen Variationen von Männlichkeit immer wieder eine große Rolle, auch das durchaus sexuelle Abarbeiten an kulturellen Rollenmustern, weshalb er in seinem Roman „Eros und Asche“ (2007) schwule Buchläden als Orte bezeichnete, „deren Dialekt ihm lag“, weil hier keine verlogene Prüderie herrschte. Mit seinem im Frühjahr 2018 erschienenen Roman „Dämmer und Aufruhr“ geht Kirchhoff einen deutlichen Schritt weiter: Er erzählt die Geschichte des sexuellen Missbrauchs eines Internatsschülers durch seinen Lehrer als Liebesgeschichte, eines Schülers, in dem unschwer der Autor in jungen Jahren zu erkennen ist. Tilman Krause hat das Buch gelesen.

Heterosexualität ist heilbar

von Tilman Krause

Wohl kein heterosexueller deutscher Schriftsteller der Gegenwart wird so umgetrieben von der homosexuellen Phase in seinem Leben wie Bodo Kirchhoff. In fast alle erzählerischen Werke, die der Siebzigjährige im Laufe der Jahrzehnte vorgelegt hat, spielt das Thema hinein. Die Darstellungsformen variieren allerdings gewaltig. In „Parlando“ von 2001 zum Beispiel wird jener Lehrer, der den pubertierenden Internatsschüler (hinter dem sich, unschwer zu erkennen, der Autor selbst verbirgt) zu ersten sexuellen Handlungen verleitet, noch durch einen brutalen Mord abgewehrt. In seinem jüngsten Werk „Dämmer und Aufruhr“ jedoch, das Kritiker als sein bedeutendstes gefeiert haben, erzählt Bodo Kirchhoff die heikle Lehrer-Schüler-Beziehung als Liebesgeschichte.

Donnerwetter! Im Jahr 2018, das wie schon die Jahre davor über weite Strecken im Bann jener pädophilen Missbrauchsvorwürfe stand, die gegenüber der katholischen Kirche, aber auch gegenüber vielen Privatschulen, Kinderheimen und Sportvereinen erhoben wurden, entschließt sich einer der der prominentesten deutschen Schriftsteller, ohne Groll, ohne jegliches Selbstmitleid, auf nahezu hundert (von insgesamt 460) Seiten die bittersüße Erfahrung seiner frühen Jahre mit einem pädosexuellen Musik-, Religions- und Sportlehrer, der auch den Schulchor leitet, als einschneidenden „rite de passage“, als sexuelles Erwachen, ja als erste Liebe zu schildern.

Bodo Kirchhoff – Foto: Laura J. Gerlach

Das wiegt umso mehr, als der Autor in vielen Passagen dieses komplexen und überaus sorgfältig komponierten „Romans der frühen Jahre“ (so der Untertitel) durchaus zu erkennen gibt, dass er für die Denkfiguren politischer Korrektheit Verständnis hat. Seine Darstellung der frühen bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft liegt zudem ganz auf der Linie einer linken Geschichtsschreibung, die in der Adenauerzeit nur Stagnation, Restauration und verkitschte Heimatseligkeit ausmachen kann. Das ist natürlich sein gutes Recht, denn auch ein Roman mit stark zeithistorischem Einschlag ist immer noch mehr Roman als Sachbuch. Es fällt jedoch auf, dass die moralische Sicht auf die 50er- und 60er-Jahre bei Kirchhoff keinen Einfluss auf die Darstellung seiner Lehrer-Schüler-Liebe hat, die eben wertfrei ist, obwohl sie auch zum damaligen Zeitpunkt schon als schweres Vergehen geahndet worden wäre, hätte man sie entdeckt. In „Dämmer und Aufruhr“ kommt es auch fast dazu. Aber der Lehrer Gieser kann sich noch rechtzeitig aus dem Staub machen. Und es rollt nicht sein Kopf, sondern der Internatsleiter wird ausgewechselt. Den Schülern hingegen erzählt man, Gieser sei nach Südamerika ausgewandert.

Jedoch: Trauer muss der Verlassene tragen. Und die ist gewaltig. Denn Gieser hatte sich zunächst als fast schamanisch begabter Wohltäter bei ihm eingeführt, der durch pures Handauflegen Bauchweh heilt. Er hatte ihn sodann mit Anreden wie „Schöner“ oder „Schöner, Du“ bezirzt, schenkte dem von seinen Eltern Abgeschobenen Aufmerksamkeit und förderte seine Talente. Bis hierhin entspricht die Sicht auf den erwachsenen Verführer derjenigen vieler Fallgeschichten, in denen alleingelassene Kinder von Pädophilen mit jener Zuneigung bedacht werden, die ihre Eltern ihnen nicht geben. Doch Kirchhoff geht darüber hinaus.

Er stellt Gieser als cool und attraktiv dar. In einer Zeit, in der den Schülern noch ein Nazihaarschnitt verpasst wird, trägt Gieser, den wir als eine Art Winnetou-Lookealike präsentiert bekommen, schon um 1960 das Haar lang und offen. Beim Sex fällt es ihm reizvoll in die Stirn. Gieser, der auch „die Aufsicht beim Duschen“ hat, kriegt außerdem vom Autor aufregend knappe Badehosen verpasst. Und als er der Frau Mama einen „Antrittsbesuch“ abstattet, hat er eine schnittige Windjacke an. Zwar ist er zu dem Zeitpunkt schon 35 (sein Liebhaber hingegen 12, 13), aber der Autor plausibilisiert ihre gegenseitige Attraktion, indem er Gieser gerade nicht als erzieherische Respektsperson, sondern als älteren Freund profiliert, den man einerseits begehren, sich andererseits zum Vorbild nehmen kann.

Kurzum, Kirchhoff traut sich, die Versucher-Figur Gieser in einer Weise zu sexualisieren, wie man das von einem heterosexuellen Autor kaum erwarten würde (und so mancher schwule Leser wird das alles mit angehaltenem Atem und großer Erregung lesen). Doch ein homosexuelles Buch wird „Dämmer und Aufruhr“ darum nicht. Als müsse der Autor seine schwule Sicht auf Gieser irgendwie ausbalancieren und die erotische Empfänglichkeit seines jugendlichen Helden für den Älteren rechtfertigen, hat er sich den Kniff ausgedacht, dieses Alter Ego seiner frühen Jahre als ausgesprochen polymorphes sexuelles Wesen zu zeichnen. Es erlebt auch mit der eigenen Mutter und sogar der Großmutter Intimitäten, die über das hinausgehen, was in diesem Rahmen üblich ist (von weiteren homosexuellen Kontakten sowie von ersten heterosexuellen Eskapaden ganz zu schweigen).

Dabei verliert der Erzähler sein Ziel nie aus den Augen: Letztlich geht es in „Dämmer und Aufruhr“ um die Erziehung zur Männlichkeit. Am Ende soll der Held als Hetero mit gefestigter sexueller Identität dastehen. Nur: als Hetero verkommt der Protagonist zum Mainstream-Exponenten, der vor allem in seiner Frankfurter Zeit als Student mit Anfang zwanzig demotiviert und depressiv am Rande der Asozialität dahintreibt und sich in den politisch aufgeheizten frühen Siebzigern mit dem beschäftigt, mit dem sich damals alle beschäftigen.

Als schillernder sexuell Polymorpher, der mit der Großmutter in anarchischer Fröhlichkeit alte Schlager trällert, der mit der glamourösen Mutter den Sinn für das Imaginäre der eigenen Existenz auszukosten weiß und mit dem aufregend unkonventionellen Lehrerliebhaber Sex hat: als eine solche Figur war der Ich-Erzähler keine Schablone, sondern noch ein sehr individualistischer Charakter, dessen Regungen man mit Spannung folgte. Da fragt man sich doch: Warum eigentlich unbedingt Mann, wenn man doch Mensch sein kann? Und möchte dem Autor aufmunternd zurufen: Habe Mut, Dich Deines eigenen Begehrens zu bedienen. Heterosexualität ist heilbar. Es ist nie zu spät.




Dämmer und Aufruhr

von Bodo Kirchhoff
Gebunden, 480 Seiten, 28 €,
Frankfurter Verlagsanstalt

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