Close

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Léo und Rémi, beide 13 Jahre alt, sind beste Freunde und stehen sich nah wie Brüder. Sie sind unzertrennlich, vertrauen sich und teilen alles miteinander. Doch mit dem Ende des Sommers und dem Wechsel auf eine neue Schule gerät ihre innige Verbundenheit plötzlich ins Wanken – mit tragischen Folgen. „Close“ ist der zweite Film von „Girl“-Regisseur Lukas Dhont und wurde vergangenes Jahr in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet. Andreas Wilink über ein Drama, das von einer besonderen Nähe erzählt und zu Tränen rührt.

Foto: Pandora Film

Ein Herz steht still

von Andreas Wilink

Ein Kinderspiel, das Zwei verbindet und sonst niemanden zulässt: „Close“. Ein Kindheitsidyll. Das Glück. Aber wie in Agnès Vardas Film „Das Glück“ lässt sich ahnen, dass es nicht von Dauer sein, dass etwas dazwischen treten wird.

2018 lief Lukas Dhonts sensible Studie „Girl“ in Cannes – ein Film, der als spezifisches Gender-Drama unzureichend charakterisiert wäre, weil er vielmehr von der Adoleszenz als von der Unschärfe in den Dingen erzählt. „Girl“, das ist die 15-jährige Lara, die Ballerina werden möchte, schönes blondes Haar hat, und ein Gesicht wie von Vermeer gemalt. Aber Lara wurde im falschen Körper eines Jungen geboren. Es gibt in dem bemerkenswerten Film nicht den einen Moment der Enthüllung, vielmehr ein langsames Gleiten in eine von uns als Zuschauende ständig zu überprüfende Wahrnehmung.

Gleiches lässt sich über Dhonts neuen Film „Close“ sagen, der, ebenfalls in Cannes, den Großen Preis der Jury erhielt und Belgien bei der Oscar-Kür vertreten wird. „Close“ sind die beiden 13-jährigen Léo und Rémi. Freunde, die ihre Welt teilen, ihre Geheimnisse, ihre Offenheit, ihre Abenteuer, die rein aus der Fantasie erwachsen und etwa von einer unsichtbaren Ritterarmee handeln, vor der sie – natürlich gemeinsam – auf der Flucht sind. Es ist eine exklusive Freundschaft. Manchmal will es uns vorkommen, als würde die Grenze zwischen dem einen Ich und dem anderen nicht festgefügt sein, sondern sich verflüssigen. Sie bedürfen einander, geben sich gegenseitig Sicherheit und Halt, sind einander Spiegel der Seele. Der Raum ihrer Verbindung, die noch keinen Begriff braucht und keine Definition kennen muss, bedarf des Schutzes vor der Deutung der Erwachsenen und Gleichaltrigen. Noch sondert die Kamera sie ab, als sie auf dem Schulhof stehen, inmitten einer quirligen Menge.

Léo wächst in der Natur unter Blumenzüchtern auf, als wäre alle Zeit Sommer und sein Duft der Atem des Glücks. Für Rémi ist es die Musik – er spielt Oboe, die er mit seinem Herzensfreund teilt. Beider unbefangener Austausch bezieht die Eltern und Familien mit ein, bei denen die Jungen auch wechselweise übernachten und sich im Bett aneinander schmiegen. Léo erzählt eine Gute-Nacht-Geschichte, über die Rémi einschläft.

Die Schule, das Kollektiv, die Gesellschaft hält Vorstellungen, Erwartungen und Einwände, Abwehrreaktionen bereit. Von Léo und Rémi wird Eindeutigkeit gefordert, Ordnung und Einordnung ihres Fühlens und Abgrenzung voneinander. Als wäre Normalität klar umrissen. Ist es Liebe, vielleicht Begehren, was Léo und Rémi eint? Es gibt den schlichten, klugen Satz in Agota Kristofs Roman „Das große Heft“, dass das Wort Liebe kein nützliches Wort sei: „Es ist nicht genau genug“. Lukas Dhont indes ist in „Close“ ein Meister der Genauigkeit und Konzentration, mit der er Nuancen des Ausdrucks und deren Veränderung registriert und gestaltet.

Foto: Pandora Film

Léo und Rémi haben Zuneigung und Zärtlichkeit füreinander. Der Feinsinn des Besonderen ist den Gewöhnlichen nicht geheuer. Liebe ist immer auch außerirdisch und ausschließend für die übrige Welt. Und da es keine Minnegrotte gibt, wie eine kleine Weile für die sagenhaften Tristan und Isolde, zerbricht ihre Beziehung – mit unumkehrbarer Folge.

„Seid Ihr zusammen?“ („plus plus“), lautet die harmlos gemeinte, aber dann doch zerstörerische Frage eines Mädchens, als sie aufs Gymnasium kommen. Léo antwortet, der scheuere, stille, davon noch unberührte Rémi sagt nichts. Léo wird nachdenklich, vorsichtig und ausweichend, auch wenn sein Blick weiterhin in liebender Aufmerksamkeit an Rémi hängt, als der bei einem Konzert ein Solo spielt, oder er ihn während der Unterrichtspausen besorgt betrachtet. Der arglose Rémi bleibt sich anfangs gleich, um sich dann in sich zurückzuziehen.

Foto: Pandora Film

Für Léo markiert die Frage eine Zäsur – Differenz als Befremden zu erleben. Der Baum der Erkenntnis trägt bittere Frucht. Léo nimmt Abstand von Rémi, wendet sich tougheren Mitschülern zu, spielt nun in der Eishockeymannschaft. Er hebt ihre Nähe auf, wenn sie im Bett liegen, er rollt sich weg, wenn Rémi seinen Kopf an ihn lehnt. Ein spaßhaftes Balgen endet im Ernst. Rémi weint erste Tränen. Am nächsten Morgen radeln sie nicht gemeinsam zur Schule, Léo fährt in einer Gruppe von Jungen um Baptiste. Als Rémi darüber Léo zur Rede stellt, vermischt sich sein Traurig-Sein mit hilflosem Zorn. Für ihn bedeutet Leós Abkehr die tiefgreifende Erschütterung seiner gesamten Person.

Zuvor war alles hell und leicht, Freude und Lachen, war Melodie und vollendete Bewegung, die die beiden Jungs, vermittelt durch die Kamera (Frank van den Eeden), begleitet und ausführt. Ein Rausch avant la lettre, so inszeniert es der 31-jährige Dhont. Danach ist Zögern, Zweifel und abwartendes Misstrauen. Regen zieht auf. Die Farben des Films werden dunkler, es sieht nach Herbst aus. Auf dem heimischen Feld werden die rot prangenden Blumen geerntet. Bei einem Schulausflug fehlt Rémi.

Foto: Pandora Film

Wir sehen – nach der Hälfte des Films – nur eine zerbrochene Tür in Rémis Elternhaus. Léo ist fortan allein, sein Gesicht leer: Es ist die Leere, die Rémis Fehlen verursacht. Der Verlust und der Schmerz um das Verlorene wird ihn niemals verlassen. Eines nachts legt er sich zu seinem älteren Bruder ins Bett, um über Rémi zu sprechen; aber was er nicht aushält, ist, was andere über Rémi sagen. Sein Versuch von selbstbeherrschter Normalität versagt – vor allem im Angesicht von Rémis Mutter Sophie – und gelingt. So bestimmt es die furchtbare Gnade des Weiterlebens.

Gerade die sensitive Erzählweise – zusammen mit dem innigen Zauber der Darsteller von Léo und Rémi – bewirkt die Radikalität des Erzählten und schärft den Blick darauf, dass die kostbarste Möglichkeit der Selbstwerdung, ob als Frau oder Mann, als schwuler, heterosexueller oder transitorischer Mensch, in der Begegnung mit einem Gegenüber sich ereignet. „Close“ legt uns auf die Seele, wie gefährdet wir sind als Individuum durch einen bösen Blick, ein unachtsames Wort, eine Zurückweisung.

„Damals lebte sein Herz“, schreibt Thomas Mann in seiner Jahrhunderterzählung vom jungen Tonio Kröger in seinem Gefühl für Hans Hansen. Damals lebte ihr Herz – das von Léo und das von Rémi, indem es für den jeweils anderen schlug.




Close
von Lukas Dhont
BE/FR/NL 2022, 105 Minuten, FSK 12,
deutsche SF & französische OF mit deutschen UT

Ab 26. Januar im Kino

 

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