Beautiful Beings
Trailer • Kino
Addi ist 14 und streunt mit seinen Kumpels Siggi und Konni durch die Straßen. Der schüchterne Balli ist der Neue in der Gang, in der es eine klare Rangordnung gibt. Zusammen proben sie ihren Mut, naschen Pilze, betrinken sich und gehen spätnachts im Freibad schwimmen. Doch Aggressionen und Gewalt sind stets nur einen Lidschlag entfernt. Und dann träumt Addi auch noch, dass etwas Furchtbares passieren wird. Bildgewaltig und voller Empathie erzählt der isländische Regisseur Guðmundur Arnar Guðmundsson („Herzstein“) in seinem neuen Film von vier Jungs, die ihren Weg suchen und sich dabei wie Ringkämpfer ineinander verhaken, und von einer jugendlichen Welt, in der kaputte Familien und Verwahrlosung ebenso alltäglich sind wie magische Vorahnungen und Poesie. Natália Wiedmann tritt mit seinen beautiful beings an die Schwelle zum Erwachsenwerden.
In der Schwebe
von Natália Wiedmann
„Einmal träumte ich, ich zöge mit Freunden los, um jemand Fiesen zu verprügeln“, eröffnet die entkörperlichte Stimme eines noch namen- und gesichtslosen Jungen. Die Stimme spricht von einem unbestimmten Punkt jenseits der Traumebene, von Klängen begleitet, die als nicht-diegetischer Score gar jenseits der raumzeitlichen Welt des Erzählers liegen. Der wird im Traum von einem riesigen Adler gepackt und ins Meer fallen gelassen, und er versucht vergeblich, zu schwimmen. „Ich war schon am Ertrinken… als jemand mich aus dem Meer herauszog.“
Ein noch stimmloser Körper sitzt zusammengekauert in einem Abflussrohr, vor ihm das Meer. „Das ist die erste Frage“, sagt eine Lehrerin im Off, als er verspätet seinen Klassenraum betritt: „Wer ist die Hauptfigur der Geschichte?“ Wir folgen dem Jungen, dessen Stimme wir zuerst als Schrei zu hören bekommen, dessen Stimme dann – sehr viel später – den Refrain eines isländischen Songs rausschmettern wird: „Hilf mir nach oben / ich hab das Gefühl, ich ertrinke!“ Wir folgen dem Jungen, der am nächsten Tag eine andere Jacke trägt. Eine, die auf der Rückseite ein aufgestickter Adler ziert. Eine, die er auf dem Nachhauseweg tropfnass nach einem seiner Peiniger schleudert, der ihn daraufhin brutal niederschlägt.
Um die Frage aus dem Off zu beantworten: Er ist nicht die Hauptfigur der Geschichte. Er, der nun am Boden und dann im Krankenhaus liegt, der 14-jährige Balli. Aber in den ersten Minuten von „Beautiful Beings“ bleiben Zuordnungen uneindeutig, ist noch offen, wer die Erzählung strukturiert, wo wir uns befinden, wie Stimmen und Körper zueinander stehen. Wenn wir die Traumerinnerung schließlich dem gleichaltrigen Addi zuordnen können und begreifen, dass sich der filmische Blick an seine Perspektive anschmiegt, hat Regisseur und Drehbuchautor Guðmundur Arnar Guðmundssons durch motivische Verbindungen und die formale Gestaltung bereits ein geradezu schicksalhaftes Band zwischen Addi und Balli geknüpft – und er hat bereits das ästhetische Programm seines zweiten Langfilms, der dem vielfach preisgekröntem Erstling „Herzstein“ folgt, etabliert.
Addi ist ein genauer Beobachter, ein sensibler Geheimniswahrer und die Figur, bei der sich Wissen zentriert. Anders als der Stiefvater seines Freundes Siggi weiß Addi, wie Siggi sich für erlittene Demütigungen an diesem rächt. Nur Addi weiß, dass ausgerechnet Konni, der aufgrund seiner gefürchteten Gewaltausbrüche „das Tier“ genannt wird, sich aus Angst vor seinem Vater manchmal erst spät nach Hause traut. Über Addi hingegen gibt es Dinge, die keiner seiner Freunde weiß. Und dann ist da noch Wissen, von dem zunächst nicht einmal Addi selbst weiß, dass er darüber verfügt. Vorahnungen, die sich in Traumvisionen, in einem unheilvollen Gefühl oder einer Körperreaktion ausdrücken. Erst im Rückblick offenbart sich, dass schon die erste Traumerinnerung in einfachen Worten das komplizierte Geflecht aus Emotionen und Beziehungen skizziert, das mycelartig die ganze Geschichte zusammenhält.
Ballis Hoffnungen bescheiden sich darauf, einfach nur in Ruhe gelassen zu werden, doch Addi verhilft ihm geschickt zu einem Platz in seinem Freundeskreis – gegen das anfängliche Sträuben Konnis und Siggis, die mit Balli, dem in Verwahrlosung lebenden Außenseiter, erst nichts zu tun haben wollen. „Hilf mir nach oben / Ich kann es nicht selber“, beginnt der schon erwähnte Song der Band Nýdönsk, und es ist das, was die Jungs füreinander tun: Da die Erwachsenen um sie herum darin versagen, passen sie aufeinander auf. Sie schaffen sich selbst einen fragilen Schutzraum, in dem Balli aufblühen, in dem Konni sich von Addi in den Arm nehmen und trösten lassen kann. Einen Schutzraum, in dem Hände sich nicht zu unbarmherzigen Fäusten ballen, sondern zärtlich übers Haar streichen. Aber den Händen, die nach oben helfen, die festhalten, um vor dem Fall in den Abgrund zu bewahren, diesen Händen kann auch drohen, in den Abgrund mit hineingerissen zu werden.
Immer wieder setzt der Film diese Gleichzeitigkeit der Möglichkeiten ins Bild. Wenn wir etwa zum ersten Mal sehen, wie Siggi von Konni gewürgt wird, erweist sich das als Teil eines Ohnmachtsspiels, geschieht also mit Siggis Einverständnis, nimmt aber zugleich die potentiell tödliche Bedrohung vorweg, die sich später in der gleichen Konstellation realisiert. Das mag an sich noch nicht bemerkenswert sein, schließlich ist es ein etablierter Topos des Coming-of-Age-Genres, Jugend als liminale Phase zu begreifen und das schnelle Umschlagen von einem Gefühl in ein anderes zu inszenieren, das Nebeneinander des Gegensätzlichen. Aber selten findet man eine so durchdringende ästhetische Umsetzung wie bei „Beautiful Beings“, wo mit allen verfügbaren Gestaltungsparametern ein Gefühl des Schwebezustands erzeugt wird, das sich als tiefgreifende Verunsicherung ebenso äußern kann wie als hoffnungsvolle Leichtigkeit.
Magische Vorahnungen erscheinen nicht nur als Träume, die nicht immer sofort als solche erkennbar sind, sondern finden sich als vorwegnehmende Elemente auch innerhalb der realistischen Handlungsebene; die Durchlässigkeit von Zeit und Raum wird auch akustisch oder über die Lichtsetzung transportiert, unterschiedliche Orte werden teilweise farblich miteinander verknüpft, und visuell wird der flirrende Grundton durch den Einsatz der Handkamera gestützt. Der Stoff der Träume und Albträume ist dicht gewebt, aber um all die fein gesponnenen Verbindungslinien wahrzunehmen, muss man erst – und das ist alles andere als leicht – den Blick vom bravourösen Schauspiel der Jugendlichen lösen, allen voran von Áskell Einar Pálmason, der Ballis Innenleben körpersprachlich sichtbar macht, und von Birgir Dagur Bjarkason als Addi, dessen Minenspiel man geradezu als Form der Gedankenübertragung bezeichnen darf.
Und man muss den Blick vom so berührenden wie erschütternden Plot lösen, in dem diese beautiful beings – irgendwann Ende der 1990er Jahre, irgendwo an einem Küstenort Islands – sich Vernachlässigung und Demütigungen, körperlicher und sexualisierter Gewalt gegenübersehen und nicht wissen, wie sie darauf antworten sollen außer mit Gegengewalt, der Flucht in den Rausch und dem Trost ihrer Freundschaft. Sie fängt nicht alle auf und hält nicht alles aus, diese Freundschaft; es braucht am Ende noch etwas mehr, um vorm Ertrinken bewahrt zu werden. Aber sie hält die Verzweiflung in Schach, und das ist schon viel. Trotz aller zugemuteten Härte endet der Film ihretwegen mit einem hoffnungsvollen Moment und – wie könnte es anders sein – mit einem klassischen Schwellenmotiv. Keine Vorausdeutungen, alles bleibt offen.
Beautiful Beings
von Guðmundur Arnar Guðmundsson
IS/DK/SW/NL 2022, 123 Minuten, FSK 16,
isländische OF mit deutschen UT
Ab 10. November im Kino